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Ausgabe:

April/2021

Spalte:

326-327

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Rudersdorf, Kristin, Schomber, Saskia, u. Florian Sommerkorn [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Der Mythos vom Mythos. Interdisziplinäre Perspektiven auf das Mythische in Künsten und Wissenschaften. Beiträge des Gießener Studierendenkolloquiums vom 24. bis 26.04.2015.

Verlag:

Baden-Baden: Tectum Verlag (Nomos Verlagsgesellschaft) 2019. 214 S. = Beiträge des Gießener Studierendenkolloquiums, 5. Kart. EUR 32,00. ISBN 9783828841086.

Rezensent:

Benjamin Hasselhorn

Im politischen wie im wissenschaftlichen Diskurs ist ein vornehmlich pejorativer Gebrauch des Mythosbegriffs nach wie vor weit verbreitet. Wer etwas als »Mythos« deklariert, stellt damit den Wahrheitsgehalt des entsprechend Deklarierten in Frage. Mythen sind in dieser Perspektive Ausdruck falschen Bewusstseins, min-destens Irrtümer, meistens aber gar bewusste Manipulationen der Wahrheit. Im Hintergrund dieser Auffassung steht natürlich auch das aufklärerische Paradigma, nachdem der Erkenntnisweg menschlicher Vernunft »vom Mythos zum Logos“« geführt habe.
Daneben gibt es aber schon seit Längerem eine gewisse Renaissance des Mythos. Das betrifft sowohl den politischen Bereich – erwähnt seien hier nur die Versuche der Europäischen Union seit 2013, ein »New Narrative for Europe« zu schaffen, sowie die ausdrückliche Forderung Jan Assmanns von 2019, Europa brauche einen identitätsstiftenden »Mythos« –, als auch den wissenschaftlichen, wo nicht zuletzt vor dem Hintergrund der verschiedenen symbol- und kulturgeschichtlichen »Turns« ein neues Interesse an Mythen zu beobachten ist, das sich nicht in erster Linie der »Ent larvung« und »Dekonstruktion« von Mythen widmet, sondern ihrer Entstehung und ihren Wirkmechanismen verstehend auf den Grund gehen will.
In diesen Zusammenhang ist auch der Band »Der Mythos vom Mythos. Interdisziplinäre Perspektiven auf das Mythische in Künsten und Wissenschaften« einzuordnen. Die in diesem Band versammelten Beiträge eines Gießener Studierendenkolloquiums nähern sich dem Phänomen Mythos aus interdisziplinärer Perspektive. Naturgemäß sind die Beiträge daher uneinheitlich, gleichwohl aber äußerst anregend. Es wird keine einheitliche Begriffsdefinition vorgegeben, sondern am Ende des interdisziplinären Austauschs soll perspektivisch ein »integrativer Mythos-Begriff« (13) stehen.
Die Beiträge behandeln daher ganz Unterschiedliches, zum Teil nur lose über den Mythos-Begriff miteinander Verbundenes, und reichen von konzisen Einführungen in gängige Mythos-Theorien (Carsten Schmiederer) über die Mythos-Begriffe Platons, Nietzsches und Heideggers (Choong-Su Han) und Mythen der antiken Philosophie (Mihail-George Hâncu) und Religion (Jennifer Hartmann) bis zu politischen Mythen auf Wahlplakaten des 20. Jh.s (Nazim Diehl) und der Mythenschöpfung des Schriftstellers J. R. R. Tolkien (Robin Auer und Maria Krümpelmann). Manches bleibt leider unberücksichtigt, wie etwa die philosophische Mythosforschung der zweiten Hälfte des 20. Jh.s oder die Überlegungen Chiara Botticis zur Philosophie politischer Mythen, und ein gemeinsamer Arbeitsbegriff wäre sicherlich hilfreich gewesen. Auch wäre ein resümierender Schlussbeitrag wünschenswert gewesen, der einen ersten Ansatz für den avisierten integrativen Mythosbegriff hätte vorschlagen können.
Diese Monita schmälern die beachtliche Leistung des Bandes aber nicht, der zu weiterer Mythosforschung ermutigt und dessen Beiträge auf unterschiedliche Weise deutlich machen, dass Mythen – verstanden als sinnstiftende Erzählungen (um hier einmal einen integrativen Begriff vorzuschlagen) – auch in modernen und postmodernen Gesellschaften nicht verschwinden.