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Ausgabe:

April/2000

Spalte:

449–452

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Schreiner, Martin [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Vielfalt und Profil. Zur evangelischen Identität heute.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 1999. 204 S. gr.8. Kart. DM 39,80. ISBN 3-7887-1671-1.

Rezensent:

Günter Böhm

Nicht zufällig wächst die Zahl der Veröffentlichungen zum Thema einer evangelischen Identität. Das ökumenische Gespräch lebt von Menschen mit erkennbarem Profil. Theologie und Kirche nehmen den gesellschaftlich-weltanschaulichen Pluralismus zunehmend als Herausforderung an. Die von Martin Schreiner 1999 herausgegebene Aufsatzsammlung "Vielfalt und Profil - zur evangelischen Identität heute" beweist, wie produktiv eine an diesem Thema orientierte Auseinandersetzung sein kann - nicht zuletzt deshalb, weil hier grundlegende Ausführungen durch ein breites Spektrum praktisch-theologischer Konkretionen ergänzt werden.

Den langwierigen und schwierigen Prozess der Annahme dieses Themas in Deutschland - etwa im Gegensatz zu den USA - macht Heinrich Bedford-Strohm in seinem einführenden Aufsatz deutlich. In Abgrenzung von einem populären Marktpluralismus ebenso wie vom Konzept eines postmodernen Pluralismus nach Wolfgang Welsch formuliert Strohm im Anschluss an die feministische Ethikerin Beverly Harrison Grundzüge eines Pluralismusverständnisses, das zur "Toleranz gegenüber Differenzen ermutigt, ohne dabei auf gemeinsame moralische Maßstäbe zu verzichten" (7). Strohms Konzept eines "Gerechtigkeitspluralismus" geht davon aus, dass es in allen demokratischen Gesellschaften einen Grundkonsens hinsichtlich des Einsatzes für Konzeptionen des guten Lebens gibt. Erst dieser Konsens ermögliche eine gesellschaftliche Kommunikation, die eine pluralistische Gesellschaft prägt. "In diesem Prozeß markiert inhaltliche Uneinigkeit nicht das Ende, sondern den Beginn des Dialogs" (9).

Im Rückgriff auf 1Kor 12 und 14 weist Strohm nach, dass die biblische Überlieferung einem solchen Pluralismusverständnis nicht nur nicht widerspricht, sondern es darüber hinaus maßgeblich anreichert. Pluralismus kann als "Konsequenz eines Befreiungsgeschehens" begriffen werden, als "dynamischer, nach vorne offener Prozeß" (12). Ergänzt um Hinweise aus Michael Welkers "Pluralismus des Geistes", kann Strohm schließlich theologische Orientierungspunkte für die Kommunikation im innerkirchlichen Raum ebenso wie für die gesellschaftliche Auseinandersetzung benennen: Im "Horizont der Liebe" wird Vielfalt "Sorge um die anderen und Neugier auf den anderen", wird die "Wahrheitsfrage offengehalten" und Sensibilität "gegenüber den Schwachen" bewahrt. Identität und Pluralismus sind dann nicht Gegensätze, sondern "aufeinander angewiesene Weggenossen, ... ja Freunde" (16).

Die Ergiebigkeit des religionswissenschaftlichen Zugangs neben der unverzichtbaren theologischen Fragestellung erweist Christoph Bochinger in seinem Aufsatz über "Religiöse Gegenwartskultur im Medienzeitalter zwischen Kirche, spiritueller Szenerie und nichtchristlichen Religionen" (17 ff.).

Der Autor fordert, angesichts der "fluiden Atmosphäre der religiösen Phänomene" analytisch vom "Zeitgeist" auszugehen und dabei insbesondere der Analyse der Medien Raum zu geben. Die "Darstellung fremder religiöser Optionen" dürfe nicht mehr vor allem als Negativfolie zur Herausarbeitung evangelischer Identität dienen, sondern müsse in ihrem Eigenanspruch ernst genommen werden. Für einen solchen - in der Religionspädagogik vielfach bereits vollzogenen - Perspektivwechsel sei nicht mehr Vergleich, sondern Begegnung der angemessene Begriff (26). In gleiche Richtung zielt die entschiedene Option von Rolf Rendtorff, der unter dem Titel "Christen und Juden heute" neue Einsichten im Verhältnis der beiden Religionsgemeinschaften und daraus abgeleitete Aufgaben beschreibt. Anstelle der oft zitierten "gemeinsamen Wurzeln" spricht Rendtorff im Anschluss an Röm 11,16-18 von der "einen Wurzel", dem von Gott erwählten Volk Israel; wir Christen seien in den daraus hervorgegangenen Baum später eingepflanzt worden (28). An zahlreichen Beispielen erläutert Rendtorff die im Alten Testament grundgelegte Basis von Texten, die christliche Tradition lange als eigenständig beansprucht hat, z. B. das Gebot der Nächstenliebe (vgl. Dtn 6,4 in Bezug auf Mk 12,29 ff.). Ein Anrecht auf bestimmte Elemente der jüdischen Tradition dürfe nicht mehr "gegen die Juden, sondern nur gemeinsam mit ihnen" erhoben werden (32). Christliche Identität dürfe sich nicht darin begründen, dass "wir uns an die Stelle Israels setzen"; wir brauchen dies auch nicht, weil wir vom Anfang der Heilsgeschichte her schon bei der Berufung Abrahams mit den Völkern "mitgemeint" sind.

Den Faden des interreligiösen Dialogs nimmt Gottfried Adam unter dem Aspekt Wahrheitsgewissheit auf (37 ff.). Er versteht interreligiöses Lernen als unverzichtbare Aufgabe nicht nur des Religionsunterrichts, sondern angesichts der gesellschaftlichen Situation als Auftrag der ganzen Schule - legitimiert von den Interessen der Kinder und Jugendlichen ebenso wie von der Selbstinterpretation der Religionsgemeinschaften (Adam nennt hier nur die christliche, dieser Anspruch ist aber z. B. auch dem bei uns inzwischen erheblich verbreiteten Islam nicht zu verwehren).

Berechtigt verweist Adam auf das Ungenügen eines aus einer allgemeinen Indifferenz gespeisten Toleranzbegriffs; es gehe um "bewußte Wahrnehmung des Fremden und der Fremden" (41). Die Ausführungen münden aus in einem für die Praxis nützlichen Katalog von "Spielregeln" (45), die zusammen mit den von Karl Ernst Nipkow vorgelegten "Kommunikationsregeln für interreligiöse und interkonfessionelle Verständigung in wechselseitiger Achtung vor Differenz" (in: Bildung in einer pluralen Welt, 2. Band, 1998, 112 ff.) für Gemeinde- und Schulpraxis im Vorfeld einer noch ausstehenden Didaktik interreligiösen Lernens höchst nützlich sind.

Der grundsätzliche Teil des Bandes wird schließlich von einem nochmals prinzipiell "Chancen und Grenzen religiöser Sozialisation" aufgreifenden Aufsatz von Hans-Jürgen Fraas abgeschlossen, indem der Vf. im Rückgriff auf reformatorische Erkenntnisse die gegenwärtige starke Individualisierungsströmung auf Grund ihrer Nähe zum protestantischen Freiheitsgedanken als "Gewinn des Individuell-Konfessorischen gegenüber den im Zeitalter der Konfessionskirche bestimmenden konfessionellen Prinzip" herausstellt (51), Grundzüge einer "konfessorischen Existenz" in der Postmoderne skizziert (53 ff.) und in Abwehr eines Pluralismusverständnisses als Beliebigkeit für einen "harten", profilierten Pluralismus plädiert und damit der melanchthonischen Vorstellung von pietas und eruditio unter heutigen Bedingungen gerecht zu werden sucht (56 f.).

Die auf die Praxis bezogenen Beiträge setzen mit dem Kindergarten als Lernort an.

Frieder Harz beschreibt, wie von einem am Evangelium orientierten Verständnis der hier geforderten jetzt primär pädagogisch verstandenen (und nicht mehr vom Betreuungsaspekt geprägten) Kindergartenarbeit ein für alle Kinder offener Lebensbereich gewonnen wird, der Vielfalt ermöglicht, ohne die Eindeutigkeit seiner Herkunft aufzugeben, und die in Rückbesinnung auf diesen biblischen Grund seine Impulse erhält (63 ff.).

Ulrich Schwab gewinnt aus der Botschaft von der Versöhnung nach 2Kor 5,18 ff. und Röm 5,10.17 Elemente eines Profils für evangelische Jugendarbeit und erläutert unter Bezug auf die gegenwärtigen Lebenslagen Jugendlicher heute bestehende dringende Aufgabenstellungen, z. B. Hilfe bei der lähmenden Erfahrung sozialer Schließungsprozesse über eine wirksame Jugendsozialarbeit, ist sich zugleich darüber klar, wie weit ein solches Konzept gegenwärtigem Selbstverständnis vieler Kirchengemeinden noch fremd ist (87 f.).

Erst wenn Jugendliche die Möglichkeit hätten, "sich eigenständig mit ihrer Sprache, ihren Gestaltungsideen sowie ihrem eigenständigem Glauben in den Prozeß Gemeinde einzuklinken", wären Bedingungen geschaffen, dass Kirchengemeinden "ein bedeutsamer Teil in der Lebenswelt vieler Jugendlicher werden könnten" (91). Ähnlich orientiert an der Lebenswirklichkeit heutiger Menschen umschreibt Hans-Joachim Petsch aktuelle Aufgaben einer evangelischen Erwachsenenbildung. Er sieht ihr Profil darin, "nach innen ... Ort der Moderne in der Kirche, ... nach außen ... ein Ort der Kirche in der Moderne" zu sein (104). Ohne Überformung der säkularen Welt kann diese Bildungsarbeit dazu beitragen, dass an den Schnittpunkten zwischen Glaubens- und Lebensfragen nach einem Wort von Günther Bittner "Menschen jenseits ihrer Versteinerung berührt und erweckt werden". Das evangelische Profil sieht Petsch dabei nicht in einem "abgehoben ,Christlichen’", sondern in einem "sich in immer neue Kontexte hinein begebenden - theologisch gesprochen: sich je neu inkarnierendem Christentum" (110).

Vom "Ernstnehmen des Menschen" und "dem Trost durch die Rechtfertigungsbotschaft" als den beiden "Grundlagen reformatorischen Wirkens" geht Christian Grethlein in seinem Beitrag zu einem ",Evangelischen’ Profil des Gemeindeaufbaus/der Gemeindeentwicklung in der ,modernen’ Gesellschaft" aus (112 ff.).

Er stellt fest, dass die mit diesen beiden Grundlagen gegebene Spannung evangelische Kirchen und Gemeinden bis heute begleitet: "Die Einstellung der meisten Menschen, die Religionspraxis der Kirchenmitglieder, der durch ihr Getauftsein ... eine auch theologische Dignität zukommt, und die theologische Konzentration auf die christologisch begründete Rechtfertigungsbotschaft wurden nie zur Deckung gebracht" (114). Grethlein zieht daraus die Konsequenz, dass "die durch das Wirken und Geschick Jesu Christi eröffnete Lebensperspektive in ihrer befreienden Kraft" für den heutigen Menschen mit seinen Sorgen neu verständlich gemacht werden müsse. Er greift dazu auf dem Hintergrund der Gesellschaftsanalysen von Gerhard Schulze ("Die Erlebnisgesellschaft") und Ulrich Beck ("Die Risikogesellschaft") auf die Suche des modernen Menschen nach Sicherheit zurück, um sie theologisch zu reflektieren, dabei biblisches und modernes Zeitverstehen gegenüberzustellen und deutlich zu machen, was eine in der Auferstehungsbotschaft begründete, von Gott dem Menschen geschenkte Zeit (Röm 12,1 f.) als Lebensperspektive heute bedeuten könnte. Gemeindeaufbau und -entwicklung hätten hier mögliche Anknüpfungspunkte, denn Gemeinden sind Orte, in denen ein von falschen Sicherheitsbestrebungen befreites Zeiterleben aus der von Gott her verheißenen Zukunft Gestalt finden kann.

Michael Schibilskys Anregungen zu einem diakonischen Profil ("Die Bibel als Lehrerin der Diakonie - die Diakonie als Lehrerin der Theologie - Diakonie und Theologie als Partnerinnen in Kirche und Gesellschaft) beschließen die Darstellung der kirchlichen Handlungsfelder (124ff.). Von besonderem Anregungswert sind die abschließenden Thesen zu einer "theologischen Kernkompetenz" (138 ff.).

Den Schlussteil des Bandes bilden drei auf den Religionsunterricht bezogene Untersuchungen.

Werner Ritter stellt die berechtigte Frage, ob man angesichts des "Karussels" der sich schnell ablösenden Theorien des Religionsunterrichts überhaupt von einem Profil der Religionspädagogik sprechen könne (141 ff.). Er kommt nach einem äußerst informativen Durchgang durch die Abfolge der Konzepte mit vier markanten Positionen (Liberale Religionspädagogik - Evangelische Unterweisung - Hermeneutischer RU - Thematisch-problemorientierter RU) zum Ergebnis, dass das, "was prima facie als Unreflektiertheit und Unkonsolidiertheit des Faches erscheinen mag, in Wirklichkeit nichts anderes (ist) als ein mehrfacher Reflex auf zeitgeschichtlich epochale Veränderungen in der Gesellschaft" (160). Profil der Religionspädagogik sei so etwas wie "gesprächsfähige Identität" (161).

Rainer Lachmann nimmt in seinen vor allem auf den RU der Grundschule bezogenen Ausführungen die Frage auf, wie sich die in der EKD-Denkschrift zum RU (1994) niedergelegte doppelte Zielsetzung von Identitäts- und Verständigungsförderung schulpädagogisch umsetzen lasse, was in der Denkschrift offen gelassen wird, während die katholische Seite offiziell ein Nacheinander von Beheimatung und Verständigung empfiehlt (169 ff.). Lachmann begründet aus seiner Deutung gegenwärtiger religiöser Sozialisation eine entgegengesetzte Lösung. Sie ist religionspädagogisch diskutabel. Es erscheint aber nicht plausibel, in Anbetracht der bestehenden Konfessionalität zumindest der Lehrerinnen und Lehrer, die diesen Unterricht erteilen, von einer "ökumenischen Identität des RU" zu sprechen. Dazu sind die Religionspädagogen beider großen Konfessionen erst auf dem Wege.

Martin Schreiner, Herausgeber des Bandes, beschließt ihn mit einem nachdenkenswerten Aufsatz zum Profil heutiger Religionslehrerinnen und Religionslehrer ("Mit Begeisterung und Besonnenheit", 189 ff.). Ausgehend von einer Darstellung der Zeitsignatur und den ungeschminkten Bedingungen heutigen Lehrerseins, kennzeichnet Schreiner vor dem Hintergrund einer theologisch-anthropologischen Fundierung des Religionsunterrichts heutige Anforderungen an die Religionslehrenden und ein "Profil in mehreren Dimensionen": "Religionslehrende als Wahrnehmende", als "Erzählende", als "Seelsorgende" (198ff.). Ich würde noch die Dimension des Argumentierenden hinzufügen - gerade im Blick auf eine Hermeneutik der Aneignung, die der Autor ja favorisiert (98).

Eine einladend-besonnene Kennzeichnung heutiger Religionslehrerexistenz beschließt damit einen Band, der auf dem Wege zur Besinnung auf eine evangelische Identität mehr als Bausteine liefert; der diese evangelische Identität inmitten evangelischer Vielfalt bereits erkennbar konturiert.