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Ausgabe:

April/2021

Spalte:

362-365

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Todjeras, Patrick

Titel/Untertitel:

»Emerging Church« – ein dekonversiver Konversationsraum. Eine praktisch-theologische Untersuchung über ein anglo-amerikanisches Phänomen gelebter Religiosität.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020. 774 S. m. 26 Abb. (u. Onlinematerial) = Beiträge zur Evangelisation und Ge­meindeentwicklung, 28. Kart. EUR 120,00. ISBN 9783788734657.

Rezensent:

Stefan Schweyer

Patrick Todjeras ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Greifswald und stellvertretender Direktor des Instituts zur Er­forschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung (IEEG). Die unter der Leitung des Institutsdirektors Michael Herbst abgefasste Dissertation wurde im Wintersemester 2018/19 von der Theologischen Fakultät der Universität Greifswald angenommen. Sie wurde zudem mit dem Promotionspreis der Gesellschaft von Freunden und Förderern der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald e. V. ausgezeichnet.
Das IEEG zeichnete sich schon mehrfach dadurch aus, dass innovative kirchliche Bewegungen außerhalb des deutschsprachigen Raums wahrgenommen, analysiert und kritisch rezipiert wurden, so beispielsweise »Missional Church« aus den USA (vgl. z. B. die Dissertation von Martin Reppenhagen: Auf dem Weg zu einer missionalen Kirche, BEG 17, 2011; vgl. auch in der vorliegenden Arbeit 131–139) oder »Fresh Expressions of Church« aus dem anglikanischen Kontext (vgl. die entsprechenden Bände aus der Reihe BEG Praxis und in der vorliegenden Arbeit 141–145). Dass nun auch eine Forschungsarbeit über »Emerging Church« (EC) vorliegt, entspricht der Ausrichtung des IEEG und verweist auf dessen Gespür für gegenwärtige Dynamiken.
EC ist eine Bewegung, die in den 1990er Jahren in den USA insbesondere als Gegenreaktion zur Gemeindewachstumsbewegung (vgl. Gerhard Maier, Gemeindeaufbau als Gemeindewachstum, 1994; rezensiert in ThLZ 5/1996, 499–501) und vor allem zu den durchkommerzionalisierten Mega-Kirchen evangelikalen Zu­schnitts entstand. EC versteht sich selbst als eine Suchbewegung, um dem Christsein in postmodernen Kontexten Gestalt zu geben (zum Postmoderne-Verständnis der EC vgl. 404–412). Ab 1999 formierte sich ein Netzwerk unter dem Label »emerging« bzw. »emergent«. Die Entwicklung der EC lässt sich in drei Phasen bzw. Strömungen gliedern (im Anschluss an Stetzer, The Emergent/Emerging Church, 2009; 198–214): »relevants« (Suche nach neuen Wegen der Evangelisation) – »reconstructionists« (Suche nach neuen Formen von Kirche) – »revisionists« (Suche nach neuen theologischen Ansätzen). Es ist das große Verdienst der vorliegenden Dissertation, diese vornehmlich im englischsprachigen und evangelikalen Raum beheimatete Bewegung und die damit verbundenen Diskussionen und Fragestellungen für den deutschsprachigen Raum zugänglich und fruchtbar zu machen.
Der Gegenstand wird in der Dissertation durch die Literaturanalyse von Primärquellen aus der EC sowie sekundären theologischen und empirischen Forschungsarbeiten über die EC erschlossen. Dieses methodische Vorgehen ist im Blick auf Ziel und Fragestellung der Dissertation plausibel und erweist sich als ertragreich. Dadurch gelingt es dem Vf., in der zunächst unübersichtlichen Flut an gedruckten Beiträgen und besonders auch online publizierten Blogs von und über EC sowie in der Vielfalt der konkreten Ausgestaltung von EC die großen Züge der Bewegung und die relevanten Fragestellungen zu identifizieren und pointiert zu diskutieren.
Der Aufbau der Arbeit ist gut nachvollziehbar. Nach einer Einleitung unter anderem mit einer Darstellung der Methode und einem Forschungsüberblick (Abschnitt I, 19–117) folgt die ausführliche Darstellung von EC (Abschnitt II, 119–476). Die beiden zentralen Erkenntnisse und Thesen dieser Analysen werden im Untertitel der Arbeit genannt: Dekonversion und Konversation.
a) Der Vf. interpretiert EC in Rezeption von Ganiel/Marti (The Deconstructed Church. Understanding Emerging Christianity, 2014) als Phänomen der Dekonversion. Das zeigt sich besonders darin, dass die Protagonisten der EC aus kirchlichen Kontexten und Traditionen stammen, von denen sie sich distanzieren und entsprechend auch Plattformen für Personen mit ähnlichen religiösen Biografien bieten. Der Vf. argumentiert überzeugend, dass die EC- Phänomene viele Parallelen aufweisen zu denjenigen Phänomenen, die in der Dekonversionsforschung beschrieben und beobachtet werden (Abschnitt III, 477–536). Die eher dekonversive als konversive Ausrichtung der EC zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die Taufe – im Unterschied zum Abendmahl – kaum ein Thema ist (615; und wenn, dann so uminterpretiert, dass es sogar zu Mehrfachtaufen führt, vgl. Fussnote 46, 438). Das missionarische Potential von EC ist in dieser Hinsicht begrenzt. EC bietet – entgegen der eigenen ursprünglichen Absichten in der »relevants«-Phase – weniger einen Zugang für »postmoderne« Zeitgenossen, um den christlichen Glauben erstmals zu entdecken, sondern eher einen Raum für Personen, die in einem Prozess der Entfremdung zu ihrer eigenen kirchlich-christlichen Sozialisation und Tradition stehen.
b) EC lässt sich als Konversation fassen (vgl. 121–123). In dieser Konversation identifiziert der Vf. fünf wesentliche Motive: 1) Veränderung der religiösen Orientierung (271–286); 2) Bedeutung der Gemeinschaft (287–345); 3) Theologische Themen (wie z. B. Schriftverständnis, Christologie, Missionsverständnis; 346–402); 4) Kontexte (wie z. B. Postmoderne, Post-Christendom; 403–427); 5) Werte, Haltungen und Praktiken (wie z. B. Spiritualität, Authentizität, Worship; 428–459). Die theologische Diskussion dieser Motive (Abschnitt IV, 537–676) weist ein immer wiederkehrendes Argumentationsmuster auf: Die Kritik der EC an bestehenden Kirchenformen (beispielsweise hinsichtlich der Konsumorientierung, der Leitungsstrukturen, der Lehrinhalte etc.) hat durchaus ihre berechtigten Aspekte (z. B. 664–666). Die Reaktion der EC auf die wahrgenommenen Missstände erfolgt jedoch als ein Pendelschlag in die entgegengesetzte Richtung, was zu neuen Einseitigkeiten und auch zu einer homogenen Kommunikationsblase führt. Die Gefährdung dieser neuen Einseitigkeiten sieht der Vf. in theologischer Hinsicht vor allem in einer zu starken Subjektivierung des Glaubens und damit einer Unterbetonung des »extra nos« des Glaubens (z. B. 603) sowie in der Bildung von Interessengemeinschaften, welche die Koinonia des Leibes Christi nicht angemessen zur Gestalt zu bringen vermag (600–635). Dem gegenüber könnten Einsichten und Aspekte der EC-Konversation durchaus eine Bereicherung und Erweiterung darstellen, wenn sie nicht in Abgrenzung gegen bestehende Kirchenformen und theologische Überzeugungen erfolgen, sondern als Erweiterung und Aktualisierung in bestehende Kontexte und Diskurse eingebracht werden. Dazu müssten homogene Konversationskonstellationen aufgesprengt werden (vgl. 632–633).
Der Vf. sieht richtig, dass das Thema des Zweifels beide Interpretamente (Dekonversion und Konversation) miteinander verbindet. Es ist daher folgerichtig, dass der Vf. ausführlich das Verhältnis von Glauben und Zweifel diskutiert (539–570). Die in Rezeption lutherischer Theologie erfreulich differenzierte Darstellung zeigt, dass es weder darum gehen kann, Zweifel zu unterdrücken, noch ihn als Tugend hochzustilisieren, sondern vielmehr darum, den Zweifel auszuhalten und sich gerade in dieser Spannung des Glaubens ge­wiss zu sein. Grundlage der Glaubensgewissheit kann daher nicht das individuelle Subjekt sein – ob es nun glaubt oder zweifelt –, sondern das verbum externum (z. B. 548). Diese Einsicht ist nicht nur in der Auseinandersetzung mit der EC klärend, sondern seelsorgerlich, theologisch und kybernetisch bedeutsam im Umgang mit allen Ansätzen, welche in der Versuchung stehen, den Menschen zum Ausgangs- und Zielpunkt des Glaubens zu erheben und damit das Individuum gleichsam zu »sakralisieren« (vgl. die entsprechenden Analysen in den Abschnitten zu post-christlicher Spiritualität, 581–584, und zur Gottebenbildlichkeit, 584–590).
Die Diskussion der Zweifelsthematik zeigt exemplarisch, dass der Vf. gekonnt eine theologisch-normative Perspektive in den praktisch-theologischen Diskurs einzuflechten vermag – eine m. E. unaufgebbare Aufgabe der Praktischen Theologie, insofern sie sich als theologische Wissenschaft verstehen will. Selbst für Lesende, die nicht eine dezidiert lutherisch ge­prägte Theologie vertreten, sind diese normativen Diskurse bereichernd, zumal der Vf. transparent über die Quellen seiner Argumente Auskunft gibt.
Insgesamt vermag die Auswahl der diskutierten Themen und Gesprächspartner zu überzeugen. An zwei Stellen hätte sich der Rezensent mehr Klarheit gewünscht: Einerseits im Blick auf die bereits oben angedeutete scheinbare »Leerstelle« der Taufe in der EC, andererseits zur Frage, wie sich die EC mit ihrer antiinstitutionellen Haltung und ihrer Bevorzugung fluider Gestaltungsformen die Tradierung des Glaubens an die nächste Generation vorstellt. Dem Rezensenten scheint, dass die EC hier von Grundlagen zehrt, die sie selbst zu legen nicht in der Lage ist (vgl. 617–621), und dass deshalb die Glaubenstradierung durch die EC selbst kaum gewährleistet werden kann (darauf verweisen auch die Beobachtungen in Fußnote 152.619).
Die Dissertation ist lesefreundlich gestaltet. Der Schreibstil erlaubt eine flüssige Lektüre. Die detaillierte Gliederung erleichtert den Nachvollzug des Gedankengangs und ermöglicht eine zielgenaue Orientierung im umfangreichen Werk. Der hohe Umfang ist nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass innerhalb der Arbeit durch ausführliche Referate sowie entsprechende Zitate die Quellen erschlossen werden, die im deutschsprachigen Raum sonst kaum zugänglich sind. In einem mittels QR-Code und Passwort zugänglichen Zusatzdokument werden diejenigen Abschnitte der Dissertation digital zur Verfügung gestellt, die nicht in die Druckfassung aufgenommen wurden. Aus Sicht der Lesenden wäre ein Sach- und Personenregister sowie eine Differenzierung des Literaturverzeichnisses in Primär- und Sekundärquellen hilfreich gewesen – damit hätte die Zugänglichkeit und Rezeptionsfähigkeit der Studie zusätzlich erhöht werden können.
Denn eine breite Rezeption ist der Dissertation zu wünschen – nicht, weil EC an sich so bedeutsam wäre, dafür ist der Trend um das Label »emerging/emergent« schon fast zu sehr abgeflacht, sondern weil die Dynamiken, für die EC exemplarisch steht, mit anderen Nuancen und unter anderen Labels auch in der deutschsprachigen Landes- und Freikirchenlandschaft präsent sind und zu einer weiteren Pluralisierung der kirchlichen Landschaft führen (vgl. zur Relevanz der Auseinandersetzung mit der EC für den deutschsprachigen Raum die systematisch- und praktisch-theologischen Ausblicke und Impulse in Abschnitt V, 677–695). Umso mehr wird es darauf ankommen, das Festhalten am überlieferten Evangelium und den damit verbundenen Glaubensinhalten und Werten mit dem Freiraum für individuelle religiöse Entwicklungen konstruktiv zu verzahnen, um mündigen christlichen Glauben zu fördern (vgl. 691–694). Dazu bietet die Dissertation hilfreiche und weiterführende Anregungen.