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Ausgabe:

April/2021

Spalte:

365-367

Kategorie:

Interkulturelle Theologie, Missionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Hoffmann, Claudia

Titel/Untertitel:

Fremdbegegnung – Das TotenritualTiwah und die Basler Mission in kontakttheologischer Perspektive.

Verlag:

Berlin u. a.: Peter Lang Verlag 2018. 378 S. m. Abb. u. Tab. = Studien zur interkulturellen Geschichte des Christentums, 162. Geb. EUR 82,50. ISBN 9783631726853.

Rezensent:

Eckhard Zemmrich

Wo sind Zentren, wo Ränder von Mission? Wie kann missionsgeschichtliche Forschung der Perspektivenvielfalt gerecht werden, die in historischen Quellen ihren Niederschlag gefunden hat? Und welche Selbstwahrnehmung der eigenen Forschungsperspektive fördert wirksam Antworten auf diese Fragen? Vor allem zu den ers-ten beiden dieser heute intensiv diskutierten Fragestellungen leistet die an der Universität Basel angenommene, von Andreas Heuser be­treute Promotionsschrift Claudia Hoffmanns, deren Druckfassung hier besprochen wird, einen Beitrag.
Ausgangspunkt ist ein traditionsreiches, Tiwah genanntes Sekundärbestattungsritual auf der indonesischen Insel Kalimantan (Borneo), bei dem Erdbestattete exhumiert und ihre Skelette umgebettet werden. Der Untersuchungsschwerpunkt dazu liegt erklärtermaßen nicht auf vergleichsbasierter eigener Deutung, sondern auf der theologisch reflektierten Begegnung von Basler Missionaren mit dem Totenritual in »kontakttheologischer Perspektive«. Mit diesem schon von Judith Becker gebrauchten Begriff wird hier »eine theologische Verarbeitung von verhältnismässig regelmässigen oder auch intensivierten Begegnungen mit indigenen Wissensträgern und Wissensträgerinnen« (263) und daraus resultierenden Veränderungen bezeichnet, den »kontakttheologische[n] Verschiebungen« (16) auf Seiten der Missionare.
Dafür wird methodisch eine Perspektivänderung angestrebt, nämlich nicht »auf das Missionsfeld hin«, sondern von den forschungsre-levanten Regionen her; der offenbar von Paul Jenkins eingeführte Begriff der »Dort-Zentrik« wird dafür verwendet. Er bildet die hermeneutische Leitkategorie der Studie, die insgesamt mit einem historischen und empirischen »Methodenmix[]« (62) auf drei Ebenen operiert, welche – nach einer recht ausführlichen Einleitung– auch insgesamt den Gang der Darstellung bestimmen: Einem auf eigene Feldforschung und ein in Basel befindliches Modell von Tiwah-Bauten und Werkzeugen gestützten Zugang zum Totenritual und einem mit eigenen Fotografien bebilderten Blick auf die Beerdigungspraxis der Evangelischen Kirche Kalimantan folgt ein diskursanalytischer Hauptteil als Rekonstruktion von indigenen Kontexten, missionarischen Interpreten und medialer Verarbeitung von Ansichten über das Tiwah in den End-Zwanziger- und Dreißigerjahren. Dabei werden aus der Kunst- und Kulturwissenschaft stammende Analysemethoden des fotografischen Archivmaterials wichtig. Es erfolgt eine Einbettung der so aufbereiteten Äußerungen in theologische und missionspolitische Zusammenhänge jener Zeit, unter anderem Volksmission, Frühe (sic!) Dialektische Theologie und Religionsvergleiche. Die Basler Mission wird so erkennbar als ausgesprochen »heterogenes Gebilde« (301), in dem verschiedene theologische Strömungen um die Vorherrschaft rangen. Schließlich werden Verhältnisbestimmungen von Deutung und Methodik zu kultur- und religionswissenschaft-lichen sowie theologischen Konzepten vorgenommen, unter denen diejenigen zu Marcel Mauss’ Gabentausch-Theorie, zur »Polyzentrik« der Munich School um Klaus Koschorke und zu Transkulturation in neueren Studien besonders anregend wirken.
Durchgängig zeichnet sich die Untersuchung durch Berücksichtigung weiblicher theologischer Perspektiven aus. Wohltuend ist auch die geschlechtersensible Sprache ohne Beeinträchtigungen der Lesbarkeit. Das Buch ist ansprechend gestaltet, Bildmaterial wird in guter Druckqualität und erkennbarer Größe wiedergegeben. Ein Glossar zu verwendeten Begriffen aus dem Indonesischen und dem Ngaju-Dayak unterstützt die Lektüre, und sogar ein Personen-, Orts- und Sachindex wurde dem Text angefügt. Einzig die in Fußnoten oft immer wieder vollständig angegebenen bibliographischen Angaben erschweren die flüssige Lesbarkeit etwas; vermutlich wa­ren hier Verlagsvorgaben zu beachten.
An der Studie beeindruckt vor allem die erkennbar sorgfältige und weitgespannte Erhebung des Basler Archivbefunds zum Thema, aber auch das Wagnis einer Mixed methods-Forschung verdient Respekt. Dort melden sich freilich auch Probleme, die mit der tieferen Durchdringung der einzelnen Methoden und damit auch mit den eingangs genannten drei Fragestellungen zu tun haben: So werden Zentren und Ränder von Mission ja diskursiv bestimmt. Das dafür hier in Anschlag gebrachte Verständnis von Diskursanalyse als »Wissen« und »Weg, zu diesem Wissen zu kommen« (47) wird zwar unter Berufung auf die Kulturwissenschaftlerin Gillian Rose als in der Tradition Michel Foucaults stehend bezeichnet. Der von Foucault in »Archäologie des Wissens« entwickelte, komplexe Diskurs begriff, auf den eigens verwiesen wird, bezeichnet jedoch nicht selbst Wissen, sondern (neben anderem) die Formation von Wissen, und Diskursanalyse beschreibt nach Foucault kein »Wie« im Gegensatz zum »Warum« (48), sondern in Erklärung der Entstehungszusammenhänge von Wissensformationen durchaus beides. In der Ergebniszusammenfassung zur Diskursanalyse (260 f.) wird denn auch nur die Vielfalt der Perspektiven als Diskursstränge benannt; deren Zusammenhängen und Abhängigkeiten untereinander, die »den« Tiwah-Diskurs im eigentlichen Sinne ja erst bilden, geht die Studie nicht gesondert nach. Erst damit jedoch wäre missionstheologisch eine »Dort-Zentrik« mit ihren Peripherien nicht nur allgemein einsichtig zu machen, sondern auch argumentativ zu befestigen.
Zur Frage nach Perspektivenvielfalt wird in der Studie deutlich, dass die Missionare selbst verschiedene Perspektiven einnahmen und »im Kontakt« auch mit eigenen Überzeugungen in Konflikt gerieten. So hätte es nahegelegen, Niederschläge ihres ambivalenten Ringens um das »rechte« Verständnis ihrer Begegnungen mit dem Tiwah auch im Vergleich der von ihnen gefertigten Fotografien zueinander zu suchen, also über die hier durchgeführte Segmentanalyse einzelner Bilder hinaus, so, wie es die verwendete Bildanalyse-Methode Roswitha Breckners als Bildserieninterpretation empfiehlt. Zum Beispiel wurde die ausführlich besprochene und befragte Zentralfigur des als »Startquelle der Diskursanalyse« bezeichneten Fotos (49.190.226), ganz offenbar auf zwei weiteren Fotos in jeweils anderer Pose, Bildpositionierung und Ausdrucksgestalt nochmals ab­gebildet (190.239). Ein Vergleich aller drei Darstellungen hätte hier mit Sicherheit zusätzlich differenzierende Analyseimpulse freisetzen und so die kontakttheologische Analyse weiter profilieren können.
Im Blick auf die Eingangsfrage nach der eingenommenen Forschungsperspektive schließlich erfolgen in der Studie immer wieder vorgenommene Bewertungen zur Theologie der Missionare oft mit großer Sicherheit; Befremden und Anerkennung H.s wechseln jedoch auch im Verlauf der Untersuchung, ohne dass dies eigens reflektiert würde. Hier hätte die in der Studie so wichtige Methode der Bildanalyse vielleicht zu noch differenzierterer Selbstwahrnehmung beitragen können – nicht nur die historischen Fotografien der Missionare, sondern auch die eigenen hätten ja einer Bildanalyse unterzogen werden können. Eine derart selbstkritische Verflechtung dieser Analysemethode hätte eine postkoloniale Forschungsperspektive zweifelsohne noch überzeugender deutlich werden lassen.
Solche methodischen Anfragen an die Studie tun jedoch der beeindruckenden Gründlichkeit der archivarischen Recherche keinen Eintrag, die sich in Verwendungsumfang, Sorgfalt der Aufbereitung und Akribie der Nachweise durchgängig zu erkennen gibt. Das Buch erschließt und bearbeitet eine Vielzahl an wichtigen Quellen, lenkt den Blick auf eine noch zu gering beforschte Periode in der Geschichte der Basler Mission und regt so zu weiterer Recherche an.