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Ausgabe:

April/2000

Spalte:

445–447

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Comenius-Institut [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Christenlehre und Religionsunterricht. Interpretationen zu ihrer Entwicklung 1945-1990.

Verlag:

Weinheim: Deutscher Studien Verlag 1998. XVI, 290 S. gr.8. Kart. DM 58,-. ISBN 3-89271-835-0.

Rezensent:

Michael Domsgen

Dass Religionspädagogen über Christenlehre und Religionsunterricht nachdenken, ist geradezu eine Selbstverständlichkeit. Wenn Erziehungswissenschaftler dies tun, dann signalisieren sie damit, dass das Thema "Glaubenserziehung in der Säkularität" sich für die Erziehungswissenschaft auch heute nicht von selbst erledigt und der Religionspädagogik nicht alleine überlassen werden kann. Davon geht auch der vom Comenius-Institut herausgegebene Aufsatzband aus. Gleich eingangs wird betont, dass "die Auseinandersetzung mit Religion Aufgabe der Erziehungswissenschaft insgesamt" (VII) ist, denn trotz allen Gestaltwandels ist Religion "nach wie vor ... virulent" (VIII).

Im ersten Teil des Bandes legen die beiden Berliner Pädagogen Gerhard Kluchert und Achim Leschinsky eine Analyse der religionspädagogischen Entwicklungen in Ost- und Westdeutschland zwischen 1945 und 1989 vor. Dabei erfolgt zuerst unter Beschränkung auf den "christlichen Glaubensunterricht" (d. h. evangelischer Religionsunterricht und Christenlehre) eine getrennte Untersuchung für die beiden Teile Deutschlands, um so die Voraussetzungen für eine vergleichende Betrachtung zu schaffen. Hier konstatieren die Autoren "überraschende Parallelen", die sich "auf Art und Stoßrichtung der religionspädagogischen Diskussion während der 40er und 50er Jahre, auf Wendepunkte der Entwicklung, insbesondere die Scheiteljahre für die entscheidende religionspädagogische Umorientierung sowie schließlich auf die Richtung, die die religionspädagogische Entwicklung in Ost und West generell genommen hat" (95), beziehen.

Unter der Umorientierung verstehen sie die Tendenz, "von biblisch-traditionellem Unterricht und Verkündigungsanspruch hin zu Schülerorientierung und Thematisierung aktueller Bezüge zu gelangen" (ebd.). Einen entscheidenden Grund für die parallelen Entwicklungen sehen sie in "intensiven persönlichen Kontakten" (96). Gleichzeitig ist es ihrer Meinung nach jedoch "keineswegs unberechtigt, den Ursprung der Öffnung religionspädagogischer Konzeptionen in Ost und West in der Tradition evangelisch-christlichen Denkens selbst zu suchen" (ebd.).

Neben diesen Übereinstimmungen gibt es aber auch "ausgeprägte Unterschiede" (ebd.), die vor allem im Verhältnis zur Schule sichtbar werden. In der stärkeren Verbindung zur Gemeinde und der größeren Distanz zur Schule innerhalb der ostdeutschen Katechetik sehen die Autoren nicht nur eine durch die religionsfeindliche Politik des Staates erzwungene (Rückzugs-)Reaktion, sondern eine richtungsweisende Antwort auf die Entkirchlichung der Gesellschaft. Ihrer Meinung nach ist im Osten Deutschlands "den Herausforderungen einer säkularisierten Gesellschaft ... offener und mutiger begegnet worden - auch mit der Konsequenz, daß man sich von bestimmten Traditionen und Institutionen entschiedener getrennt hat" (98). Wie die Entwicklung in Westdeutschland zeige, gerate der konfessionelle Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach in eine immer schwierigere Situation "und er vermag immer weniger der mit Säkularität und Pluralität gegebenen Situation gerecht zu werden" (99).

Abgesehen von allen damit verbundenen juristischen Problemen wäre nach Kluchert und Leschinsky deshalb "die Trennung zwischen einem nicht an Bekenntnisse und Weltanschauungen gebundenen ,allgemeinen’ Religionsunterricht und einer von den jeweiligen Glaubensgemeinschaften auf freiwilliger Basis auszurichtenden Glaubensunterweisung ... der Schule, den Schülern wie der Sache der Religion in dieser Situation wohl dienlicher" (ebd.).

Dem Analyseteil folgen Kommentare, in denen zuerst vier ostdeutsche Theologen zu Wort kommen. Aus der "Innenperspektive" (117) betont Dieter Reiher, dass sich der pädagogische Ansatz der Christenlehre "weitgehend als Alternative zum schulischen Religionsunterricht, aus seiner Konfliktgeschichte heraus später auch als Alternative zur Schulpolitik der DDR" (117f.) verstanden habe. Gleichzeitig jedoch könne "nicht von einer ,Wendung gegen die weltliche Pädagogik’ (so Kluchert in der Analyse; M. D.) die Rede sein" (122). Vielmehr fand eine intensive Auseinandersetzung damit statt, aus der heraus man sich für bestimmte Perspektiven entschieden habe. An ein Beispiel für diese Auseinandersetzung erinnert Götz Doyé, indem er auf den Beitrag der Kommission für Kirchliche Arbeit mit Kindern und Konfirmanden zum IX. Pädagogischen Kongress im Juni 1989 zu sprechen kommt und dabei verdeutlicht, dass dies nur möglich war, "auf dem Hintergrund einer langen inhaltlichen Auseinandersetzung mit Schule und Bildung" (145). Für die Kirchen war es nicht leicht, auf die Defizite öffentlicher Bildung konzeptionell zu reagieren "und in ihren Katechumenatstraditionen naheliegende ,Verinnerkirchlichungen’ und Vernischungsgefahren aufzubrechen" (167). Welche Provokation letztlich in der Formel von der "Kirche im Sozialismus" steckte, führt Roland Degen aus. Franz Georg Friemel schließlich ergänzt die auf den evangelischen Raum konzentrierten Darlegungen aus katholischer Sicht, indem er von der katechetischen Arbeit der katholischen Kirche unter den extremen Diaspora-Bedingungen berichtet.

Der These von Kluchert und Leschinsky, dass sich parallele Entwicklungen in Ost und West aufzeigen lassen, gehen Jürgen Henkys und Friedrich Schweitzer in einem Gespräch nach, das "Impulse geben" soll "für weitere historische und systematische Untersuchungen" (185). Ulrich Becker berichtet von den Einflüssen der Ökumene in der Entwicklung der Christenlehre und verifiziert so Klucherts Anmerkung, der hier von einer unübersehbaren Bedeutung gesprochen hatte.

Ganz grundsätzlich wird Karl Ernst Nipkow, indem er der Frage nachgeht, ob die "Schule heute überhaupt noch Sinn für Religion in Gestalt einer bestimmten Religionsgemeinschaft" (214) hat. Der eingangs zitierten Empfehlung der beiden Autoren zur Trennung zwischen allgemeinem Religionsunterricht und Glaubensunterricht widerspricht er heftig, denn "Religion ist immer konkrete, bestimmte Religiosität" (222).

Auf dieser Linie argumentiert auch Werner Simon, indem er die Entwicklungen der westdeutschen katholischen Religionspädagogik aufzeigt und zu dem Schluss kommt, dass der konfessionelle Religionsunterricht "der Realisierung demokratischer und grundgesetzlicher Freiheitsrechte" (232) diene. Hans Hermann Wilke plädiert auf dem Hintergrund des "Berliner Modells" für eine "Fächergruppe". Schließlich gehe es darum, "dem religiösen Pluralismus in der Schule angemessen Rechnung zu tragen, indem verschiedene religiöse Traditionen in ihrem je spezifischen lebendigen Profil ihren legitimierten schulischen Ort bekommen" (253).

Am Ende des Buches steht eine von Roland Degen erarbeitete und von Hans Georg Friemel, Werner Simon sowie Christoph Th. Scheilke ergänzte Zeittafel zu den Entwicklungen von Christenlehre und Religionsunterricht zwischen 1945 und 1990. Insgesamt gesehen liefert dieser Band viele Impulse zur vertieften Auseinandersetzung mit dem Problem Christenlehre und Religionsunterricht. Seine Stärke liegt in der Bündelung unterschiedlicher Sichtweisen. Christoph Th. Scheilke schreibt in seinem Vorwort, dieses Buch wolle zur Fortsetzung des Dialogs über Glaubenserziehung in der Säkularität einladen. Es ist sehr zu wünschen, dass sich viele Leserinnen und Leser davon inspirieren lassen.