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Ausgabe:

April/2021

Spalte:

351-352

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Benz, Brigitte, u. Benedikt Kranemann [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Deutschland trauert. Trauerfeiern nach Großkatastrophen als gesellschaftliche Herausforderung.

Verlag:

Würzburg: Echter Verlag 2019. 187 S. = Erfurter Theologische Schriften, 51. Kart. EUR 16,00. ISBN 9783429053628.

Rezensent:

Ulrike Wagner-Rau

Durch den Amoklauf in einem Gymnasium der Stadt am 26.04.2002 erlangte Erfurt Bedeutung in der Auseinandersetzung mit den Fragen, die sich im Zusammenhang von Trauerfeiern und anderen Formen des Gedenkens nach Großkatastrophen stellen. Diesen Fragen widmete sich auch eine Tagung der dortigen Katholisch-Theologischen Fakultät, die von Benedikt Kranemann und der damaligen Wissenschaftlichen Mitarbeiterin Brigitte Benz am Lehrstuhl für Liturgiewissenschaft im Sommer 2018 veranstaltet wurde. Die überarbeiteten Beiträge der Tagung sind in dem vorliegenden Aufsatzband versammelt.
Der inhaltliche Schwerpunkt der Beiträge liegt nicht allein auf der Rolle der Kirchen im Zusammenhang solcher Trauerfeiern. Vielmehr geht es um das Zusammenspiel unterschiedlicher Akteure: Im Fokus stehen die Kooperation von Staat und Kirche auf der einen und die Beteiligung unterschiedlicher Religionsgemeinschaften auf der anderen Seite. Außerdem kommt die große Zahl der Menschen in den Blick, die keiner Religion anhängen, aber doch in der Trauer und der Erschütterung mit allen vereint sind, die bei solchen Ereignissen zusammenströmen.
Dadurch rückt neben die theologische und liturgiewissenschaftliche Diskussion im engeren Sinn die Frage in den Vordergrund, »wie gesellschaftliches Zusammenleben angesichts sozialer, politischer und kultureller Unterschiede gelingen kann« (9), so der Mitherausgeber Benedikt Kranemann in seinem grundlegenden Einleitungsartikel. Gerade im Blick auf das notwendige »Zusammenstehen der Gesellschaft in der Situation der Katastrophe« (11) stelle sich die Frage, wie dies durch rituelles Handeln unterstützt werden könne und was die angemessene Form sei, um der öffentlichen Trauer Ausdruck zu verleihen. Fast selbstverständlich sind es in der Gegenwart die kirchlichen Akteure, die entsprechende Trauerfeiern wesentlich gestalten, sind es meist Kirchenräume, in de­nen solche Feiern stattfinden. Trotzdem besteht die Erwartung einer Offenheit für alle Menschen, die vom Unglück betroffen sind. Nicht die »üblichen normativen« (11), sondern situative Gesichtspunkte, so Kranemann, seien leitend für die Betrachtung der entstehenden Fragestellungen. Handlungsorientierend müsse hier der diakonische Anspruch von Kirchen und Liturgie sein.
Die Aufsätze vereinen interdisziplinäre Überlegungen zum Themenfeld. Beteiligt sind neben Theologen und Theologinnen ein Politikwissenschaftler und ein Staatskirchenrechtler. Außerdem schreibt zum Umgang mit der Erfurter Katastrophe die Direktorin des Gutenberg-Gymnasiums, Christiane Alt, über die bis in die Gegenwart reichende Trauer- und Gedenkarbeit der Schule. Ergänzend tut dies Brigitte Benz. Der Pilot und Theologe Markus Hoffmann gibt ein Interview über die Gedenkfeiern, die auf den vorsätzlich herbeigeführten Absturz der Germanwings-Maschine im Jahr 2015 folgten. So mischen sich in dem Band erfahrungsorientierte und wissenschaftlich-reflektierende Perspektiven.
Wiederkehrende Themen sind dabei u. a. die Frage, wie Staat und Kirchen – im Fall der Trauerfeiern verbunden in einer res mixtae, insofern die Interessen beider berührt sind, sie aber dennoch als eigenständige Akteure erkennbar bleiben müssen – miteinander kooperieren: Die rechtlichen Grundlagen dafür entfaltet Ansgar Hense, theologisch wird das Verhältnis reflektiert von Alexander Saberschinsky (katholisch) und Michael Meyer-Blanck (evangelisch). Herausfordernd für das kirchliche Handeln ist besonders der Beitrag von Alexander Thumfarth, der politikwissenschaftlich (und zugleich »grün« identifiziert) auf den Abschlussbericht der Kommission »Weltanschauungen, Religionsgemeinschaften und Staat« von Bündnis 90/Die Grünen rekurriert. Dabei hebt er auf die performative Dimension des Rituals ab. Dieses bringe ein »Wir« zur Darstellung, aber bilde eben darin auch die gesellschaftlichen Differenzen ab. Die »Botschaft der politisch-religiös Gemeinten und politisch-religiös Nicht-Gemeinten, der politisch-religiös Zugehörigen und der politisch-religiös Nicht-Zugehörigen […] wird sicher verstanden.« (86) Im Trauerritual gehe es auch um die Frage, wer in das gesellschaftliche »Wir« inkludiert ist. Religiöse Pluralisierung und Konfessionslosigkeit müsse deshalb auch in die Performanz des Rituals integriert sein.
Die abschließenden Beiträge von Winfried Haunerland, Jochen M. Arnold und Stephan Winter beschäftigen sich aus theologischer Sicht mit der Frage, ob multireligiöse Feiern eine Zukunftsperspektive darstellen – mit unterschiedlichem Ergebnis. Viele der angeschnittenen Probleme und Sichtweisen sind bekannt aus Überlegungen, die z. B. im Zusammenhang mit Gottesdiensten zum Schulanfang angestellt worden sind. Strittig ist insbeson-dere die Frage, welche Gebetspraxis über die Religionsgrenzen hinweg theologisch, aber auch im wechselseitigen Respekt vor dem Glauben der jeweils anderen Religionsgemeinschaften angemessen ist. Letztlich geht es dabei auch um das Verhältnis der gottesdienstlichen Praxis zum theologischen Nachdenken über diese Praxis. Verändern überzeugende Erfahrungen des gemeinsamen Gebetes auch das Nachdenken darüber? Das fragt Stephan Winter am Schluss seines Beitrags. Auf ähnlicher Spur schreibt Alexander Saberschinsky: »Wird Gottesdienst hier nicht zum theologischen Erkenntnisort für die theologische Diskussion?« (110)
Insgesamt liegt ein anregender Band zu einem politisch und theologisch wichtigen umstrittenen Problemfeld vor, das wohl leider auch in Zukunft bedeutungsvoll bleiben wird.