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Ausgabe:

Mai/2021

Spalte:

398–400

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Burke, Tony [Ed.]

Titel/Untertitel:

New Testament Apocrypha. More Noncanonical Scriptures. Vol. 2.

Verlag:

Grand Rapids u. a.: Wm. B. Eerdmans 2020. 655 S. Geb. US$ 75,00. ISBN 9780802872906.

Rezensent:

Christfried Böttrich

Der Aufschwung, den die Apokryphenforschung in den letzten 40 Jahren genommen hat, hält unvermindert an. Mit dieser Sammlung von »New Testament Apocrypha« liegt bereits Band 2 des Projektes »More Noncanonical Scriptures« vor, das sich als eine Art »sister publication« zu den von Richard Bauckham, James R. Davila und Alexander Panayotov 2013 im selben Verlag herausgegebenen »Old Testament Pseudepigrapha. More Noncanonical Scriptures« versteht. Während die MOTP als Supplement zu der Sammlung von James H. Charlesworth (The Old Testament Pseudepigrapha, New York 1983/1985) konzipiert waren, stellen die MNTA ein Supplement bzw. einen »companion« zu der Sammlung von James K. Elliot (The Apocryphal New Testament, Oxford 1993) dar. Band 1, hg. von Tony Burke und Brent Landau, erschien 2016 (Rez. von Jens Schröter in ThLZ 143/5 [2018], 462–466). Vier Jahre später liegt nun auch Band 2 vor.
Das Anliegen des Projektes besteht darin, zu den schon seit Langem bekannten und gut erforschten Apokryphen größeren Um­fangs auch möglichst viele der kleinen, marginalen, verstreuten und weithin noch unbekannten apokryphen Überlieferungen hinzuzufügen. Auch sie haben in der christlichen Literatur vielfältige Spuren hinterlassen und verdienen es, über gelegentliche Er­wähnungen hinaus auf einer soliden Textbasis zugänglich ge­macht zu werden. Das erfordert eine deutliche Erweiterung des zeitlichen Rahmens sowie eine Ablösung von den kanonisch ge­wordenen Mustern. Mit den »more noncanonical scriptures« gerät man deshalb auf das weite Feld disparater Literaturbereiche, die nahezu alle Textsorten und Sprachen des christlichen Orients wie Okzidents umfassen.
Zwei formale Eigenheiten verdanken beide Bände dem Vorbild von James K. Elliots Standardwerk. Zum einen betrifft das den titelgebenden Begriff der »New Testament Apocrypha«, der allein »for convenience’s sake« beibehalten worden ist – wohlwissend, dass sich die Forschung inzwischen davon gelöst hat und mehrheitlich von »antiken christlichen Apokryphen« spricht (wobei auch der Begriff »apokryph« noch einmal einer Problematisierung bedarf). Zum anderen sind die hier versammelten Schriften erneut nach den Textsorten des kanonischen Neuen Testaments sortiert – also I. Evangelien und Verwandtes, II. Apostelgeschichten und Verwandtes, III. Briefe und IV. Apokalypsen. Als Novum kommt V. Kirchenordnungen hinzu, wenngleich es auch dafür Vorbilder gibt: Schon Edgar Henneckes erste Auflage der »Neutestamentlichen Apokryphen« von 1904 enthielt die (gerade erst 20 Jahre zuvor entdeckte) Didache und verzeichnete zusätzlich die syrische Didas-kalia.
An den 28 Schriften dieses Bandes haben 32 Autorinnen und Autoren mitgearbeitet. Viele Texte erscheinen hier zum ersten Mal in englischer Übersetzung, einige überdies zum ersten Mal in einer vergleichbaren Sammlung überhaupt. Das Spektrum der Sprachen, auf die sie zurückgehen, umfasst Griechisch, Lateinisch, Syrisch, Koptisch, Arabisch, Äthiopisch, Armenisch, Kirchenslavisch, bis hin zu Uigurisch oder Altenglisch; der zeitliche Bogen ihrer Entstehung spannt sich (ungeachtet der meist späten hsl. Bezeugung) vom 3. bis zum 12. Jh., in Ausläufern auch noch bis zum 16. Jh. Nur wenige dieser Texte treten als eigenständige Schriften in Erscheinung; viele sind in Gestalt von »free-floating stories« erhalten geblieben und finden sich als Textsegmente in größeren Kontextmanuskripten oder als Zusätze in anderen Überlieferungszusammenhängen. Auffällig sind die Übergänge zur hagiographischen Literatur; das betrifft z. B. die auf dem Ödipus-Motiv aufbauende Judas-Legende, die schließlich im Rahmen der »Legenda aurea« (13. Jh.) ihre größte Verbreitung erfahren hat, oder die Magdalenen-Legende, die vor allem in Frankreich Popularität erlangte. In die Homiletik spielen zwei Texte hinüber, die von Jesus und den Zwölf sowie der Passions- und Ostergeschichte erzählen, wobei vor allem Berichte aus dem Hades (ähnlich EvNikod) von Interesse sind; zwei weitere kolportieren verschiedene apokryphe Überlieferungen über die Gründung von Kirchen zu Ehren der Gottesmutter in apostolischer Zeit. Neben Texten, die sich auf biblische Figuren beziehen, enthält die Sammlung mit der »Legende vom Kreuzesholz« oder der »Geschichte der dreißig Silberlinge« auch zwei so genannte »object gospels«. Manche Texte werden in mehreren Fassungen vorgestellt. Gelegentlich gibt es Parallelen zu den bei Markschies/Schröter (Antike christliche Apokryphen I/1.2, Tübingen 2012) neu präsentierten Texten, hier und da aber auch kleinere Ergänzungen. Mitunter sind die Einleitungen zu den Texten länger als die Texte selbst, was den zum Teil komplizierten Überlieferungsverhältnissen geschuldet ist.
Aus der Fülle an Entdeckungen, die der Band bereithält, kann ich im Folgenden nur wenige Lesefrüchte mitteilen. In der »Adoration of the Magi« erfährt man en passant, warum die Zoroastrier das Feuer verehren. Die »Rebellion of Dimas« liefert eine eigenwillige Vorgeschichte des »guten Schächers« aus Lk 23,40–43. Breiten Raum nimmt das auch bei Markschies/Schröter zu findende koptische »Book of Bartholomew« ein. In den Bereich der Pilatusliteratur gehört die Legende von der »Healing of Tiberius« durch das Christusbild der Veronika. Sechs Texte bilden die Rubrik apokrypher Apostelgeschichten. Die »Acts of Nereus and Achilleus«, die noch im Wirkungskreis der Petrusakten stehen, behandeln verschiedene Martyrien im Umfeld der Flavia Domitilla. Den Petrusakten ordnet sich auch der »Act of Peter in Azotus« zu; hier bekämpft Petrus in Aschdod (nach Act 8,40) erfolgreich sieben Dämonen, die für eine Reihe von Lastern verantwortlich zeichnen. Dem Apostel in den Mund gelegt ist die syrische »Exhortation of Peter«, in der die Parabel von einem Herren und seinen zwei Dienern eine zentrale Rolle spielt. In den syrischen »Travels of Peter« agiert der Apostel erneut als vollmächtiger Exorzist. Die »History of Philip« schließt an die Begegnung mit dem äthiopischen Minister (Act 8,40) an und be­richtet von den Aktivitäten des Philippus in Karthago. Mit den »Acts of Thomas and His Wonderworking Skin« liegt ein eigenständiges Werk aus dem Kreis der Thomastradition vor; in Indien bewirkt der Apostel zwei Auferweckungswunder durch Auflegung seiner während der Folter abgezogenen Haut, was in der Folge zur Gründung zweier Gemeinden führt; am Ende durch den erhöhten Christus in seiner körperlichen Integrität wieder hergestellt, wird Thomas mittels einer Wolke in den Kreis der Apostel zurückgebracht.
Der einzige »Brief« in dieser Sammlung, die äth. »Epistle of Pelagia«, gehört formal ebenso in die Rubrik der Apostelakten; seine auffälligste Episode ist die von Paulus und dem getauften Löwen; der Text endet mit den gescheiterten Martyrien des Paulus und der von ihm bekehrten Pelagia, der die ganze Erzählung ihren Namen verdankt. Bei den insgesamt neun Apokalypsen dominiert das Modell des Dialoges, in der Regel eines markanten Protagonisten mit dem Auferstandenen. Die drei »Apocryphal Apocalypses of John« unterscheiden sich dadurch, dass in 1 und 3 der Zebedaide, in 2 indessen Johannes Chrysostomus agieren; 1 ist in seiner Motivik (z. B. des Buches mit den sieben Siegeln) noch auf die kanonische Offenbarung bezogen, 2 behandelt vor allem Fragen der Liturgie, 3 lässt Abraham Auskünfte über das Geschick der Seelen im Jenseits erteilen. Daran schließen inhaltlich auch die »Questions of James to John« an, in denen der Herrenbruder und der Zebedaide einen Dialog über die Seele im Jenseits und die Möglichkeiten der Buße führen. Die »Mysteries of John« berichten von einer Himmelsreise des Zebedaiden, auf der er vor allem über die Geheimnisse der Schöpfung und den Aufbau der Welt unterrichtet wird. Von besonderem Interesse sind (schon allein aufgrund ihres Umfanges) die beiden koptischen Texte »Investiture of the Archangel Michael/Gabriel«; der erste, als Dialog zwischen Jesus und seinen Schülern auf dem Ölberg stilisiert, hat ein Schwerpunktthema bei der Überlieferung vom Engelssturz; der zweite, an Mt 28,16–20 angeschlossen, enthält einen bunten Strauß angelologischer Spekulationen, wobei Gabriel als herausragender Bote Gottes die Hauptrolle spielt und allerlei liturgisch Relevantes zu offenbaren weiß. Die »Apocalypse of Thomas« schließlich, auch in der altenglischen Literatur wohl bekannt, handelt von den Vorzeichen, die der Parusie Christi vorausgehen. In der letzten Rubrik der Kirchenordnungen findet sich allein »The Teaching of the Apostles«, irrtümlich auch unter dem Titel »Doctrina Addai« überliefert; in ihrem Hauptteil enthält sie vor allem kirchliche Kanones; ihre Rahmenerzählung indessen, die von der nachösterlichen Versammlung der Apostel in Jerusalem sowie ihrem Aufbruch in alle Welt handelt, verleiht dem Text sein apokryphes Flair.
Abgeschlossen wird der Band durch zwei detaillierte Register. Hilfreicher als ein Index moderner Autoren wäre hier ein Index von Eigennamen in den Quellentexten gewesen. Der Hinweis auf ein e-Clavis zu den »Christian Apocrypha«, zugänglich unter NASSCAL.com, erweitert die Erschließungsfunktion des Bandes indessen noch einmal ganz erheblich.
Auch mit diesem zweiten Band ist die Reihe noch nicht abgeschlossen. Am Ende des Vorwortes findet sich eine Liste mit möglichen Texten, die bereits für einen dritten Band vorgesehen sind. Der Reichtum christlicher apokrypher Überlieferungen scheint unerschöpflich zu sein. Für seine weitere Aufarbeitung kann man dem Herausgeber und seinem Team nur anhaltenden Elan und gutes Gelingen wünschen!