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Ausgabe:

Mai/2021

Spalte:

406–407

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Smith, Daniel L., and Loren T. Stuckenbruck [Eds.]

Titel/Untertitel:

Testing and Temptation in Second Temple Jewish and Early Chris-tian Texts.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2020. VII, 213 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 519. Kart. EUR 79,00. ISBN 9783161559525.

Rezensent:

Karl-Wilhelm Niebuhr

Das Phänomen der Versuchung und ihre ethischen, religiösen und theologischen Deutungen haben in der biblischen Überlieferung einen festen Platz. Im Rahmen christlicher Tradition ist das Thema besonders eng mit der Geschichte von der Versuchung Jesu nach den synoptischen Evangelien verbunden. Aber auch darüber hinaus ist es im Alten wie im Neuen Testament, in weisheitlichen Zusammenhängen ebenso wie in der neutestamentlichen Paränese, im Blick auf die Tora als Weisung Gottes für Israel ebenso wie bei der Reflexion von Erfahrungen christlicher Anthropologie und Lebensgestaltung weit verbreitet. Der vorliegende Band geht auf eine Tagung im Jahr 2017 im Studienzentrum Josefstal in Schliersee am Fuße der Bayerischen Alpen zurück und präsentiert, mit wissenschaftlichem Apparat versehen, zwölf dort gehaltene Vorträge von sowohl jüngeren als auch bereits renommierten Bibelwissenschaftlern. Der besondere Reiz des Bandes besteht unter anderem darin, dass sich die einzelnen Aufsätze nicht einfach auf Altes Testament, Frühjudentum und Neues Testament aufteilen lassen, sondern ein erheblicher Teil von ihnen ausdrücklich die Thematik mit einem inklusiven und synthetischen Ansatz bearbeitet, also sowohl kanonische und außerkanonische Texte des antiken Judentums als auch solche aus dem Neuen Testament, der antiken paganen Literatur und (wenn auch in geringerem Maße) der frühchristlichen Überlieferung heranzieht (Stellenregister: 189–205).
Einleitend formulieren die Herausgeber (auch darin vorbildlich für vergleichbare Projekte) fünf Untersuchungsfragen, die in den folgenden Beiträgen mehr oder weniger explizit aufgegriffen und anhand konkreter Textanalysen bearbeitet werden: »How did an­cient interpreters react to texts that depict the God of Israel as testing, tested, or intervening on behalf of those undergoing a test? What assumptions do authors have about the role of testing in human experience? What roles do expressions such as הסמ and πειρασμός play in Second Temple Jewish and early Christian texts? How does the identity of the tester or the tested relate to the nature of the test? How are we to understand ›testing‹ vs. ›temptation‹?« (1) Es wäre wünschenswert gewesen, wenn sie sich am Ende auch zu einem abschließenden, die Ergebnisse der Tagung zusammenfassenden und wenigstens einige Antworten auf diese Fragen aus den voranstehenden Beiträgen aufgreifenden Beitrag hätten entschließen können. Möglich wäre eine solche Zusammenfassung durchaus, denn gerade in der Herausarbeitung der Vielfalt von konkreten Beschreibungen und Deutungen im Zusammenhang mit dem Phänomen »Versuchung« in den untersuchten Quellen (im Eng-lischen angedeutet in den Bedeutungsdifferenzen zwischen test, trial und temptation) liegt ja schon eines der wichtigsten Ergebnisse solcher analytischen und vergleichenden religionshistorischen und biblisch-theologischen Arbeit. So müssen sich also die Leser selbst in den Einzelstudien Antworten auf übergreifende Fragen zusammensuchen, etwa nach Subjekten und Objekten der Versuchung, den Konturen des jeweils implizierten Gottesverständnisses, den anthropologischen Implikationen des Umgangs mit »inneren« und/oder »äußeren« Versuchungen (man denke an das schöne deutsche Wort »Anfechtung«!) oder den biblisch-theologischen Be­zügen bei der Rezeption alttestamentlicher Motive und Texte im Neuen Testament.
Eine solche Suche lohnt sich aber, auch wenn der Rezensent sie den Lesern des Buches nicht abnehmen kann und will. Er kann lediglich, um ihnen sozusagen den Mund wässrig zu machen, die Textbereiche benennen, die in den Studien primär behandelt werden: Philon (Michael Francis), der Hebräerbrief (Madison N. Pierce), der »Brief Henochs« aus dem 1. Henochbuch (Loren T. Stuckenbruck), das Jubiläenbuch (Todd R. Hanneken), der Jakobusbrief (Susanne Luther), Sirach, Mischna Abot 2,4 und weitere rabbinische Texte (Tzvi Novick), Numeri 11 und dessen Rezeption in der Septuaginta (vor allem im LXX-Psalter), in der Sapientia Salomonis, bei Philon und bei Paulus (Andrew Bowden), die Aufnahme des Versuchungsmotivs aus der Exodus-Geschichte in der Septuaginta, im Buch Judit und in der Assumptio Mosis (Jan Willem van Henten), die synoptischen Versuchungsgeschichten (weit über Mk 1,12 f. parr. hinaus!) mit einem Seitenblick auf Paulus (Daniel L. Smith), die Versuchungen Hiobs und Jesu im Vergleich (Susan R. Garrett) und schließlich die sexuelle Versuchung nach Ben Sira und bei Mike Pence (Benjamin G. Wright III).
Nicht nur das zuletzt genannte Thema sollte auf den ganzen Band neugierig machen, dessen Textanalysen ebenso anregend sind wie die jeweils analysierten Texte. Dass Versuchungen attraktiv sind, und erst recht eine Bibelwissenschaft, die sich auf hohem exegetischen, religionshistorischen und theologischen Niveau mit ihnen auseinandersetzt, belegt dieser angenehm schlanke, aber bes­tens ausgestattete Band auf so gut wie jeder Seite.