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Ausgabe:

April/2021

Spalte:

325-326

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Niemz, Markolf H.

Titel/Untertitel:

Die Welt mit anderen Augen sehen. Ein Physiker ermutigt zu mehr Spiritualität.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2020. 192 S. m. zahlr. Abb. Geb. EUR 20,00. ISBN 9783579062129.

Rezensent:

Rainer Eckel

Markolf H. Niemz, Professor für Medizintechnik an der Medizinischen Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg, verspricht in seinem Werk »Die Welt mit anderen Augen sehen. Ein Physiker ermutigt zu mehr Spiritualität« nicht weniger, als »Wissen und Glauben so zu vereinen, dass daraus ein schlüssiges Weltbild entsteht«. Seinen persönlichen Weg zur Lösung dieses Welträtsels beschreitet N., indem er das zu Verhandelnde in sechs Challenges aufteilt, die sich mit der scheinbaren Unvereinbarkeit elementarer Gegensatzpaare befassen: Die Herausforderung bestehe stets darin, die Identität dieser begrifflichen Gegensatzpaare zu erkennen, und jedes Kapitel schließt auch mit einem griffigen, stets chiastisch strukturierten Merksatz, der sich bemüht, dialektisch das Gegensätzliche, die »zwei Seiten der Medaille«, in einem beide umfassenden Begriff zu vereinen. Im Einzelnen behandelt werden: Raum und Zeit, Sein und Werden, Gut und Böse, Huhn und Ei, Schöpfer und Schöpfung sowie Liebe und Verständnis. Zahlreiche farbige Abbildungen sollen das Diskutierte veranschaulichen.
Im ersten Kapitel referiert N. zunächst knapp die Vorstellungen Newtons, Kants und Einsteins zu Raum und Zeit. Das Argument, dass Gehirne altern, man dies beobachten könne und Kants Zeit als »Vorstellung a priori« damit erledigt sei, verfehlt freilich die Pointe der KrV. Ähnliches gilt, wenn N. den Big Bang mit Hilfe des Energieerhaltungssatzes aushebeln möchte.
In der zweiten Challenge schreitet N. zur Hauptthese seines Werkes: Das Licht, so N., fungiere als Speicher alles Gewesenen, da es mit der Materie wechselwirkt und keine Eigenzeit hat, mithin in der Ewigkeit existiere (»Sein im Licht«). Das »Gedächtnis der Welt« wird von Körpern reflektiert, und die in dieser physikalischen Wechselwirkung enthaltenen Informationen werden so (für wen? R. E.) gespeichert. Abgesehen davon, dass das physikalisch nicht zutrifft (was ist mit absorbierten Lichtquanten, die N. selbst er­wähnt, was mit der Annihilation von Photonen, was mit mentalen Zuständen?), hätte man diesen nicht neuen Gedanken einer Art vierdimensionalen Gelees, der die Geschichte des Kosmos konserviert, auch einfacher, allgemeiner haben können – mit Spaemanns futurum exactum zum Beispiel –, aber leider um den Preis, dass dann die Nähe zur bekannten Licht-Metaphorik und -Mystik der Weltreligionen, die N. zitiert, abhandenkäme.
Als dritte Herausforderung präsentiert N. den Dualismus von Gut und Böse. Aus dem Scheitern von Leibnizens Theodicée folgert N., das Postulat der Allmacht Gottes fallen zu lassen. Anschließend werden kurz Laplacescher Dämon, Poincarés nichtlineare Dynamik (Chaostheorie) sowie Heisenbergs Unschärferelation gestreift, be­vor N. die Freiheit des menschlichen Willens gegen die klassische Deutung der Libet-Experimente zu verteidigen sucht. Problematisch ist aber das Fazit: »Gut und Böse sind zwei Seiten einer Medaille. Die Medaille heißt: Fortschritt.« Man stelle sich vor, diesen Satz ernsthaft auf COVID-19 oder Hiroshima anwenden zu wollen – oder auf die Shoah.
Die vierte Challenge (»Huhn und Ei«) referiert die Darwinsche Evolutionstheorie und gelangt zu dem Ergebnis, die Individualität des Menschen als illusorisch zu entlarven, da alle Exemplare der Gattung Homo schließlich ein genetisches Kontinuum bildeten. Auch David Hume, für den das »Ich« des Selbstbewusstseins sich in eine Folge von Sinneseindrücken auflösen ließ, wird bemüht. Kapitel 5 zieht Analogien zwischen Gen 1 und der Evolution, versucht Hawkings Argument gegen einen Schöpfergott zu entkräften und skizziert in groben Zügen die Whiteheadsche Prozessphilosophie als Kronzeugen für einen Pantheismus im Stile eines deus sive na-tura. Kapitel 6 schließlich verbindet metaphorisch die physikalischen Strukturebenen der Welt, die durch Kräfte zusammengehalten werden, und die Liebe. Hier stellt sich die Frage, worin dann die Analogie zu abstoßenden Kräften bestünde: Ist die schwache Kernkraft, die Neutronen zerfallen lässt, eine treffende Metapher für Hass? Für N. jedenfalls mündet alles in die Identität von Liebe und Verständnis. Die zugehörige Medaille ist für N. »Wahrheit« (?).
Wen diese mehr oder minder erfolgreich das Widerständige der Welt harmonisierende, monistische Methode an östliche Philosophie, so den Vedānta, Nāgārjuna oder den Daoismus erinnert, liegt keineswegs falsch: Die Advaita-Lehre sowie der unter Esoterikern vielbemühte Yīn-Yáng-Antagonismus finden explizite Erwähnung (mehr aber nicht).
Im Bonuskapitel zu Nahtoderfahrungen stellt N. zunächst – physikalisch korrekt – den »Searchlight«-Effekt vor, wonach bei Reisen mit sich immer mehr der Vakuum-Lichtgeschwindigkeit annähernder Geschwindigkeit die passierten Strukturen zunehmend gekrümmt erscheinen, bis man schließlich scheinbar in einen Tunnel voller Licht schaut. Dieser relativistische Effekt, so bemerkt N., gleiche erstaunlich der Beschreibung mancher Nahtoderlebnisse. Für N., der in Challenge Nr. 2 »Licht« und »Ewigkeit« in eins setzte, ist diese Ähnlichkeit kein Zufall. Ein kurzes Autoreninterview über Ewigkeit, Christentum und Glück runden das ganze Werk ab.
Stilistisch stört die bisweilen gewollt didaktische Diktion (»Kants Schriften sind nicht einfach zu lesen«, »Lesen Sie diese Seite einfach nochmal«). N. bemüht Metaphorik, wo sorgfältige philosophische Begriffsanalyse (dihaíresis) geboten wäre. Seine Ausführungen bewegen sich stets an der Grenze zwischen popular science und Lebenshilfe, ohne die Übergänge zu kennzeichnen. Als Erbauungsliteratur mag das Buch dem einen oder anderen Zeitgenossen gute Dienste leisten – wenn er N.s Prämissen, vor allem aber: seine Konklusionen zu teilen bereit ist.