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Ausgabe:

April/2021

Spalte:

284-286

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Bienert, David C.

Titel/Untertitel:

Das Abendmahl im johanneischen Kreis. Eine exegetisch-hermeneutische Studie zur Mahltheologie des Johannesevangeliums.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2020. XX, 616 S. = Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft, 202. Geb. EUR 119,95. ISBN 9783110346619.

Rezensent:

Silke Petersen

Die Arbeit von David C. Bienert wurde in Münster 2010/11 als Dissertation angenommen, allerdings erst 2020 veröffentlicht, nun inklusive eines Nachtrags von 2016, in dem vor 2016 erschienene einschlägige Veröffentlichungen vorgestellt sind. Die Arbeit beginnt nach einigen einleitenden Bemerkungen und Begriffsklärungen mit einem relativ ausführlichen Forschungsüberblick (34–88), dem auch im Verlaufe der Arbeit noch weitere Ausführungen zur Forschung folgen (so etwa zu Joh 6; 326–330). Als Konsequenz trifft B. zwei grundlegende Entscheidungen mit Konsequenzen für die Sicht der johanneischen Mahltexte: Das JohEv wird als Einheit von Kapitel 1–21 zugrunde gelegt, also einschließlich des oft als Nachtrag interpretierten Kapitels 21. Zudem wird das Verhältnis zu den synoptischen Evangelien unbestimmt gelassen – es gibt also keine prinzipielle Entscheidung über Abhängigkeiten. Im weiteren Verlauf begegnen dann Vergleiche mit synoptischen Texten, um die Eigenarten der johanneischen Darstellung genauer zu erfassen. Diese Vorgehensweise ist allerdings gelegentlich durchbrochen, so etwa im Hinblick auf die Salbungserzählung (Joh 12,1–8), wo eine Kenntnis von Mk 14,3–8 und Lk 7,36–50 ohne nähere Begründung vorausgesetzt ist (443). An anderer Stelle erscheinen auch die Einsetzungsworte als »Prätext« der johanneischen Brotrede (389).
Im Anschluss an den ersten Hauptteil »Die Suche nach dem ›Abendmahl‹ im joh Kreis« (1–100) folgt ein längerer Mittelteil unter der Überschrift »Komposition und Abfassungszweck des JohEv« (101–278), so dass die Auseinandersetzung mit den Mahltexten unter dem Stichwort »Einzelexegesen« erst ab 279 erfolgt.
Der ausführliche Mittelteil enthält die theologischen Weichenstellungen für die Perspektivierung der johanneischen Mahltexte. Behandelt werden diverse Themen des JohEv, die nicht alle gleichermaßen mit dem Thema der Arbeit zu tun haben, so dass zu vielen Passagen des JohEv an der einen oder anderen Stelle der Monographie etwas zu finden ist. Mit dieser Vorgehensweise geht allerdings einher, dass sich Fehler und Inkonsistenzen einschleichen, die möglicherweise auch auf die längere Wachstumsgeschichte des Bandes zurückzuführen sind. Einige Beispiele: Anders als im Text gesagt enthält Papyrus 52 die Überschrift des Evangeliums nicht (111); für die Auslegung der Ich-bin-Worte werden die sogenannten »absoluten« Ich-bin-Worte als Schlüssel angenommen (125.227), dann aber die prädikativen ins Zentrum gestellt (vgl. 127 u. ö.; die Rezensentin ist hier in der etwas unglücklichen Position, selbst zu dem Thema publiziert zu haben, was B. jedoch nicht rezipiert); ausgesprochen begründungsbedürftig scheint etwa auch die These, dass Mk die Mutter Jesu zu den Auferstehungszeuginnen zählt (317).
Schwerwiegender sind die grundlegenden theologischen Weichenstellungen, die B. im Mittelteil vollzieht und in der Auslegung der Mahltexte aufnimmt: Nach seiner Ansicht vollzieht sich im JohEv die Transformation jüdischer Identität in ein neue »christliche« Identität (265 u. ö.). Schlüsselworte dabei sind »überbieten« und »ersetzen«: Christus tritt als »das ›Endzeitpassah‹ und die alles überbietende rituelle Transformation des jüdischen Kultes an die Stelle der jüdischen Feste« (162). »Das JohEv als ›Buch‹ ersetzt die Tora, zumindest in ihrer kultischen, rituellen und soteriologischen Funktion« (185). Jesus als »Brot des Lebens« ersetzt »in seiner Person die Tora« (381). Zu Joh 6,35: »Die Aussage rezipiert und adaptiert also nicht einfach jüdische Weisheitstheologie, sondern Jesus überbietet und ersetzt diese« (382). Nicht nur im Hinblick auf Feste, Tempel, Tora und Weisheit wird »überboten« und »ersetzt«, sondern auch sonst: So überbietet der markinische Jesus die jüdischen Ritualgebote (342); und im Hinblick auf die Mysterien heißt es: »In seinen Handlungen überbietet Jesus Dionysos, Demeter, Asklepios oder Hermes; das wahre Mysterium ist die Vollendung Jesu am Kreuz« (423). Zusammenfassend: Das JohEv »sieht in Christus und der christlichen Gemeinde nicht nur die Überbietung des jüdischen Kultes, sondern zugleich eine Überbietung sämtlicher antiker Kulte erreicht« (418). Problematisch erscheint nicht nur die Eintönigkeit einer solchen Überbietungstheologie, sondern auch ihre aburteilenden Konsequenzen im Hinblick auf das Judentum. So konstatiert B. etwa, das Lamm Gottes bedeute das »Ende des Opferkultes«, woraus folgt: »In diesem Missverständnis verhaftet, können die Juden nicht gerettet werden, solange sie am Opferkult festhalten. Ihnen fehlt die Einsicht in das Heilshandeln Gottes am Kreuz, das sie nicht verstehen, nur wer das wahre Pessah zu sich nimmt, indem er auf den Gekreuzigten blickt (vgl. Barn 5,10) wird gerettet: er hat ›ewiges Leben‹, weil er glaubt« (145). In solcherart Nachschreibung und Verstärkung der Negativaussagen über die johanneischen Ἰουδαῖοι können dann auch die positiven nicht mehr ernst genommen werden: So wird Joh 4,22 (ἡ σωτηρία ἐκ τῶν Ἰουδαίων) nur als ironische Aussage noch in die Auslegung integrierbar (vgl. 172–75). Zusammenfassend heißt es, der Autor schreibe »ein neues Evangelium mit der Absicht, darin die Grundlage für eine ›christliche‹ Identität im Gegenüber zu ›den Juden‹ zu schaffen. Daher erscheinen diese als Feinde und Gegner des Erlösers und repräsentieren zugleich ›die Welt‹ als Ort der Feindschaft und Bedrohung. (…) Die Botschaft des Gesandten spiegelt sich allein im ›Wort‹ Jesu wider, das nun Schrift geworden ist und damit die Tora des Mose ablöst« (278). Demgegenüber ist u. a. zu betonen, dass das JohEv ohne Kenntnis von Tora etc. unverständlich bleibt, dass im Text eindeutig gesagt wird, die »Schrift könne nicht aufgelöst werden« (10,35), und durchgehend mit der Tora für Jesus, nicht mit Jesus gegen die Tora argumentiert wird.
Positiv zu vermerken ist die Breite des behandelten Textbestandes in den Auslegungen des dritten Hauptteils: Hier sind von der Hochzeit zu Kana bis zur Erscheinung am See in Joh 21 alle relevanten Texte behandelt, in denen gegessen und getrunken wird, einschließlich des Rätsels aus Joh 19,34 (»Blut und Wasser« aus Jesu Seitenwunde). Im Zentrum steht Joh 6, das sich auch aufgrund der überzeugenden Strukturanalysen im Mittelteil als zentraler Text in konzentrischen Anordnungen erwiesen hatte. Joh 6 wird dabei klar eucharistisch gelesen; die Speisungserzählung als Stiftungslegende betrachtet (330). Schon in der Vorbemerkung (280) wurde deutlich, dass B. christliche Mahlfeiern letztlich als zentral voraussetzt. Damit ist allerdings die Frage, ob Joh 6,51–58 nicht auch als metaphorischer Text gelesen werden könnte (wie etwa bei Jan Heilmann, Wein und Blut. Das Ende der Eucharistie im Johannesevangelium …), letztlich schon vor der Exegese beantwortet. In der inhaltlichen Zusammenfassung wird das johanneische Mahl als »Kultersatz« beschrieben: »Die Eucharistie löst den jüdischen Kult samt Festkalender vollständig ab: In ihr verzehrt die Gemeinde Fleisch und Blut des wahren Passahlammes, in ihr ist Christus präsent, auch wenn die Gemeinde ihn nicht sehen kann« (508). Diese Zusammenfassung kann angesichts der theologischen Voreinstellungen nicht überraschen. Sie konnte mich allerdings nicht überzeugen, zumal in ihr auch die streckenweise guten Beobachtungen und Strukturanalysen aus den Einzelexegesen nicht aufgehoben sind.
Die Arbeit hat insgesamt 616 Seiten (davon 530 Haupttext), was zur Frage führt, ob Dissertationen immer länger werden müssen. Zudem enthält sie zahlreiche Passagen in anstrengend kleinem Kleindruck (wohl zur Einsparung von noch mehr Seiten?), in denen sich sowohl Zitate wie auch Zusammenfassungen von Sekundärliteratur oder Fortführungen eigener Überlegung finden, so dass beim Lesen die Gattung dieser Passagen uneindeutig und der Anschluss über sie hinweg nicht immer gegeben ist.