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Ausgabe:

April/2021

Spalte:

303-305

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Hund, Johannes

Titel/Untertitel:

Das Augustana-Jubiläum von 1830 im Kontext von Kirchenpolitik, Theologie und kirchlichem Leben.

Verlag:

Göttingen u. a.: Vandenhoeck & Ruprecht 2016. 684 S. m. 4 Abb. u. 1 Tab. = Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, 242. Lw. EUR 130,00. ISBN 9783525101476.

Rezensent:

Matthias A. Deuschle

Warum sollte man ein Buch mit 600 Seiten über das Jubiläum der Confessio Augustana von 1830 lesen? Als Vorbereitung für die Planungen der Fünfhundertjahrfeier, die in naher Zukunft beginnen müssen? Das wäre ein guter Grund. Zumal die 2015 als Habilitationsschrift in Mainz eingereichte Studie im Unterschied zu anderen Jubiläumsforschungen den Vorteil hat, dass sie nicht ad hoc im Blick auf ein Jubiläum verfasst wurde, sondern einen unabhängigen, nüchternen und gewichtigen Beitrag zur Forschung darstellt. Es gibt aber noch einen besseren Grund: Das Buch bietet einen kirchen- und theologiegeschichtlichen Querschnitt an einem Kristallisationspunkt evangelischer Theologie und damit eine hervorragende Einführung in die kirchlichen und theologischen Verhältnisse um 1830. Wie ein Lackmuspapier lässt sich die Frage nach Bedeutung und Aktualität des Augsburger Bekenntnisses in ganz unterschiedliche Kontexte einbringen, um anschließend an seiner Färbung die Vielstimmigkeit und Vielgestaltigkeit des Protestantismus abzulesen. Wer das Buch studiert, wird sehr plastisch und konkret darüber informiert, wie Rationalisten, Supranaturalisten, Erweckungstheologen und konfessionell-lutherische Vordenker um 1830 tickten (vgl. 15–30 die Übersicht über die Richtungen). Darüber hinaus bekommt er einen Eindruck davon, wie eng die kirchlichen und staatlichen Entwicklungen miteinander verknüpft waren. Das ist für diese Zeit des Umbruchs besonders instruktiv: Während am einen Ort der Rationalismus in voller Blüte steht, wird ihm andernorts bereits das »Pereat!« nachgerufen. Während im einen Territorium das kirchliche Jubiläum ganz der staatlichen Inszenierung folgen muss, wird seine Gestaltung an­dernorts den kirchlichen Leitungsorganen überlassen. Die Stärke der Studie liegt zweifellos in ihrer Breite und der umfassenden Aufarbeitung des zur Verfügung stehenden Materials.
Nach Johannes Hunds ausführlichen Recherchen sind 474 selbständige Druckschriften zum Augustana-Jubiläum aus den Staaten des deutschen Bundes und dem europäischen Ausland erhalten geblieben (vgl. 31). Dazu kommen Überlieferung kirchlicher und staatlicher Behörden, Artikel in Zeitschriften und Journalen sowie Münzprägungen – viel zu viel für eine Untersuchung. Alles hängt daher an Auswahl und Anordnung des Materials. Sehr überzeugend und wahrscheinlich ohne Alternative ist die Gliederung der Studie nach Territorien. In fünf großen und jeweils parallel aufgebauten Teilen stellt H. die Ergebnisse seiner Forschungen für das Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach (I), die Freie und Hansestadt Hamburg (II), das Königreich Bayern (III), die preußische Provinz Sachsen (IV) und das Königreich Sachsen (V) dar. Es werden zunächst politische Geschichte und theologische Entwicklungen, sodann die generelle Ausrichtung des Jubiläums in dem entsprechenden Territorium, – wenn vorhanden – die akademischen Feiern und schließlich der Umgang mit dem Bekenntnis in den gedruckten Schriften behandelt. Letzteres bildet den Schwerpunkt. Jeder Teil kann – das sei den Jubiläumsverantwortlichen von 2030 ans Herz gelegt – als Einzelstudie separat gelesen werden und führt sowohl tief als auch großräumig in die theologische Topographie des behandelten Gebietes ein. Teil VI weitet den Rahmen über die Staaten des deutschen Bundes hinaus und beleuchtet die Niederlande, Frankreich, Dänemark, Schweden und Russland.
Die Auswahl ist – zumindest im Blick auf die deutschen Territorien – erklärungsbedürftig. In Anschlag gebracht wurde dafür zum einen die Anzahl der vorhandenen Druckschriften und zum anderen ein Filter, der mit dem Untersuchungsziel zusammenhängt: Es werden nur »Jubiläumszentren« (34) behandelt, in denen sich in charakteristischer Weise eine der genannten theologischen Richtungen an dem Jubiläum bricht und auf diese Weise in ihrer Eigenart erkennbar wird. Dass diesem Kriterium Württemberg und Preußen als Gesamtterritorium zum Opfer fallen, ist schmerzhaft, doch aus arbeitsökonomischen Gründen verständlich. Dass das Augustana-Jubiläum in Preußen aufgrund seiner Verbindung mit der Unionsfrage und dem Hallischen Streit in geringerem Maße auf die moderne Theologiebildung eingewirkt habe – so die inhaltliche Begründung –, wäre allerdings erst noch zu zeigen (wie eng beides verbunden ist, zeigt sich in Teil IV., z. B. 343 ff.; vgl. auch Teil VII., 579.582 u. ö.). Der Fall Preußen macht darüber hinaus eine Schwäche der Anordnung deutlich. Denn natürlich lässt sich die Provinz Sachsen nicht ohne den Rest Preußens verstehen, und selbstverständlich werden die Diskussionen in den Einzelterritorien nicht ohne Blick auf die anderen deutschen Staaten geführt (vgl. z. B. die Reflexe auf die preußische Erweckungstheologie in Jena, 65.80.86). Allerdings wird der Leser in die Lage versetzt, diese Querverbindungen selbst zu ziehen. Implizit wird übrigens durch die Abfolge der Kapitel ein weiteres Auswahlkriterium deutlich: Beim Lesen bewegt man sich auf einer Skala vom Rationalismus (Teil I) über eine rationalistisch-erweckungstheologische Gemeng elage hin zum lutherischen Konfessionalismus (Teil V), ein Durchgang durch das Spektrum der genannten theologischen Richtungen. Derselben Bewegung folgt die Darstellung der Augus-tanafeiern im europäischen Ausland: Von den aufgeklärten, eine liberale Religionspolitik verfolgenden Niederlanden zum traditionalistischen Russland, wobei dieser letzte Abschnitt (Teil IV, 5.) besonders instruktiv ist, da er eine von erwecklichen Tendenzen weitgehend unbeeindruckte lutherische Position zeigt, die auf ältere Traditionen zurückgreift. Der Blick auf die umgebenden Staaten zeigt die Abhängigkeit von der Diskussion in den deutschen Territorien und erweist das Ringen mit der aufklärerischen Tradition als typischen »Begleiter der deutschsprachigen Theologie« (552).
Die Studien sind durchweg sehr gründlich gearbeitet; der Schwerpunkt liegt auf der Quelleninterpretation. Wertvoll sind zudem die profilierten territorialgeschichtlichen Summarien, die der jeweils erste Unterabschnitt bietet (teilweise länger geraten als nötig). Wer einen schnellen Überblick über die Ergebnisse sucht, ist mit dem jeweils letzten Unterabschnitt sehr gut bedient (»Auswertung und Ertrag«). Die Bündelung in Teil VII. bietet darüber hinausgehend wenig Neues. Dort werden die Erkenntnisse im Kontext der Religionspolitik der Zeit (1.), im Blick auf hervortretende Ge­schichtsdeutungen (2.) und als Beitrag zur Jubiläumsforschung (3.) variiert. Wiederholungen sind dabei unvermeidbar.
Das Buch beeindruckt durch die Gründlichkeit, den souveränen Umgang mit ganz unterschiedlichen kirchengeschichtlichen Räumen und theologischen Positionen sowie durch die konsequent durchgehaltene Fragestellung. Diese jedoch, die Frage nach der »Funktion des Jubiläums zur Ausbildung moderner theologischer Positionen« (33), provoziert auch Rückfragen: Trug das Jubiläum tatsächlich zur Ausbildung theologischer Positionen bei oder brachte es diese nur ans Licht? Überzeugend gezeigt werden kann Ersteres eigentlich nur für den lutherischen Konfessionalismus (wo dann allerdings doch der spezifisch preußische Konflikt um die Union mitschwingt). Dass mit Schleiermacher eine dritte Richtung zwischen den Polen der aufgeklärten und der konservativen Theologie im Entstehen ist, wird von H. erwähnt (vgl. 29, Anm. 68, und 584). Dass sie, weil noch zu jung, durch das Raster fällt, ist verständlich und zugleich bedauerlich, da gerade Schleiermachers Beiträge zum Augustana-Jubiläum als ein neuer Impuls verstanden werden können.
Nicht nur die klare Gliederung, sondern auch die umfangreichen Register werden dazu beitragen, dass das Buch gerne zu Rate gezogen werden wird. Das umfangreiche Quellenverzeichnis ist Beleg für die theologische Fruchtbarkeit eines Jubiläums. Dass eine solche auch aus der Beschäftigung mit früheren Jubiläen erwächst, zeigt H.s Buch auf Schritt und Tritt. Es legt die Messlatte hoch und ermuntert gleichzeitig – im Blick auf die nicht ausgewerteten Territorien und vor allem auf die besonderen preußischen Verhältnisse – zu weiteren Arbeiten im Vorfeld von 2030.