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Ausgabe:

Mai/2021

Spalte:

417–420

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Schnabel, Eckhard J.

Titel/Untertitel:

Jesus in Jerusalem. The Last Days. Foreword by C. A. Evans.

Verlag:

Grand Rapids u. a.: Wm. B. Eerdmans 2018. XXIV, 680 S. m. Abb. Geb. US$ 60,00. ISBN 9780802875808.

Rezensent:

Jens Schröter

Was lässt sich über die letzten Tage Jesu in Jerusalem historisch in Erfahrung bringen? Der durch zahlreiche Bücher zum frühen Christentum, darunter eine umfangreiche Darstellung der Geschichte des Urchristentums sowie ein ausführlicher Kommentar zum 1. Korintherbrief, breit ausgewiesene evangelikale Theologe Eckhard J. Schnabel geht dieser Frage in der vorliegenden Untersuchung detailliert nach. Das 680 Seiten umfassende Buch (398 Seiten Text, 179 Seiten Anmerkungen, 49 Seiten Bibliographie, 51 Seiten Autoren-, Sach- und Stellenregister) enthält 21 tabellarische Übersichten, etwa zu den in den Passionserzählungen genannten Personen, der Chronologie der letzten Woche Jesu und den synoptischen Abendmahlsworten; elf Abbildungen mit Modellen bzw. Zeichnungen von in den Passionserzählungen genannten Orten und einer Rekonstruktion der Kreuzigung Jesu sowie 13 Exkurse zu Einzelaspekten, etwa der bei Markus und Johannes unterschiedlich angegebenen Stunde der Kreuzigung Jesu, der Historizität der nur im Johannesevangelium berichteten Befragung Jesu durch Annas und dem enigmatischen Ende des Markusevangeliums.
Das Buch folgt einem klaren Aufbau, der in fünf Kapiteln entfaltet wird. Zunächst werden die in den Passionserzählungen genannten Personen behandelt, anschließend die Orte des Passionsgeschehens, sodann die Chronologie, gefolgt von der Darstellung der Ereignisse selbst sowie schließlich von deren Bedeutung. Am umfangreichsten ist Teil 4, der die Passionsereignisse behandelt und dem die anderen Kapitel in je eigener Weise zugeordnet sind. Zu Beginn jedes Kapitels findet sich eine Übersicht über die jeweils behandelten Themen.
In der Einleitung formuliert S. sieben Grundsätze, mit denen er sein Vorgehen sowohl von der Formgeschichte als auch von den in der historisch-kritischen Jesusforschung zumeist zugrunde gelegten Prämissen abgrenzt. 1) Die »Authentizitätskriterien« würden einen Jesus neben oder hinter den Evangelien suchen, wogegen er gerade in den Evangelien zu suchen sei. 2) Die Kriterien der Jesusforschung dürften nicht zu einer grundsätzlichen Skepsis ge-genüber der historischen Zuverlässigkeit der Evangelien führen. 3) Narrative Ansätze würden zu einer »post-faktischen« Perspektive auf die Evangelien und damit zu einer Vernachlässigung ihres Charakters als historische Zeugnisse führen. 4) Die Behauptung, jede Geschichtsdarstellung sei perspektivisch und subjektiv, würde einer postmodernen Agenda Vorschub leisten, der nur wenige Historiker beipflichten würden. 5) Dass die Evangelien Glaubenszeugnisse sind, würde sie als historische Quellen nicht entwerten. 6) Die Evangelien würden auf Berichten von Augenzeugen basieren (im Anschluss an Richard Bauckham, James Dunn und Birger Ger hardsson) und seien deshalb zuverlässige Erinnerungen. 7) Die Tendenz, besonders unter jüngeren Neutestamentlern, historische Fragen zugunsten von narratologischen oder rhetorischen Studien zurückzustellen, gewichte deren Charakter als historische Jesusbiographien zu gering.
Dass dieser etwas pauschal anmutende Rundumschlag eine plausiblere Grundlage für die Jesusforschung liefert als die kritisierten Ansätze, wird nicht alle überzeugen. Ob Augenzeugenberichte per se historisch zuverlässig sind, ist etwa keineswegs so eindeutig, wie S. und seine Gewährsleute behaupten (und wird gerade in der Geschichtswissenschaft häufig anders beurteilt). Ob die Perspektivität jeder Geschichtsdarstellung eine postmoderne Erfindung oder eine Einsicht ist, die die Geschichtsschreibung seit ihren Anfängen begleitet, wäre zu diskutieren. Dass Zugänge, die die Evangelien narrativ, rhetorisch oder im Blick auf ihre Gattung erforschen, deren Beitrag zur historischen Jesusforschung unterminieren würden, bleibt eine unbelegte Behauptung. Eine historisch-kritische Analyse der Evangelien, die deutlicher als S. zwischen den Wahrscheinlichkeiten, zu denen eine historische Untersuchung gelangen kann, und dem Anspruch auf eine göttlich verbürgte Wahrheit unterscheidet, führt zudem, anders als S. behauptet, keineswegs notwendig zu der Konsequenz, die Frage nach dem historischen Jesus als unbeantwortbar abzuweisen, wie zahlreiche Studien aus den letzten Jahrzehnten belegen. Man kann durchaus mit einer anderen Sicht auf den epistemologischen Status historischer Untersuchungen die Frage nach dem historischen Jesus stellen, als es S. tut. Wie immer man hier urteilen mag – deutlich ist, dass S. mit diesen Vorbemerkungen einen Weg für seine Untersuchung abgesteckt hat, auf dem er in den genannten fünf Kapiteln seiner Analyse der Passionsereignisse voranschreitet.
Teil 1 »People« behandelt 72 Personen bzw. Gruppen, die in den Passionserzählungen des Neuen Testaments erwähnt werden, beginnend mit Jesus und endend mit dem Mann unter dem Kreuz, der Jesus einen mit Essig gefüllten Schwamm reicht. Auf S. 12–13 findet sich eine Übersicht über deren Vorkommen in den Evangelien. Nicht alle Informationen sind in gleicher Weise ergiebig. Dass etwa die Gruppe der bei Matthäus und Lukas genannten »Elf« neben dem Zwölferkreis eigens aufgeführt wird, trägt historisch wenig aus, ebenso wie die Aufzählung etlicher Randfiguren, denen keine selbständige Bedeutung zukommt (etwa die beiden namenlosen Jünger, die Jesus ein Eselsfohlen besorgen, oder der zweimal genannte Andreas). Ob die in Mt 21,31 in einer Rede Jesu genannten »Zöllner und Prostituierten« oder die »Reichen« aus Mk 12,41 in eine Besprechung der Personen der Passionsereignisse gehören, er­scheint zweifelhaft. Etwas überraschend ist auch die Einbeziehung von Lazarus aus Joh 11–12, denn er spielt in den Passionsereignissen keine Rolle. Der an Vollständigkeit statt an Relevanz orientierte Katalog geht zudem mitunter über eine bloße Erwähnung der neutestamentlichen Passagen kaum hinaus. Nicht alle werden S. in der Identifikation des Zebedaiden Johannes mit dem Lieblingsjünger, der zugleich der Autor des Johannesevangeliums sei, folgen wollen. Dagegen sind die Zusammenstellungen der historischen Informationen über Annas und Kaiaphas durchaus hilfreich, die bei Letzterem eine Besprechung des 1990 entdeckten (vermutlichen) Grabes der Familie des Kaiaphas und der dort gefundenen Ossuare sowie die Angaben in jüdischen Texten (rabbinische Quellen und Josephus) einschließen. Gleiches gilt für die Zusammenstellung der historischen Angaben zu Pilatus, wobei sich hier das Format der erst nach dem Haupttext abgedruckten Anmerkungen als nachteilig erweist, denn wichtige Informationen, etwa zur berühmten Pilatusinschrift aus Cäserea maritima, sowie die Diskussion mit der Sekundärliteratur finden sich dort. Bei Pilatus, Herodes Antipas und jüdischen Gruppierungen wäre hilfreich gewesen, auch das Petrusevangelium und die Acta Pilati zu berücksichtigen. Die Be­schränkung auf die Evangelien des Neuen Testaments leuchtet hier wie in der Darstellung insgesamt nicht ein und wird auch nirgendwo begründet.
Teil 2 »Places« bespricht 17 Orte der Passionsereignisse, beginnend mit Jerusalem und endend mit Emmaus. Die Abschnitte zu Jerusalem und dem Tempelareal stellen wichtige Informationen zur Geschichte Jerusalems und der Bautätigkeit Herodes d. Gr. zusammen. S. bezieht dabei sowohl Angaben aus Josephus und der Mischna als auch archäologische und epigraphische Zeugnisse ein. Bezüglich des sogenannten »Abendmahlssaales« wertet S. die archäologischen und literarischen Zeugnisse in der Weise aus, dass sich die zum »Davidsgrab« gehörigen Mauern einer »little Jewish-Christian church« zuweisen ließen »that Hadrian saw and that is mentioned by Etheria [gemeint ist offenbar Egeria] and Epipha-nius — which may or may not be the site of Jesus’ Last Supper or the site of the meeting place of the disciples before and after Pentecost« (120). Da S. die in Lk 23,6–11 erzählte Episode vom Verhör Jesu vor Antipas ohne weitere Diskussion für historisch hält (diese durchaus nicht unumstrittene Sicht wird in Teil 4 näher entfaltet), vermutet er den Aufenthaltsort des Antipas im Jerusalemer Familienpalast der Hasmonäer, der von seinem Vater Herodes d. Gr. restauriert worden war. Emmaus wird etwa 30 km westlich von Jerusalem lokalisiert (S. hält die schlechter bezeugte Angabe »160 Stadien« in Lk 24,13 für ursprünglich) und mit dem heutigen Amwas, in der Nähe von Latrun, identifiziert. Es kommen allerdings auch andere Orte infrage und es bleibt undeutlich, an welchen Ort Lukas ge­dacht hat und ob er überhaupt eine konkrete geographische Vorstellung davon hatte, wohin die beiden Jünger gingen.
Der kurze dritte Teil »Timelines« (139–151) behandelt in zehn Schritten die Chronologie der Passionsereignisse. Als wahrscheinliches Todesjahr Jesu sei das Jahr 30 anzunehmen. Die viel diskutierte Differenz zwischen der synoptischen und der johanneischen Chronologie bezüglich des Todestages Jesu ist S. zufolge kein Problem, denn in Joh 18,28 sei nicht das Passamahl selbst, sondern eines der Mähler in der Woche des Festes der ungesäuerten Brote gemeint, in Joh 19,14 dagegen bezeichne der Rüsttag den Tag vor dem Sabbat und »Passa« die Passawoche, nicht das Mahl. In dieser Weise werden auch weitere Differenzen zwischen dem Johannesevangelium und den Synoptikern »erklärt« (etwa bezüglich der Salbung Jesu, die Johannes zufolge vor dem Einzug in Jerusalem stattfindet, bei Markus und Matthäus dagegen danach). Diese Inter-pretationen muten etwas willkürlich an und sind der Prämisse ge­schuldet, dass alle Angaben in den Evangelien in irgendeiner Weise historisch zutreffend sein müssen. Daran mag man seine Zweifel haben – gerade dann, wenn man die Evangelien als Schriften betrachtet, die sich historisch auswerten lassen. S. folgt dagegen durchgehend der Diastase »Glaubenszeugnisse oder historische Berichte«, die er gegenüber den von ihm (oftmals zu Unrecht) kritisierten Auffassungen in ihr Gegenteil verkehrt, indem er die Wahrheit der in den Evangelien erzählten Ereignisse mit deren historischer Glaubwürdigkeit gleichsetzt.
Teil 4 »Events« (152–375) entfaltet in 24 Abschnitten die Passionsereignisse, von der Salbung in Bethanien bis zur Erscheinung Jesu vor seinen Jüngern. Darin eingebettet ist die Mehrzahl der oben genannten Exkurse, die die Historizität einzelner Ereignisse oder nähere Informationen zu historischen Hintergründen, etwa dem crimen maiestatis oder der Passaamnestie, betreffen. S. beurteilt die von den Evangelien berichteten Ereignisse, etwa die außerhalb der Evangelien nirgendwo belegte Passaamnestie oder nur in einem Evangelium berichtete Episoden wie die Begegnung von Pilatus und Herodes Antipas und die nur bei Matthäus erwähnte Warnung der Frau des Pilatus (Mt 27,19), durchgehend als historisch, was sich bei einer kritischen Lektüre anders darstellen mag.
Teil 5 »Significance« behandelt in fünf Schritten die Bedeutung der Passionsereignisse. In diesem Teil verbindet – man könnte auch sagen: vermischt – S. die Ebene der historischen Darstellung mit derjenigen der Deutung der Ereignisse aus der Perspektive des christlichen Bekenntnisses. Der messianische Anspruch Jesu als »König der Juden« wird aus sieben Merkmalen seines Auftretens in Jerusalem hergeleitet, darunter der programmatische Einzug, die Tempelaktion, die prophetische Zeichenhandlung des letzten Mahles, das Verhör, die Kreuzigung und die Auferstehung. Der Überschritt von der historischen Analyse auf die Ebene der Deutung wird in folgendem Satz deutlich: »Neither the Jewish author-ities nor the Roman authorities understood that as Jesus died on the cross … God himself, in his divine wisdom, revealed his glory and the source of life that procures for Jews and gentiles purifica- tion, holiness, grace, and peace« (378). Hier geht die historische Untersuchung unmittelbar in das Bekenntnis über, zwei Ebenen, die auseinanderzuhalten ein grundlegendes Merkmal historisch-kritischer Exegese ist. Die Tempelaktion Jesu stehe symbolisch dafür, dass der neue Bund nicht mit dem Jerusalemer Tempel verbunden, sondern auf Jesu Sühnetod gegründet sei. Die Berufung der Zwölf sei der Beginn einer neuen messianischen Ära, in der Jesus im Namen Gottes die Sünden vergibt und damit den Jerusalemer Tempel überflüssig macht. Die Kreuzigung wird mithilfe frühchristlicher Bekenntnisaussagen als ein Ereignis interpretiert, durch das Gott die Sünden der Menschen beseitigt habe. In der Auferstehung Jesu zeige sich, dass Jesus der auferstandene Herr als der gekreuzigte Messias sei. Diese Überblendung des historischen Befundes durch christliche Bekenntnisaussagen lässt nicht nur außer Acht, dass die Kreuzigung Jesu auf unterschiedliche Weise wahrgenommen wurde und wird, sie blendet auch diejenigen Texte des Neuen Testaments aus, die die Irritationen und die Ambivalenz der Osterereignisse zur Sprache bringen, etwa die Furcht der Frauen am leeren Grab und das Erschrecken der Jünger bei der Erscheinung des Auferstandenen.
S.s Untersuchung kennzeichnet eine beeindruckende Gelehrsamkeit, die sich auf verschiedene Gebiete und zahlreiche Details erstreckt. Sie ist eine Fundgrube für historische, geographische und archäologische Daten zur Passion Jesu und der sie begleitenden Umstände, aus der man reiche Belehrung erfährt. Nicht zuletzt dokumentiert die ausführliche Bibliographie S.s große Belesenheit und seine intensive Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur. An etlichen Stellen mag man anders urteilen, insbesondere in der durchgängigen Einschätzung des in den Evangelien Berichteten als historisch zutreffend, die nur mithilfe mitunter etwas waghalsig anmutender Harmonisierungsversuche und etlicher nicht immer plausibler Zusatzannahmen möglich ist. Unbefriedigend bleibt durchweg, dass sich S. nicht dazu verstehen kann, die Evangelien als von Menschen verfasste Texte aufzufassen, die – wie alle anderen biblischen und nichtbiblischen Schriften auch – historisch-kritisch zu interpretieren sind, was ihrer Bedeutung in keiner Weise abträglich ist, sondern das Zusammenspiel von histo-rischen Ereignissen und deren Deutung vor Augen treten lässt. Dagegen kann es nicht das Ziel historischer Arbeit sein, durch den Erweis der historischen Faktizität des in den Evangelien Erzählten die Wahrheit christlicher Glaubensüberzeugungen demonstrieren zu wollen. Paulus bringt das in Röm 3,25 treffend zum Ausdruck, wenn er formuliert, dass Gott Jesus Christus zu einem »Gnadenort durch den Glauben« ( ἱλαστήριον διὰ πίστεως) gemacht hat. Es ist der Glaube, der im Tod Jesu mehr und anderes sieht als nur eine brutale Hinrichtung. Dass historische Analysen biblischer Texte verschiedene Akzente setzen und zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen können, wird dagegen auch durch die vorliegende Studie nicht außer Kraft gesetzt, sondern eindrucksvoll unterstrichen.