Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/2021

Spalte:

307-309

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Lässig, Maximilian

Titel/Untertitel:

Radikale Aufklärung in Deutschland. Karl von Knoblauch, Andreas Riem und Johann Christian Schmohl.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2020. VIII, 584 S. = Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung, 64. Geb. EUR 119,95. ISBN 9783110693058.

Rezensent:

Albrecht Beutel

Diese Untersuchung von Maximilian Lässig wurde im Sommer 2018 an der Universität Trier als geschichtswissenschaftliche Dissertation angenommen. Anhand von drei wenig bekannten Protagonisten verfolgt sie das Ziel, »einen Beitrag zur Abrundung der Geschichte der […] Aufklärung im deutschsprachigen Gebiet in ihrer radikalen Ausprägung zu leisten« (12). Dieser Beitrag erstreckt sich, gestützt auf eine in erstrebter Vollständigkeit erhobene, be­eindruckend breite Quellenbasis, auf annähernd 600 eng be­schriebene Seiten. Zu besserer Orientierung wäre es förderlich gewesen, das sehr kurze Inhaltsverzeichnis (VII f.) um die zahlreichen nicht bezifferten Zwischenüberschriften zu bereichern.
Nach der »Einführung« (1–15) bietet L. als zweites Kapitel eine sehr gründliche, jeweils zwischen Forschungsüberblick und Biographie unterscheidende Präsentation der drei ausgewählten Personen (16–104). Der anhaltinische Bauernsohn Johann Christian Schmohl (1756–1783) studierte in Wittenberg Theologie, unterrichtete danach kurz am Philanthropinum in Dessau, ging aber alsbald auf Bildungsreise in den Südwesten des Reiches und die Schweiz, was ihm die persönliche Bekanntschaft mit Isaak Iselin, Johann Heinrich Pestalozzi und Johann Jakob Bodmer eintrug. 1780 nahm er in Halle das Jurastudium auf, musste aber wenig später die Flucht ergreifen und reiste unter falschem Namen und auf kaum mehr zu erhellenden Wegen durch halb Europa, bevor er die Überfahrt nach Nordamerika antrat, während der er wahrscheinlich über Bord gegangen, jedenfalls aber gestorben ist.
Der dem hessischen Uradel entstammende, in Dillenburg geborene Karl von Knoblauch (1756–1794) studierte auf der Hohen Schule zu Herford Philosophie und Mathematik, anschließend Jurisprudenz in Gießen und Göttingen, wo er in Georg Christoph Lichtenberg einen ihn prägenden Denker der Aufklärung fand. Auf seiner hernach in Dillenburg vollzogenen Laufbahn brachte er es bis zum Justizrat. Daneben fand sich Muße für eine umfängliche philosophische Schriftstellerei (allein 18 Monographien!), die, obschon insgesamt eher zurückhaltend rezipiert, eine große thematische Bandbreite aufwies. Die Mitgliedschaft in der von Carl Friedrich Bahrdt gegründeten Korrespondenzgesellschaft »Deutsche Union« beendete Knoblauch schon nach wenigen Monaten, dies freilich nicht aufgrund positioneller Differenzen, sondern weil er seine Privatsphäre durch die Veröffentlichung der Mitglieder-listen bedroht sah.
Als Randfigur der Neologie hat der aus dem pfälzischen Frankenthal stammende Andreas Riem (1749–1814) eine gewisse Bekanntheit erlangt. Nach dem Studium der Philosophie und Theologie in Heidelberg übernahm er 1772 eine Hauslehrerstelle in der Uckermark und begann bereits dort, erste Romane zu schreiben. Wenig später wurde er reformierter Prediger in Friedrichswalde und widmete sich nun auch der aufklärungsphilosophischen Essayistik. Ab 1782 wirkte er als Pfarrer, Freimaurer und Gast des von Henriette Herz geführten Salons in Berlin, womit sich wiederum intensive publizistische Aktivitäten (u. a. »Berlinisches Journal für Aufklärung«) verbanden. Durch freimütige Äußerungen kam er in der Ära Woellner mit dem preußischen Staat in Konflikt, der ihn zwar das Amt, aber nicht die radikalaufklärerische Schriftstellerei aufgeben ließ. Erst 1795 wurde er des Landes verwiesen und führte fortan ein unstetes, durch Mittel- und Westeuropa führendes Wanderleben.
Diese drei Biographien sind jeweils besonderer Art, freilich im Horizont des 18. Jh.s kaum einzigartig oder exzeptionell. Insofern hätte man gerne genauer erfahren, weshalb L. ausgerechnet diese und nicht beliebige andere Protagonisten der »radikalen Aufklärung in Deutschland« für seine Untersuchung ausgewählt hat. Jedenfalls wäre für seine kargen Hinweise, die drei Männer seien um 1750 geboren, als Aufklärungsschriftsteller hervorgetreten und durch ihre Publikationstätigkeit in Bedrängnis geraten, zusätzliche kriteriologische Plausibilisierung zu wünschen gewesen.
Das umfangreichste dritte Kapitel (105–521) sucht in vierfachem thematischen Zugriff »radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer« zu eruieren, wobei die Religionskritik (105–247) an erster Stelle firmiert. Hier bringt L. in sehr ausführlichem Referat die einschlägigen Schriften der Autoren zur Darstellung. Was dabei ansichtig wird, ist insgesamt wenig überraschend. So votiert man übereinstimmend schonungslos gegen Aberglauben, religiöse Intoleranz und Vorurteile jeglicher Art. Binnendifferenzen zeigen sich etwa darin, dass Knoblauch in polemischer Tönung einen grundlegenden Widerstand gegen die Religion artikuliert, während Riem sich vor allem detaillierter Bibelkritik zuwendet, darüber hinaus aber auch die jüdische Religion attackiert. Als besondere Zielscheibe der Kritik begegnet der Teufels- und Hexenglaube, der, ohne dass dabei seine reale Präsenz im 18. Jh. vermessen würde, deshalb so gefährlich erscheine, weil er zu politischer Instrumentalisierung missbraucht werde und die religiös-moralische Selbsterkenntnis behindere (vgl. 126 f.). Selbstverständlich gerät auch und erst recht der christliche Wunderglaube in das kritische Visier der Autoren, die überdies die Theodizee-Problematik zur antireligiösen Munitionierung benutzen und, zumal in Gestalt Riems, sogar der ursprünglichen Lehre Jesu jede Vereinbarkeit mit vernünftiger philosophischer Religion absprechen (vgl. 163). Zusammenfassend konstatiert L. eine »konsequente Missachtung theologischer Autorität« (246), den eklektischen Zuschnitt der vorgetragenen Religionskritik sowie eine radikale Individualisierung der nicht mehr verallgemeinerungsfähigen moralischen Verbindlichkeit. Wenn sich bei der Lektüre dieses Teilkapitels der Eindruck mangelnder Originalität aufdrängt, so wird dies von L. redlicherweise auch explizit bestätigt, indem er ausdrücklich und mehrfach die unmittelbaren Abhängigkeiten von klassischen Repräsentanten der aufklärerischen Religionskritik wie Spinoza, Hume, Locke, Diderot oder Kant aufweist, bei denen man, was L. allerdings nicht hinzufügt, das Dargestellte zumeist wesentlich präziser und pointierter zu lesen vermocht hatte.
Auch hinsichtlich der »Soziale[n] Verhältnisse« (248–364) äußern sich die inspizierten Autoren ausführlich, aber wenig originell. Differenzen scheinen etwa in der Frage auf, ob die gängige frühneuzeitliche Klimatheorie alle (so Riem) oder jedenfalls viele (so Schmohl) Unterschiede zwischen den Menschen und Völkern erklären könne. Aufschlussreich ist die übereinstimmende Ablehnung der Drei-Stände-Ordnung, da sich, wie Knoblauch argumentiert, die gesellschaftliche Ungleichheit nicht auf Geburt oder Besitz, sondern allein auf Begabung und Bildung stützen dürfe. Das Postulat einer Gleichberechtigung der Juden wird vehement vorgetragen, während sich ein Interesse an der Gleichberechtigung der Geschlechter kaum zu erkennen gibt. Bezüglich des »Wirtschafts- und Handelssystems« (365–397) votieren die Autoren ge­treu der von Adam Smith gezogenen Spur: für Handelsfreiheit und gegen kameralistische Intervention. Riem zeigt sich darin relativ eigenständig, dass er ein steuerfreies Existenzminimum für die Ärmsten fordert sowie den fiskalischen Zugriff auf Kapitaleinkünfte. Was schließlich die »Politische Ordnung« (398–521) betrifft, so spielt dabei vor allem die Einschätzung der Französischen Revolution eine Rolle, deren fatale Folgen wie Rechtsunsicherheit oder Instanzenverlust schon früh erkannt und analysiert werden. Zu anderen politischen Fragen scheinen klare Befunde kaum möglich zu sein, was sich in der jetzt überaus behutsam werdenden Diktion L.s widerspiegelt, man »scheint« etwas »gedacht zu haben«, es lasse sich etwas »erahnen«, es könne »aufgrund von Indizien« auf etwas »geschlossen werden«, und »im Bezug auf das Aussehen und die Struktur eines idealen Staates wären sich vermutlich alle drei Autoren nicht einig geworden« (518 f.).
Dergestalt hat L. drei Randfiguren der deutschen Aufklärung erstmals tiefenscharf kenntlich gemacht. Die Souveränität, in der er die ihm zu Gebote stehende gesamte schriftliche Hinterlassenschaft dieser Figuren (Quellenverzeichnis: 547–560) darstellt und analysiert, erheischt ungetrübte Bewunderung. Demgegenüber fallen im interdisziplinären Ausgriff gelegentlich Schwächen auf. Die theologiegeschichtliche Erforschung der Neologie ist inzwischen so weit vorangeschritten, dass man sich schwerlich mit den notgedrungen pauschalen Hintergrundinformationen des allgemeinen, in seiner Art freilich vorzüglichen (vgl. ThR 112 [2016], 300 f.) Lehrbuchs von Andreas Holzem begnügen muss. Das Konzept der Privatreligion repräsentiert nicht etwa eine »Sturm-und-Drang-typische« (237) Denkfigur, sondern ein konstitutives Kernelement der gesamten deutschen Aufklärungstheologie. Und in seiner berühmten »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« ruft Kant die Menschen keinesfalls für jegliche (vgl. 2), sondern nur für ihre »selbstverschuldete« Unmündigkeit in die Verantwortung.
Als schwierig erscheint insbesondere die unzureichende Bestimmung dessen, was das eigentlich Radikale an der »radikalen Aufklärung« ausmachen soll. Einerseits definiert L. im Sinne der berühmten Formel Kants, die gegenwärtige Epoche sei »das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß« (3), eine Haltung dann als »radikal«, wenn »der jeweilige Aufklärer die Religion vorbehaltlos und ergebnisoffen untersucht« (246). Andererseits aber konstatiert L., seine drei Protagonisten hätten lediglich »in bestimmten thematischen Bereichen eine radikale Aufklärung« (545) vertreten, in anderen thematischen Bereichen jedoch nicht. Damit droht das am E nde gezogene Fazit, für das »schriftstellerische Gesamtwerk« der drei Autoren »liefert das Adjektiv ›radikal‹ keinen deskriptiven Mehrwert« (545), geradewegs die Legitimität des für die Untersuchung gewählten Obertitels in Zweifel zu ziehen. Angesichts solcher Verwirrung wäre es hilfreich gewesen, zwischen methodischer und inhaltlicher Qualifizierung des Radikalitätsbegriffs kategorial zu unterscheiden. Denn allein dadurch bliebe gewährleistet, dass sich eine bestehende Tradition oder Autorität auch bei methodisch radikaler, also schlechterdings unvoreingenommener Kritik in materialer Hinsicht gelegentlich durchaus als vernunftgemäß zu erweisen vermag.