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Ausgabe:

April/2021

Spalte:

318-320

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Zeller, Kinga

Titel/Untertitel:

Luthers Schriftverständnis aus rezeptionsästhetischer Perspektive. Eine Untersuchung zu Anknüpfungspunkten, Transformationsmöglichkeiten und bleibenden Differenzen.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2020. 242 S. = Arbeiten zur Systematischen Theologie, 15. Geb. EUR 48,00. ISBN 9783374064182.

Rezensent:

Albrecht Beutel

Die vorliegende, von Bo Kristian Holm betreute, erfreulich feingliedrig disponierte Dissertation Kinga Zellers entstand an der Universität Aarhus im Rahmen des dort installierten »Program for Theology, History of Ideas and Philosophy«. Sie möchte prüfen, inwiefern »die Motive und Intentionen des lutherischen sola scriptura […] mit rezeptionsästhetischen Texttheorien in Verbindung gebracht werden können« (25). Das implizite rezeptionsästhetische Potential von Luthers Sprach- und Bibelverständnis ist schon mehrfach untersucht worden, zumal 1999 von Hans-Ulrich Gehring, dessen Arbeit Z. zwar kennt, jedoch nicht als einen Hauptgesprächspartner heranzieht.
Zwei Drittel des Buches handeln von Luthers Schriftverständnis. Dieses wird zuerst in einem bis zu den Werken von 1528 führenden chronologischen Durchgang »rekonstruiert« (25 u. ö.), wobei die Erkundung des für Luthers Prinzipienbegriff einschlägigen »denktheoretische[n] Hintergrund[s]« (49) von Aristoteles über Albertus Magnus, Thomas von Aquin und Duns Scotus bis zu Wilhelm von Ockham einen instruktiven Exkurs darstellt. Daraufhin sucht Z., indem sie den historischen Stoff in systematisch-theologischem Zugriff »aufbereitet« (25), »eine Vergleichsfolie zu schaffen, auf die […] Einsichten aus rezeptionsästhetischen Texttheorien bezogen werden können« (29). Diese duale Erhebung gibt die Entwicklung und das oszillierende Profil der Auffassung Luthers insgesamt korrekt wieder, auch wenn sie erwartungsgemäß kaum neue Einsichten generiert. Die Textwelt des Reformators ist Z. wohl vertraut, und die Leserschaft wird dankbar begrüßen, dass die Übersetzungen lateinischer Quellentexte, sofern möglich, aus der Lateinisch-Deutschen Studienausgabe bezogen sind. Allerdings scheint die Verwendung der breit herangezogenen einschlägigen Lutherforschung ein wenig darunter zu leiden, dass thematisch oder intellektuell marginale Beiträge bisweilen übergewichtet und manche zentralen Studien eher randständig berücksichtigt werden.
Das dritte Kapitel erkundet »Rezeptionsästhetische Anschluss- und Transformationsmöglichkeiten für ein lutherisches Schriftverständnis« (154–224). Nach einleitenden texttheoretischen Problemanzeigen erhebt Z. Wolfgang Isers Studie »Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung« (21984) zum Leitmodell ihrer Überlegungen, von dem aus die Möglichkeiten und Grenzen einer Vermittelbarkeit mit Luthers Ansatz differenziert erhoben werden. In der summarischen Auswertung ihrer Ergebnisse hält Z. fest, »dass im Rahmen einer rezeptionsästhetisch orientierten Schriftlehre trotz bleibender Differenzen wesentliche Gedanken und Anliegen des Reformators eingeholt und fortgeführt werden können« (228). Damit soll die Möglichkeit eröffnet sein, auch in der »nachaufklärerische[n], spät- bzw. postmoderne[n] Diskurslage« (ebd.) die lutherische Traditionsprägung in reflexiv verantworteter Anverwandlung festzuhalten und fruchtbar zu machen. Dergestalt dürfte die vorliegende Untersuchung zwar kaum für die historische Lutherforschung, jedoch unverkennbar für die aktuelle systematische Vergewisserung einer gegenwartskompatiblen biblischen Hermeneutik aufschlussreich und anregend sein.
Einzelne Wendungen der Arbeit könnten rezeptionsästhetische Schwierigkeiten bereiten, so etwa die Feststellung, Luthers Schriftverständnis müsse als »historisch unhaltbar angesehen werden« (137) – gemeint ist wohl, es lasse sich heute nicht mehr ungebrochen vertreten. Die wenigen formalen Versehen fallen nur bei der vereinzelten Fehlschreibung von Eigennamen ins Gewicht (so muss es z. B. in Anm. 49 Christopher Spehr, in Anm. 85 u. ö. Matthias Mikoteit heißen). In Anm. 615 wird ein Satz aus der Forschungsliteratur fehlerhaft wiedergegeben und daraufhin mit einem irreführenden »[sic]« versehen. Für das nicht ganz vollständige Literaturverzeichnis (229–242) hätte sich eine Unterscheidung von Quellentexten und Forschungsbeiträgen empfohlen, zumal es etwas putzig aussieht, wenn dort Luther zwischen Johannes von Lüpke und Inge Lønning oder Schleiermacher zwischen Otto Scheel und Martin Schloemann zu stehen kommt.