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Ausgabe:

April/2021

Spalte:

359-362

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Ratzinger, Joseph

Titel/Untertitel:

Predigten. Homilien – Ansprachen – Meditationen.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2019. 712 S. = Joseph Ratzinger Gesammelte Schriften: 14/1. Geb. EUR 80,00. ISBN 9783451381140; 14/2. Geb. EUR 75,00. ISBN 9783451386145; 14/3. Lw. EUR 90,00. ISBN 9783451388149.

Rezensent:

Michael Meyer-Blanck

Die in den drei umfangreichen Teilbänden gesammelten Predigten des emeritierten Papstes, die auf dessen Wunsch (wie alle Schriften der Edition) unter seinem bürgerlichen Namen publiziert werden, umfassen den Zeitraum von 1950 bis 2005; die jüngste Predigt ist damit diejenige beim Requiem für Johannes Paul II. im April 2005, unmittelbar vor Ratzingers Papstwahl (S. 1950–1955; die durchgehende Seitenzählung erlaubt die Zitation ohne Angabe des Teilbandes). Das Werk ist in sechs Teile gegliedert: A. Weihnachtsfestkreis (47–301), B. Osterfestkreis (303–708), C. Jahreskreis und Herrenfeste (709–1132), D. Maria (1133–1312), E. Feste des Herrn und der Heiligen (1313–1628), F. Besondere Anlässe (1629–1955). Die meisten Predigten stammen aus R.s Zeit als Münchner Erzbischof 1977–1982.
Beigegeben ist ein reichhaltiger Anhang mit Quellen und Literatur, editorischen und bibliographischen Hinweisen (hier fehlen leider die Seitenzahlen des Hauptteils, so dass man die Angaben zu der jeweiligen Predigt länger suchen muss), Bibelstellen, Namenregister und einem Verzeichnis der bereits an anderer Stelle in JRGS abgedruckten Predigten (1959–2152).
Der Herausgeber hat sich dafür entschieden, die Predigten nach dem Kirchenjahr zu ordnen, so dass sie als geistliches Kompendium begleitend zum Kirchenjahr und impulsgebend für das eigene Predigen gelesen werden können. Das ist insofern einleuchtend, als sich R. auffallend sorgfältig an die (in der Regel drei) Lesungen der katholischen Leseordnung hält. Andererseits tritt durch diese Aufteilung der Zeitbezug der Predigten in den Hintergrund. Liest man (wie der Rezensent) tatsächlich alle Predigten fortlaufend hintereinander, springt man in den Jahren hin und her. Dies ist allerdings insofern tolerabel, als sich der Prediger R. im Wesentlichen treu bleibt. Große theologische Unterschiede lassen sich in den drei Phasen seines Wirkens (1. Professorenzeit vor dem Bischofsamt bis 1977; 2. Münchner Periode 1977–1982; 3. Römische Jahre 1982–2005) nicht feststellen. Das konsequente Eintreten für die katholische Lehre, die Kritik am Mo­dernismus und Marxismus sowie die Orientierung von Form und Inhalt der Predigt an der sie jeweils umgebenden Liturgie finden sich bereits in der Frühzeit, man vergleiche dazu nur die erste Predigt des 23-jährigen Diakons R. im Dezember 1950 (47–49). Die These, R. habe in den späten 1960er Jahren eine grundlegende theologische Wende vom progressiven Konzilstheologen zum konservativen Bewahrer der Lehre vollzogen, lässt sich anhand dieser gut 1.900 Seiten Predigten gerade nicht verifizieren. Da das Markieren von Unterschieden in seinen drei Schaffensphasen also nur wenig ergiebig ist, sei im Folgenden der Versuch gemacht, das reiche Predigtmaterial insgesamt anhand von zehn Merkmalen zu erschließen.
1. Die Predigten Ratzingers sind erstens liturgische Reden. Sie ge­hen vom Gesamtcharakter des jeweiligen Sonn- oder Feiertages aus und nehmen grundsätzlich auf die drei Lesungen (Altes Testament, Epistel und Evangelium) Bezug, daneben aber auch auf den Psalm und die Gebete (z. B. 852 f.868.918.923.938.968). Die Liturgie »will nicht Spiel sein, sondern das Hinzutreten in die eigentliche Wirklichkeit, […] wenn es ein Vehikel gäbe, mit dem wir auch durch die Zeiten hindurch wandern […] könnten« – dann könne etwas davon »in dem Geheimnis der Liturgie geschehen«, weil die Auferstehung Jesu nicht vergangen, sondern im österlichen »hodie« ge­genwärtig sei (449). Bisweilen folgt die Gliederung, sozusagen als eine dreifache Homilie, dem Schema 1. Lesung (Altes Testament) – 2. Lesung (Epistel) – 3. Evangelium (621–626; vgl. 495–500). Manchmal wird die Gliederung der Predigt auch aus einem Gebet in der Messe entwickelt (890–896). Denn für R. ist jede Liturgie »ein kleines Kunstwerk, in dem Worte des Alten und des Neuen Bundes, Gebete Israels und Gebete der Kirche zu einem Ganzen zusammengefügt sind« (890).
2. Damit entwickelt der Prediger R. zweitens eine gesamtbiblische Theologie. Dem liturgischen Syntagma folgend liest R. das Alte Testament von Christus her und entspricht damit der Hermeneutik der katholischen Perikopenordnung, in der die AT-Lesungen vom Evangelium her ausgewählt wurden. Auf Golgatha ist »wirklich der Berg Gottes aufgerichtet worden über alle Berge dieser Welt. Das Kreuz Jesu Christi ragt wirklich bis ins Herz Gottes hinein […]. In ihm ist wirklich der Gott Israels aufgestanden über die ganze Welt hin« (51, zu Jes 2,1–5) und Ps 118 ist »ganz durchleuchtet […] vom Geheimnis Christi« (472). Das Neue Testament offenbart uns, wer der unbekannte Knecht in Jes 42,1–7 ist, »aber das Alte Testament ist mehr als eine Vorbereitung«, denn die Prophetenworte »lassen uns die geheimnisvolle Tiefe des göttlichen Handelns verstehen« (266). Eine »Substitutionstheorie« wird man R. also trotz der konsequent christologischen AT-Hermeneutik nicht unterstellen können.
3. Drittens haben R.s Predigten ihre Mitte in einer ekklesiologisch konturierten Christologie. Auf dem Cover der drei Bände findet sich der materialhomiletische Grundsatz dieses Predigers: »Die Botschaft Jesu verkündigen wir nur ganz, wenn wir Jesus selbst verkünden«. Man kann hinzufügen: Und den ganzen Jesus haben wir nur in der Gemeinschaft der Glaubenden, in der Kirche. Immer wieder begegnet der Gedanke, dass man Christus nicht für sich allein haben könne und dass die Denkfigur »Christus ja – Kirche nein« unmöglich sei, weil Christus als Kirche existiert (vgl. die bekannte Bonhoeffer-Wendung »Christus als Gemeinde existierend«); nur derjenige stehe in der Nähe Gottes, »der sich diesem Geheimnis des göttlichen Wir einfügt« (995). Besonders die »Theologie ist nicht Weltfahrt der isolierten Vernunft des Gelehrten, sondern ist Mitdenken mit dem Glauben der Kirche« (1738).
4. Viertens kommen R.s Predigten vom Gebet her und führen auf das Gebet hin. Das gilt sowohl in prinzipieller als auch in formaler Hinsicht. In einer Freisinger Predigt aus dem Jahre 1979 heißt es: »Ich bin überzeugt, dass die eigentliche Krise der Kirche im Westen auf ihrem Mangel an Kontemplation, das heißt, auf ihrem Mangel an gelassener Stille des Betens […] beruht.« (1612) Der Prediger R. gibt sich als Beter zu erkennen, der den Hörerinnen und Hörern selbst Lust zum Gebet machen möchte. U. a. darin besteht eine deutliche Kontinuität des Predigtwerks von 1950 bis 2005. Die überwiegende Zahl aller Predigten endet mit einer Gebetsaufforderung nach dem Mus­ter: »Wir wollen den Herrn darum bitten, dass […]«. Besonders reich und charakteristisch ausgeführt ist der Gebetsschluss, etwa in einer Münchner Weihnachtspredigt von 1981 (173).
5. Fünftens haben diese Predigten durchaus auch kontroverstheologische Nebentöne. Die protestantische Theologie und Kirche be­gegnen stärker als Negativfolie und weniger als anregende Impulse. Das gilt etwa für Bultmann (449.456.646.648), Calvin bzw. den Calvinismus (537.746.1343) oder die Bewertung der Reformation: »Was bisher schön und groß gewesen war, erscheint als Aberglaube und die Wallfahrt scheint der Vergangenheit anzugehören.« (765) Hoffnungsvoller klingt da die Äußerung aus dem Jahre 1966 über die Trennung am Abendmahlstisch, die gespaltene Christenheit müsse sich »wirklich zum Herrn und so zueinander« bekehren (1716).
6. Sechstens kann man vom Marxismus als aktuellem Widerpart von R.s Verkündigung sprechen. Die Auseinandersetzung mit der Befreiungstheologie, noch stärker aber die theologische Gemeinschaft mit Johannes Paul II. ist immer wieder zu spüren. Sobald die Predigten über Liturgie, Lehre und die Heiligen hinaus das Alltagsleben in den Blick nehmen, kommt dieser weltanschauliche Gegner als Exempel implizit oder explizit ins Spiel; er steht für Gottesvergessenheit, Verirrung und Verdinglichung des Menschen. Schon 1960 (!) beim Eucharistischen Weltkongress kritisiert R. scharf die marxistische Lehre vom »Überbau« (1634). Und in einer Münchener Silvesterpredigt heißt es 1977: »In Sachen Pornographie greifen kapitalistische Profitgier und marxistisches Streben nach der Weltherrschaft der Revolution in einer grässlich prästabilierten Harmonie ineinander.« (181) Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem marxistischen Denken bietet eine Predigt vor katholischen Arbeitnehmern 1981: Danach wollten die Erben von Marx keine Reform, sondern »die Verelendung, um dann ihr Paradies zu bauen.« (486) Im Juli 1989 sagt R. in Madrid: »Die Boten Jesu verkünden nicht den Klassenkampf, ihre einzige Macht ist das demütige Wort von Gottes Frieden.« (794; vgl. ferner 496.514.1540) Schließlich heißt es in einer Marienpredigt im Sommer 2004: »Mit dem Gift der Ideologie, das Marx hinterlassen hat, konnte er in einem halben Jahrhundert mehr Zerstörung und Fins-ternis schaffen, als in zweitausend Jahren zuvor.« (1237)
7. Die übrigen aktuellen Bezüge sind eher negativer Art, ja man wird siebtens von einem deutlichen Skeptizismus, wenn nicht gar von einem Pessimismus angesichts der Gegenwart in R.s Predigten sprechen müssen. Zu Joh 2,3 formuliert R. im Januar 1989: »Die Macht des Menschen hat sich fast bis ins Grenzenlose gesteigert […]. Nur das Eigentliche können wir nicht mehr recht: das Menschsein. Es ist alles glanzlos und leer geworden.« (711) Auch das in der Homiletik zu Recht inkriminierte Negativ-»Wir« findet sich in R.s Predigten immer wieder (584.1143.1822). Glaube, Kirche und die Heiligen bilden eine Art Gegenwelt und Gegenprogramm zur grundlegend verfehlten aktuellen Kultur (vgl. etwa 833.885.941.951.1197. 1383.1475). Zeitdiagnos-tisch sind R.s Predigten allerdings – glücklicherweise – zurückhaltend, so dass der ansonsten ermutigende spirituelle Grundton wenig gestört wird. Der homiletische Kardinalfehler »Katastrophenszenario im Dienste des Evangeliums« ist die Ge­fahr vieler Predigten.
8. Einen positiven Bezugspunkt R.s bilden achtens die Kirchenväter, unter denen Augustinus an vorderster Stelle steht. Er ist R.s Kronzeuge für das Ineinander von Christologie, Pneumatologie und Ekklesiologie, für den Glauben in der Kirche, mit der Kirche und durch die Kirche. »Einer hat so viel Heiligen Geist, so viel er die Kirche liebt« – dieses Augustinwort gibt eine Grundüberzeugung R.s wieder (zitiert 532.596 f. und 623). Zudem war Augustin »ja selbst eine jener heiklen Seelen, die nur mühsam von dem hohen Sockel herunter-stiegen und nur auf vielen Umwegen und sehr schwer den Weg zur Krippe fanden« (165; Weihnachtspredigt München 1980; vgl. ferner 48.73.238.405.564.1184.1227.1247.1576.1656.1909).
9. Neuntens sind die Predigten R.s römisch und petrinisch. Die Kirche ist die Gemeinschaft, die in aller ihrer Vielfalt und Verschiedenheit durch ihr geistliches Zentrum und den »Petrusdienst« (wie R. gerne sagt) zusammengehalten wird. Petrus ist »der Hohepriester des Neuen Bundes« (338) und »wenn wir im Schiff Jesu Christi sein wollen, müssen wir das Boot Petri besteigen.« (1733) Die spirituelle Verwurzelung im Papsttum kennzeichnet diese Predigten. Die Kirche »muss nach dem Willen des Herrn petrinisch, apostolisch und marianisch sein« (623).
10. Schließlich sind diese Predigten zehntens durch und durch marianisch. Das bezieht sich zum einen auf den Predigtstoff, denn Marienpredigten machen einen eigenen umfangreichen Abschnitt aus (Teil D, 1135–1312). Darüber hinaus wird aber auch sonst auf Maria Bezug genommen. Sie ist das Vorbild, die Mutter des Glaubens und die Mutter der Kirche, ja die Kirche selbst, denn »wer den Herrn liebt, liebt unbedingt auch die Madonna, weil sie nicht getrennt werden können. Die Madonna, die dem Sohn das Fleisch, die Knochen gegeben hat, ist die, die zum Sohn führt, so wie der Sohn uns zur Mutter führt.« (498) In Maria liegt so viel »Reines, Demütiges und Gutes«, so dass dem Menschen voller »Niedrigkeit und Heuchelei«, wie wir ihn »aus den täglichen Nachrichten meistens kennenlernen«, etwas Hoffnungsvolles entgegengesetzt werden kann (1209). Der Glaube Marias ist »der offene Raum, in dem Gott in die Geschichte eintritt« (1290).
Insgesamt ist das Predigtwerk R.s das getreue Abbild seiner Theologie. Lässt man sich darauf ein (auch auf die deutlich spürbare kanonisch-katholische Exegese), dann liest man auch viele Predigten hintereinander mit großem Gewinn. Immer wieder überzeugt die verständliche und poetische Sprache mit prägnanten Formulierungen, die einen trotz aller theologischen Unterschiede berühren. So manche Passage hat etwas zutiefst Ermutigendes und Hoffnungsvolles: »Die Sendung Jesu ist also, den Völkern die Wege des Lebens zu geben, das wahre Recht zu geben, und er gibt es, indem er das Angesicht Gottes zeigt, die Quelle der Wahrheit und die Quelle des Rechts, […]« (268, bei einem Juristenkongress im Jahre 1991).