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Ausgabe:

Mai/2021

Spalte:

413–416

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Guttenberger, Gudrun

Titel/Untertitel:

Das Evangelium nach Markus.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2018. 372 S. = Zürcher Bibelkommentare Neues Testament, 2. Kart. EUR 54,00. ISBN 9783290147426.

Rezensent:

Reinhard von Bendemann

Das anzuzeigende Werk von Gudrun Guttenberger schließt eine lange bestehende Lücke in der neutestamentlichen Abteilung des verdienstvollen »Zürcher Bibelkommentares« (ZBK), der programmatisch nicht nur ein Fachpublikum, sondern einen weiteren, vor allem kirchlich sozialisierten Leserkreis adressiert.
Nach Vorwort und Einleitung wird der beim gegenwärtigen textkritischen Forschungsstand erreichbare älteste griechische Text von Mk 1,1–16,8 fortlaufend übersetzt und kommentiert. Knappe Hinweise auf Forschungsliteratur sowie ein Sachregister beschließen das Werk. In den Grundfragen der Einleitungsforschung visiert der Kommentar im Wesentlichen den derzeitigen kritischen Konsens der Markusforschung an. Der Verfasser des Textes ist uns wahrscheinlich unbekannt (Anonymität), in der Datierungsfrage wird vorsichtig für eher nach 70 n. Chr. optiert, die Frage jedoch zugleich offengehalten. Der (topographische) Entstehungsort des Textes ist nicht zu ermitteln; wichtiger ist ohnehin die »geistige« bzw. die soziokulturelle und religiöse Beheimatung des Textes. Im Blick auf die Gattungsfrage werden die bekannten Ansätze der jüngeren Forschung umsichtig vorgestellt und gewogen; mit der Einbeziehung der Kategorie des »Mythischen« in Verbindung mit dem Biographischen, dem in Ansätzen Historiographischen und der apokalyptischen Färbung des Textes ist das auf zukünftige Forschungen hin offene Ergebnis von der älteren These des sui generis faktisch nicht allzu weit entfernt (vgl. 18–22). In die weiteren einführenden Informationen und Klärungen geht ebenso wie in die Textkommentierung – in einfacher und verständlicher Sprache dargelegt – das gesamte Methoden- und Wissensspektrum der jüngeren und jüngsten internationalen Markusforschung ein. Der Kommentar weiß sich den verschiedenen Zugängen synchroner Textforschung und insbesondere der Erzählforschung und leserbezogenen Fragestellungen verpflichtet, wie sie in der Forschung seit den 1970er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ih-ren Ausgangspunkt beim literary criticism resp. narrative criticism genommen haben. G. spricht von einem »intuitiven Erzähler« (11). Ein bemerkenswert hohes Niveau erreicht das Werk – bei gleichzeitiger Allgemeinverständlichkeit – in der Rezeption und Reflexion kultur- und sozialwissenschaftlicher Theorien.
Hohe Sorgfalt gilt innerhalb einer Reihe, die sich als Referenzgröße auf die Neufassung der »Zürcher Bibel« von 2007 bezieht, zunächst der Neuübersetzung und sprachlichen Aufhellung des griechischen Textes (siehe zu den Kriterien: 9 f.). Man mag darüber streiten, inwieweit Lesende ohne Griechischkenntnisse daraus tatsächlich Gewinn ziehen können und wie man dieses Verfahren ggf. noch weiter hätte entwickeln können: Es ist aber in jedem Fall ein erster und wichtiger Schritt in die richtige Richtung, dass in die deutschen Übersetzungen hinter jeder Verbform die Tempora/Verbalaspekte in Klammern eingefügt sind. Auch des Griechischen Unkundige werden so angeleitet, bestimmte Gesetzmäßigkeiten in der temporalen Reliefgebung des Textes zu entdecken. Die Übersetzungen und ausgewählten philo-logischen Beobachtungen verbinden sich mit den Passagen der narratologischen Durchdringung, die bei Einzelepisoden ebenso wie vor längeren erzählerischen Spannungsbögen den christologischen Hauptstrang ebenso wie die in ihrer Dramatik durchgängig plastisch herausgearbeitete Jüngergeschichte des zweiten Evangeliums transparent machen (vgl. 315: »Totalversagen der Schüler«) und weitere erzählerische Zusammenhänge, Motive und Techniken aufdecken. Etwas überraschend ist, dass formgeschichtliche Beobachtungen überwiegend nicht der Erzählanalyse integriert, sondern vielmehr im Gefolge der älteren Formkritik der überlieferungsgeschichtlichen Frage subsumiert werden. Schlaglichthaft wird über mit den Texten verbundene ausgewählte Probleme der antiken Zeit und Lebenswelt informiert. Der traditionsgeschichtlichen Analyse wird immer wieder breiter Raum eingeräumt. Es ist insgesamt stupend, wie viel erhellende Materialien sowohl aus dem antiken Judentum als auch aus der griechischen und römischen Antike auf 372 Seiten zusammengeführt worden sind.
Trotz der mit dem Format der Reihe vorgegebenen Zielsetzung der zunächst basalen und allgemeinverständlichen Information ersteht im Kommentar ein eigenes wissenschaftliches Profil, in welches die dezidierten Markusforschungen G.s eingegangen sind. Besonders hervorzuheben und zu begrüßen ist dabei vor allem der Abschied vom die deutschsprachige Markusforschung des 20. Jh.s weithin dominierenden und sich mit bestimmten Prämissen protestantischer Theologie verbindenden »Heidenchristen« Markus, welcher aus einem vom »Judentum« verschiedenen »christlichen« Selbstbewusstsein heraus ein (oftmals paulinisch gefärbtes) reduktives »Nein« zur Tora und in ihr insbesondere zum sogenannten »Ritualgesetz« gesprochen habe (man vergleiche exemplarisch den – grundsätzlich in seiner Zeit sehr verdienstvollen – Kommentar von Eduard Schweizer in der Reihe »Neues Testament Deutsch«, 1967). Demgegenüber eröffnet die Neukommentierung einen spannenden und facettenreichen Blick auf einen christusgläubig-jüdischen Erzähler, der mit seiner Erzählung ein weites und fein gegliedertes Feld antiker jüdischer Kultur und innerjüdischer religiöser Diskurse keineswegs verlässt, sondern sich in ihm mit Strategien der Zuschreibung, Beanspruchung, Konstruktion von Alterität, Demarkation und – natürlich auch – Bestreitung differenziert positioniert (vgl. 25–27). Insbesondere dort, wo das Markusevangelium seine Hauptfigur mit ihrer Gruppe in Beziehung zu anderen jüdischen Gruppierungen und Einzelnen treten lässt, wird damit nicht nur Polemik, sondern vielmehr Hybridität, Fluidität und I ntersektionalität von Identitäts- und Gruppenformierungsprozessen beschreibbar. Es steht damit nicht die Frage nach dem Jüdischsein und Nicht-(Mehr-)Jüdischsein im Vordergrund, sondern die Auseinandersetzung geht faktisch um ein besseres, nämlich in einer bestimmten Hinsicht christusgläubiges Jüdischsein. Es stehen nicht statische Bilder, wie sie die Forschung oft bei den sogenannten »Gruppen« des antiken Judentums geprägt hat, zur Disposition, sondern vielmehr dynamische Prozesse von Gruppen- und Identitätsformation, an denen sich das zweite Evangelium beteiligt. Dem sucht der Kommentar in der Übersetzung und der beschreibungssprachlichen Verwendung der Begriffe »Jude«, »Ju­dentum«, »jüdisch« resp. »Judäer« und »judäisch« Rechnung zu tragen. Hiermit stellen sich diejenigen Probleme ein, die in der jüngeren Forschungsdiskussion an der Frage aufgebrochen sind, ob Ἰουδαῖοι zuerst als ethnischer oder auch topographischer terminus aufzufassen ist (vgl. 277; vgl. aber z. B. 180 zu Mk 5,1–20: »Überschreitung der Grenze des Judentums«).
Kein wissenschaftlicher Kommentar kann alle Teiltexte eines Buches gänzlich gleichmäßig behandeln; manche Abschnitte bleiben immer »Pflicht«, andere werden aus verschiedensten Gründen zur »Kür«. Aus letzterer Gruppe sei exemplarisch die Kommentierung von Mk 7,1–23 empfohlen (162–180). Mk 7 wurde in der älteren Forschung gerne als Kronzeuge für den »Heidenchristen« Markus herangezogen und dient bis heute verschiedensten Annäherungsversuchen des Markusevangeliums an die paulinische (resp. antio chenische) Theologie als Ausgangspunkt. Die Kommentierung zeigt dagegen mit beachtlichen Beobachtungen und Argumenten: Im Text von Mk 7 geht es nicht um die »Tora« per se, zumal Markus den griechischen Begriff νόμος nirgends verwendet, sondern vielmehr in der Frage des Händewaschens um ein Problem unterhalb/jenseits der schriftlichen Tora. Mk 7,3 f. trägt Merkmale eines ethnographischen Exkurses. Die weitere erzählte Auseinandersetzung mit den Pharisäern, einigen Schriftgelehrten, der Menge und dann den Schülern und insbesondere das Logion Mk 7,15 zielen nicht auf die Depotenzierung der Reinheitstora; auch geht es nicht um eine Suspendierung der Speisegebote von Lev 11, die gar nicht tangiert sind. Vielmehr stehen die Möglichkeitsbedingungen des gemeinsamen Essens von βρῶμα/Speise zur Disposition, deren Reinheit nicht fraglich ist. Auch sonst ist, so zeigt die Kommentierung, der Verfasser des zweiten Evangeliums gewiss nicht der Auffassung, das doppelte Liebesgebot Jesu ersetze faktisch die Tora. Auch mit der Annahme von Kultus- und Tempelkritik muss man bei Markus sehr viel vorsichtiger und differenzierter verfahren (vgl. z. B. zu Mk 2,23–28: 72–77; zu 12,28–34: 282–285).
Der Reichtum, den der Kommentar für eine Gesamtdarstellung der markinischen Theologie erbringen kann, ist hier nicht ansatzweise zu würdigen. Dies betrifft die Christologumena, die Ekklesiologie und besonders auch die markinische Ethik. Besonders akzentuiert sind die starken erzählerischen Kontraste, wie sie sich in der Polarität von Würde und Macht Jesu auf der einen und seinem Leiden und Sterben auf der anderen Seite verdichten. In Hinsicht auf den Umgang mit den Zeitdimensionen fixiert die Erzählung scharf die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits; das »Sehen« ist strikt dem Ende der Geschichte beim Kommen des Menschensohnes vorbehalten (vgl. Mk 13,24–27) und der retrospektiven Erzählung damit nicht zugänglich. Der Erzählschluss erscheint von hier aus »enigmatisch« (16; 358–368). Von »Geheimnismotiven« wird in Abgrenzung zu W. Wrede und einer langen und variantenreichen Forschungsgeschichte zum sogenannten »Messiasgeheimnis« im Plural gesprochen; sie »bilden keinen zusammenhängenden Komplex« (17). Richtig gesehen ist: Die Frage, warum Jesus nach Jerusalem geht und dort sterben muss, ist in keinem Fall paulinisch zu beantworten. Markus schattiert die Sühnetodvorstellung ab, obwohl er sie kennt (vgl. zu 10,45 und 14,24: 249.327–330). Bei aller starken Betonung der Leidensnachfolge und dem Scheitern der ersten Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu an diesem Desiderat, wird Gott hiervon nicht in Mitleidenschaft gezogen. Verschiedene Spielarten einer (von Luther herkommenden) Gegenüberstellung von theologia crucis und theologia gloriae werden nach G. Markus nicht gerecht (vgl. 14.188 f.). Ob in Hinsicht auf die narrative Deutung des Kreuzestodes Jesu und darüber hinaus auch für die von der Erzählung anvisierte Gegenwart die Rede von einer Absenz Gottes (vgl. 353 zum aramäischen Zitat von Ps 22,2a), der gleichzeitig für Markus ja allmächtig bleibt, gerechtfertigt ist, müsste man intensiver diskutieren. Zutreffend ist ganz sicher, dass das zweite Evangelium den Tod Jesu vor allem im göttlichen Plan resp. in Aussagen der Schriften Israels gedeutet und aufgehoben weiß. Summa: Das Werk bereichert die deutschsprachige Kommentierungssituation des zweiten Evangeliums beträchtlich; es gehört in den Kanon (im Kanon) für diejenigen, die sich mit Markus intensiver beschäftigen möchten.
Man würde dem Kommentar zuletzt nicht gerecht, wenn man nicht eine zentrale hermeneutische Weichenstellung noch anspräche. Einerseits kennt die Kommentierung das wissenschaftlich fundierte sic et non und verhält sich immer wieder begründet-kritisch zu Forschungshypothesen, die auf tönernen Füßen stehen (vgl. z. B. die Kritik an der Auffassung, der Markusschluss sei im Sinne eines zirkulären Lektüreimpulses zu verstehen; die Leser würden zurück nach Galiläa/zu Mk 1,35 f. verwiesen; 56 f.; vgl. auch den sensiblen Umgang mit der These einer Rom-Kontrafaktik der gesamten markinischen Erzählung; vgl. 200 u. a.); sie benennt auch immer wieder deutlich Punkte, an denen gilt: Scimus nos nescire, wir wissen es nicht. Andererseits wird die »auf die Komplexität des Textes« achtende Auslegung an vielen Stellen programmatisch für verschiedene Positionen und Verständnismöglichkeiten offen ge­halten (vgl. das Vorwort), denn der markinische Text gilt als »durch die Annahme eines einzigen, kohärenten und konsistenten Deutesystems überlastet« (190). Potentielle Orientierungs- oder auch Normierungsinteressen auf Seiten der Nutzerinnen und Nutzer des Kommentars werden damit ggf. bewusst zurückgewiesen resp. enttäuscht. Was in älteren Bänden des ZBK durchaus noch gängig war, nämlich eine Auslegung, die suggerieren konnte, man müsse den Text quasi nur konsequent genug philologisch und sachlich interpretieren, um ihn dann gleichsam prolongieren zu können, damit er »zu mir«/»zu uns« »spräche«, d. h. quasi unmittelbar in die kirchliche, gesellschaftliche und persönliche Gegenwart hinein ( tua res agitur), erscheint damit als ein präteriales Verfahren. Dieser Befund und dieses Programm bedeuten für eine von Hause der reformierten Theologie verpflichtete wissenschaftliche Reihe durchaus eine Herausforderung.
Mit der vorliegenden Kommentierung des zweiten Evangeliums ist der ZBK hermeneutisch im 21. Jh. angekommen.