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Ausgabe:

April/2021

Spalte:

342-344

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Geiger, Michaela, u. Matthias Stracke-Bartholmai[Hgg.]

Titel/Untertitel:

Inklusion denken. Theologisch, biblisch, ökumenisch, praktisch.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2018. 310 S. m. 5 Abb. = Behinderung – Theologie – Kirche, 10. Kart. EUR 40,00. ISBN 9783170333772.

Rezensent:

Ralph Kunz

Inklusion gibt zu denken. Den Herausforderungen, die sich der sozialen Inklusion stellen, denkerisch zu begegnen, macht es zwingend, verwandte Diskurse zu verknüpfen, denkerische Brücken zu schlagen und die Debatten um Alterität, Diversität und Vulnerabilität kreativ zu bearbeiten. Der Titel des 10. Bandes der Reihe »Be­hinderung – Theologie – Kirche« ist Programm; der Untertitel verspricht noch mehr. Die Beiträge beleuchten Inklusion in theologischer, biblischer, ökumenischer und praktischer Perspektive. Die Herausgeberin und der Herausgeber begründen die interessante Anlage in einer gehaltvollen Einleitung.
Der erste Teil »Inklusion theologisch denken« (21–89) bietet Kompaktes und gut Verständliches zu den Themen »Menschenrecht« (Sigrid Graumann), »Vulnerabilität« (Heike Springhart) und »Heterogenität aus religionspädagogischer Perspektive« (Bernhard Grümme). Ein eigentliches Schwergewicht bildet der Beitrag des Herausgebers Matthias Stracke-Bartholmai »Unterbrechungen – Inklusion queer gedacht als Inspiration für den Gottesdienst« (57–89). S. votiert dafür, die Rede vom Gottesdienst als Unterbrechung genauer zu prüfen, »wenn Gottesdienst seiner normativen Dimension als ›eigentlich inklusiv‹ und als Unterbrechung und Rechtfertigungsgeschehen für alle jemals gerecht werden soll« (57). Mit Impulsen der Queer-Theorie gelingt es ihm, die Inklusionsdebatte zu bereichern, Normativitäten, die im Gottesdienst spielen, kritisch zu hinterfragen und vice versa die Rede der Unterbrechung queer-theologisch zu beleuchten. Aus der Verschränkung der Anliegen der Queer-Theologie und Inklusion leitet S. die Forderung ab, »in einer visionär offenen Haltung […] eine unverschämte Praxis« anzustreben. Die impulsreichen und theoriegeladenen Überlegungen verlangen Leserinnen und Lesern einiges an Kenntnissen der verschiedenen Diskurse ab. Interessant und innovativ ist die Koppelung mit der Perspektive der Unterbrechung, die S. von Lieven Boeve übernimmt: »Unter der Perspektive der Unterbrechung sind Identitäten als offene Erzählungen zu charakterisie-ren, die Raum lassen für unterschiedliche Repräsentationen, ohne ›selbst wieder zu regulatorischen Imperativen [zu] werden‹ – queer unterbricht ›Identitätspolitiken und Identitätsansprüche‹.« (64) Die im Anschluss an die Liturgische Theologie versuchte Einordnung praktischer Impulse der Unterbrechung als »inklusive Mo­mente« will die Vertreter liturgischer Ordnungen regelrecht herausfordern, über die Regeln der gottesdienstlichen Versammlung nachzudenken.
Ein eindrücklicher Beitrag im zweiten Teil des Bandes, »Inklusion biblisch denken«, stammt von Claudia Janssen (124–139). Sie nimmt in ihrer Auslegung des Summariums »Er kümmerte sich um alle Krankheiten und alles Leiden im Volk« (Mt 4,23) eine fundamentale Kritik von Dorothee Wilhelm auf. Wilhelm sieht in Heilungsgeschichten eine Art Wiederherstellungsstrategie am Werk, durch die das Abweichende – hier: der behinderte oder kranke Körper – normalisiert wird. Die Problematik, die Wilhelm anzeigt, ist inklusionstheoretisch relevant und brisant. Die Art und Weise, wie J. das Anliegen von Wilhelm aufnimmt und die problematische Tendenz zur Normalitätskonstruktion positiv überwindet, ist nach Meinung des Rezensenten beispielhaft für den Erkenntnisgewinn, den eine biblisch-theologische Perspektivierung der Inklusionsdebatte eintragen kann. Ausgehend vom Einspruch gegen (un­reflektierte) Auslegungen von Heilungsgeschichten im Neuen Testament, legt J. dar, inwiefern Heilungen gerade nicht als »Normalisierungsgeschichten« gelesen werden sollen. Die Verteidigung dieser Lesart ist notwendig. Denn der Verdacht ist nicht von der Hand zu weisen. Wenn »Krüppel«, »Lahme«, »Blinde« und »Taube« per Wunder gesund und gleichsam emporgeheilt werden, wird der Normalität der herrschenden Körpernormen ein religiöser Status verliehen. Ist der Verdacht zutreffend? Lässt sich eine Tendenz zur Normalisierung in den Wunderheilungen wiederfinden?
J. fragt anders. Es geht ihr um den richtigen Ansatz der Auslegung. Wie können Abwertungs- und Entwürdigungsmechanismen im Blick auf Menschen mit körperlichen und psychischen Einschränkungen vermieden werden? Gelingt es, mittels eines vertieften Verständnisses der Christologie und des jesuanischen Heilungsauftrages, andere Konzepte von Heilwerden und Gesundsein zu favorisieren? Wichtig ist für J., was im Summarium in Mt 4,23 über das heilende Wirken Jesu berichtet wird. »Er kümmerte sich um alle Krankheiten und alles Leiden im Volk.« Neben den Heilungserzählungen von Einzelnen (einem Blinden 8,1 ff.; einem Gelähmten 9,2 ff.; einem Stummen 9,32 ff.; einem Verkrüppelten 12,9 ff.) ist immer wieder von den Vielen die Rede, die die Hilfe Jesu suchten. Die Betonung der Vielen spiegelt den sozialgeschichtlichen Hintergrund der Zeit, in der das Matthäusevangelium verfasst wurde. Nach dem Jüdischen Krieg herrschte Not. Gewalt, Flucht, Hunger und Armut waren Alltag, die Menschen hatten eine Wut im Bauch. Die Gemeinde des Matthäus gehörte zu den Armen und lebte knapp am Rand oder sogar unter dem Existenzminimum. Die Unterernährung führte zu Mangel- und Infektionskrankheiten. Auch Behinderungen und Deformationen sind Folge der schlechten Lebensbedingungen. Das schlechte Wasser, der Müll und Seuchen schwächten die Widerstandskräfte. Erwachsene mit angeborenen Behinderungen gab es kaum. Die meisten körperlichen Einschränkungen kamen durch Unfälle oder Mangelernährung zustande oder die Behinderten waren Opfer von Gewalt. Es gibt also einen eindeutigen Zusammenhang zwischen Hunger, Armut und Krankheit.
Für J. eröffnet die sozialgeschichtliche Perspektive einen anderen Blick auf die Adressaten des Evangeliums. Krankheit und Behinderung waren eine Lebensrealität, die viele betraf. »Die Geschichten werden nicht aus der Perspektive sog. ›Gesunder‹ erzählt, die Krankheit und körperliche wie psychische Beeinträchtigungen als Abweichung von einer gesellschaftlichen Norm verstehen, die es zu beheben gelte.« (130)
Wenn man davon ausgeht, dass eine Mehrheit der Hörer des Evangeliums ums Überleben kämpfte, bekommt auch die Lehre Jesu eine andere Tragweite und Bedeutung. Der Begriff, den Matthäus für das heilende Wirken wählte, hat nicht nur die Bedeutung von »gesund machen«. Das Verb »therapeuein« lässt sich auch mit »sorgen für« oder auf Englisch mit »to take care of« übersetzen. Jesus (und seine Jünger) kümmerten sich um die Menschen. Sie heilten nicht am Fließband. Es geht in der Sorge für die Menschen, die krank oder beeinträchtigt sind, nicht immer um eine wundermedizinische Versorgung. Heilung muss also umfassender verstanden werden, als ein Geschehen, »das Körper, Seele und die Welt, in der die Menschen leben, betrifft« (132). In der Fürsorge Jesu ist der ganze Mensch im Blick, seine Beziehungen zu den Mitmenschen, zu sich selbst und zu Gott. »Im Kümmern drückt sich Anteilnahme für die Leiden aus, ein anteilnehmendes Beziehungsgeflecht entwickelt sich, das sich über die Begegnung zweier Menschen hinaus erstreckt.« (132)
Wenn man die heilenden Begegnungen als integrale Praxis der Fürsorge interpretiert, verschiebt sich der Fokus von der »Behandlung« eines Betroffenen zur Gemeinschaft derer, die miteinander durch das Heilshandeln ihres Herrn verbunden werden. Der Messias ist kein Solist. Jesus hat eine messianische Bewegung angezettelt, die dem Volk eine neue Würde und Rolle als Gottes Volk zuspricht. Für J. legt es sich daher nahe, diese Bewegung durch eine partizipatorische Christologie zu unterlegen. Sie beruft sich auf Luise Schott-roff und Dorothee Sölle, die in Jesus weniger den einsamen Helden als vielmehr einen Menschen sehen, »der mit anderen gemeinsam an der Heilung des Volkes – und der Völkerwelt – arbeitet« (136). Der Perspektivenwechsel ist entscheidend! Die Heilsstiftung wird im Kontext einer Heilungsgemeinschaft erfahrbar, in der die Kranken nicht als Objekte ausgestellt werden, sondern Subjekte werden! Heilung umfasst mehr als Reparatur, »Gesundung an Leib und Seele ist Teil eines umfassenden Heilungsgeschehens, Heilung und Heilwerden, das auch ohne Gesundwerden erfahren werden kann« (139).
Wenn Heilung als Sorge für die Vielen verstanden wird, ist auch der Leib Christi »als Gemeinde existierend« mit involviert. Im Sinne einer partizipatorischen Christologie ist der Messias immer dort gegenwärtig, wo Heilung geschieht und die Glieder seines Leibes – Kranke und Gesunde – zum Heil zusammenwirken. Präziser, biblischer und theologischer lässt sich nicht auf den Punkt bringen, was Inklusion ist.
Die ausführlichere Besprechung eines Beitrags will die Stärke dieses Bandes am Exempel ausweisen und soll nicht heißen, dass die anderen Beiträge keine Besprechung verdient hätten. Was sich bei S. und J. zeigen lässt, könnte auch bei den anderen Autorinnen und Autoren gezeigt werden: Wie anregend und aufregend inklusives Denken ist! Es methodisch fundiert und systematisch reflektiert zu pflegen, bereichert die Theologie. Man hofft auf eine kontinuierliche Inklusion dieser Denkart in allen Disziplinen.