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Ausgabe:

April/2000

Spalte:

448 f

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Meier, Andreas

Titel/Untertitel:

Jugendweihe - JugendFEIER. Ein deutsches nostalgisches Fest vor und nach 1990.

Verlag:

München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1998. 275 S. 8. ISBN 3-423-30595-9.

Rezensent:

Raimund Hoenen

A. Meier untersucht das Phänomen der vorwiegend in den ostdeutschen Ländern "boomenden Jugendweihe" (7 ff.) in einer dreiteiligen Abhandlung mit jeweiligen Anmerkungen.

Der 1. Teil behandelt die "Familienfeier Jugendweihe/JugendFEIER: Ein Erbe der DDR in Ostdeutschland seit der ,Wende’ 1989/90". Nachdem zwei Generationen, davon die letzte fast vollständig, die Jugendweihe in der DDR erlebt haben und zu einem großen Teil als Konfessionslose ohne Beziehung zu den Kirchen und der Konfirmation bzw. Firmung sind, blieb deren Bedürfnis nach einer Familienfeier für die 14-Jährigen in Fortsetzung der Jugendweihepraxis weiter bestehen. Als Veranstalter bieten sich neben Initiativgruppen von Eltern und Lehrern in erster Linie die "Interessenvereinigung für humanistische Jugendarbeit und Jugendweihe" (IVJ) an, die die Arbeit des 1990 aufgelösten Zentralen Ausschusses für Jugendweihe der DDR und seiner weiteren Ausschüsse fortsetzt, mit weitaus geringerem Anteil der aus freidenkerischen Traditionen stammende, 1993 bundesweit gegründete "Humanistische Verband Deutschlands. Interessenorganisation Konfessionsloser" (HVD). Beide Anbieterorganisationen verzichten auf eine verpflichtende Vorbereitung, auf ein Gelöbnis der Jugendlichen und verbindliche Verpflichtungen, wie sie pubertäre Übergangsriten in der Regel kennen. Um den religiösen Charakter einer Weihe zu vermeiden, lädt der HVD zu einer alternativen "JugendFEIER" als Teil offener Jugendarbeit ein. Meier zeigt auf, dass sowohl die Jugendweihen wie die JugendFEIERN konturenlos, inhaltlich leer und im Blick auf die Jugendlichen distanziert gestaltet sind. Sie sind für die "ostdeutsche Erinnerungsgemeinschaft" unkritisch übernommene Geschenk- und Familienfeiern, nach S. Freud ein ",Fehlgehen des Erinnerns’ in Deckerinnerungen" (83).

In einem zweiten kurzen Teil weist M. nach, dass den Jugendweihen die entscheidenden Elemente eines Übergangs- bzw. Passageritus fehlen, die (nach van Gennep, Eliade) für den Ritus des Wechsels von der Adoleszenz zum Erwachsenenalter (Initiation/Pubertät) nötig sind: Trennung vom bisherigen Status, Umwandlung und Übergang/Angliederung an einen neuen Stand. Die Bräuche archaischer Gemeinschaften sind mit dem Leben in modernen pluralistischen Gesellschaften unvereinbar (94). Taufe und Firmung/Konfirmation haben im Christentum die Funktion von Übergangsriten übernommen. Die Jugendweihe ist in den freireligiösen Gemeinden in Deutschland als Ersatzhandlung zu der dominierenden volkskirchlichen Tradition entstanden. Ideologisch gestützte Machtansprüche wollten verdecken, dass der Eindruck eines religiösen Ritus aufgehoben werden soll.

Der dritte historische Teil interpretiert die 150-jährige Geschichte der Jugendweihe: das Aufkommen in der freigeistigen Bewegung seit Mitte des 19. Jh.s als "freireligiöse Konfirmation" bzw. aufklärerische Weihe zum Mensch-Sein. Die proletarische Jugendweihe veränderte sie in die Aufnahme in die politische Kampfgemeinschaft und gab dem Atheismus den Charakter einer religiösen Partei. M. knüpft an die Untersuchungen Hallbergs an (Die Jugendweihe, 1977, 21979). Er verstärkt dessen These vom aufklärerischen Charakter der Jugendweihe, so dass "die Wiedergeburt der Weihegedanken am Ende des 18. Jh.s" als "deutliches Beispiel der Säkularisierung eines zentralen kirchlichen Begriffs" gedeutet werden kann (103, zit. Hallberg, 31). Die Nationalsozialisten gingen auf Distanz zu religiösen und kirchlichen Praktiken und machten die Jugendweihe zu einer "Verpflichtungsfeier" der Jugend auf den Führer. Der völkische Gedanke lebte nach 1945 in kleinen unitarischen Gruppen mit der "Jugendleite" fort. Ebenso lehnte die DDR 1950 Jugendweihen, auch deren proletarische Tradition, wegen ihres kultisch-religiösen Charakters und als Ersatzhandlungen zu kirchlichen Traditionen ab und versuchte die Schulentlassungsfeiern zu verstärken. Doch 1954 machte die SED und ihre Jugendorganisation FDJ sie zu einem staatlichen Anliegen und propagierte sie mit dem Anspruch an alle Jugendlichen des 8. Schuljahrs ab 1955. Unter gesamtstaatlichem Druck wuchs die Teilnehmerzahl kontinuierlich, 1970 auf 92,2 %, 1975 bis 1990 durchgängig auf ca. 97 % (216). M. stellt erstmals eindeutig die "Kehrtwendung der SED" in Zusammenhang mit den Ereignissen des 17. Juni 1953 und seiner Vorgeschichte (194), während der das ZK der KPdSU dem ZK der SED für ihre "wissenschaftlich-atheistische Propaganda" eine veränderte Strategie auferlegte: Durch Überzeugung seien die Massen zu gewinnen, nicht durch offensiven Kampf gegen die Kirchen! (226). Selbst die Blockparteien wurden von dem Kurswechsel nicht informiert; die SED initiierte den Zentralen Ausschuss für Jugendweihe und die Jugendweiheausschüsse auf allen organisatorischen Ebenen mit ihren Sekretariaten. In juristischer Grauzone organisierten die SED und die FDJ eine religiöse Ersatzhandlung, die für alle, auch für Christen, offen sein sollte - eine "freiwillige Verpflichtung", die zur Selbstverständlichkeit werden sollte (221). Die entscheidenden Elemente der Jugendweihefeier sind das Gelöbnis, die Ansprache und die Übergabe der Geschenkbücher und Jugendweiheurkunden (204); zehn verpflichtende Jugendstunden dienten der Vorbereitung, die von den Schulen durchgeführt wurden.

M. hebt hervor, dass der Verdrängungsmechanismus so stark ist, dass die Gewissenskonflikte religiös gebundener Lehrer und evangelischer Jugendlicher und ihrer Familien nicht mehr erinnert, Repressalien der Schulen und in der Berufsausbildung geleugnet werden (Freyer, 1996!). Die Jugendweihe der DDR war Ausdruck einer Virtualität, die einen Schulabschluss feierte, der noch bevorstand, eine sozialistische Gesellschaft und eine glückliche Zukunft propagierte, die nicht eingelöst wurden. M.s Untersuchung lässt keinen Zweifel, dass seit 1989/90 diese Vorstellungen bei den Jugendweihefeiern weiter mitschwingen, hält sie aber bei einer kritischen Auseinandersetzung mit der Jugendweihetradition nicht für zukunftsträchtig. M.s Untersuchung erschließt vergriffene und schwer zugängliche Literatur und zeigt in kritischer Analyse, belegt mit Beispielen, auf, dass Jugendweihe nicht allein aus dem Bedürfnis nach gestalteten Passageriten erklärt werden kann. Ausgeblendet ist die Sicht der Kirchen und ihr Anteil an der Entwicklung nach der Wende, so dass sogar einschlägige Literatur (Gandow, Neubert, Bloth, Degen u. a. bis 1997/98) nicht berücksichtigt ist.