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Ausgabe:

April/2021

Spalte:

323-325

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Lechner, Jörg-Johannes

Titel/Untertitel:

Anthropologie der Mystik. ›Mystik‹ und ›mystisches Erleben‹ im Kontext einer philosophischen Anthropologie.

Verlag:

Hamburg: Verlag Dr. Kovač 2020. 114 S. = Boethiana, 159. Kart. EUR 65,80. ISBN 9783339114105.

Rezensent:

Peter Zimmerling

Der Autor ist Dozent für das Fach Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Er hat neben katholischer Theologie und Musik bei Alma von Stockhausen Philosophie studiert. Der Haupttitel des Bändchens ist etwas missverständlich. Erst der Untertitel macht deutlich, worum es Jörg-Johannes Lechner geht: Er will keine Anthropologie in mystischer Perspektive entwickeln, sondern mystisches Erleben aus philosophischer Sicht beschreiben und einordnen. Sein Ziel ist eine Phänomenologie der Mystik bzw. mystischen Erlebens, wobei er sich, ausgehend von der phänomenologischen Methode Husserls, dezidiert jeglichen Urteils über den Wirklichkeitsgehalt mystischer Erfahrungen enthalten will.
Das Buch ist klar gegliedert und gibt in sieben Kapiteln auf relativ wenigen Seiten eine überblicksartige Orientierung über das weite Feld mystischen Erlebens. Im 6. Kapitel werden lediglich jeweils zwei Texte von drei berühmten Mystikern abgedruckt: vom spanischen Mystiker Johannes vom Kreuz, von Gertrud von Helfta und von Hildegard von Bingen als zwei Vertreterinnen der mittelalterlichen deutschen Mystik. Es ist mir nicht deutlich gewor-den, warum L. gerade diese, zugegebenermaßen klassischen, mystischen Texte ausgewählt hat. Das 7. und letzte Kapitel enthält das Literaturverzeichnis, unterschieden nach Monographien und Aufsätzen und Internetquellen. Dabei fällt auf, dass die Literaturauswahl nicht immer die wichtigste und erst recht nicht die neueste wissenschaftliche Literatur zum Thema enthält.
Im 1. Kapitel werden das Ziel der Untersuchung, die damit verbundenen Schwierigkeiten und die angewandte Methode offengelegt. Dabei betont der L. die Skepsis, die der Mystik gerade von Seiten der evangelischen Theologie begegnet. Leider wird Luther in diesem Zusammenhang pauschal als Gegner der Mystik charakterisiert, ohne dass auf die neueren Untersuchungen von Volker Leppin und Bernd Hamm eingegangen wird, die gezeigt haben, dass Luther vielmehr Vertreter eines neuen Typs von Glaubens-Mystik war, was gerade nicht mit pauschaler Ablehnung der Mystik gleichgesetzt werden darf. Zu Recht weist L. in diesem einleitenden Kapitel darauf hin, dass für den Erfolg der Mystikforschung entscheidend ist, dass sie die Phänomene gründlich kennenlernt, bevor sie sich der Frage nach deren Wahrheitsgehalt zuwenden sollte. Im 2. Kapitel wird zunächst der verwendete Mystikbegriff begründet. Dieser stammt ursprünglich aus den griechischen Mysterienkulten und meint – nicht anders als das allgemein verbreitete Mystikverständnis bis heute – das Sich-Abschließen des Menschen von der äußeren Sinneswelt, das Sich-Ausrichten auf das Numinose und den Geheimnischarakter des Erlebten. Im An­schluss wird im Schnelldurchgang die Geschichte der Mystik von ihren Anfängen in den hellenistischen Mysterienkulten über die Gnosis, das Neue Testament und den Neuplatonismus, ihren Vertretern in der West- und Ostkirche bis hin zur hinduistischen, buddhistischen und islamischen Mystik skizziert. Die Ausführungen bieten allerdings nicht mehr als einen lexikalischen Überblick der Hauptvertreter. Dabei fällt auf, dass die relativ ausführlichen Überlegungen zur protestantischen Mystik keinerlei Hinweise auf neuere Literatur bieten (auch nicht auf meine »Evangelische Mystik«). Die Abschnitte über nicht-christliche Mystikformen sind recht oberflächlich geraten.
Im 3. Kapitel wird die Mystik als »Lebensbewegung«, im 4. Kapitel als »Erkenntnisbewegung« dargestellt, wobei das 3. Kapitel seitenmäßig fast die Hälfte des Buches ausmacht. Es gelingt L. darin, die verwirrende Vielfalt mystischen Erlebens methodisch reflektiert zu ordnen. Dazu beschreibt er Antrieb, Weg und Ziel der Mystik. Am Anfang steht die Empfindung des Ungenügens im Hinblick auf das, was ist. Im Hinblick auf die mystischen Wege wird zwischen einem Natur- und einem Geschichts-Weg unter schieden, wobei Ersterer mehr oder weniger unabhängig von Inspirationen von außen gegangen wird, während der Weg der Geschichte inspiriert ist von der Lektüre mystischer Schriften. Die unterschiedlichen mystischen Stufen im Christentum und im Islam werden nebeneinandergestellt. Ohne Begründung wird be­hauptet, dass sie analog verlaufen würden. Das Ziel der Mystik, die unio mystica, wird in seinen verschiedenen Erscheinungsweisen (ekstatisch und nicht-ekstatisch) betrachtet und auch die unterschiedlichen Konsequenzen daraus für das weitere Leben werden thematisiert (Rückzug aus der Welt beispielsweise ins Kloster oder Engagement in der Welt). Das 4. Kapitel widmet sich der Erkenntnisseite mystischen Erlebens. L. bestimmt die mystische Erkenntnisbewegung in zweifacher Hinsicht: als »Einheitsschau« im Hinblick auf die umgebende Welt und als »Selbstversenkung« im Hinblick auf die Innenschau. Im nur vier Seiten umfassenden 5. Kapitel wird ein Resümee der Untersuchung in Form von fünf Thesen gezogen, die in folgender Definition von Mystik münden: »Mystik ist eine Lebensanschauung und Lebensführung, die in unserem menschlichen Dasein in dieser Welt Berührungen mit dem göttlichen Urgrund in geheimnisvoller Weise zu erfahren glaubt und die in solcher Berührung zugleich die letzte Sinnerfüllung dieses Daseins findet.« Trotz der genannten Schwächen vermittelt das Buch immerhin einen instruktiven ersten Überblick zum Thema Mystik. Entschieden zu hoch ist der Preis des kleinen Bändchens.