Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

März/2021

Spalte:

235-237

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Etscheid-Stams, Markus, Szymanowski, Björn, Qualbrink, Andrea, u. Benedikt Jürgens [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Gesucht: die Pfarrei der Zukunft. Der kreative Prozess im Bistum Essen.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2020. 400 S. Geb. EUR 32,00. ISBN 978-3-451-38678-7.

Rezensent:

Christian Hennecke

Kirche im Umbruch, in Transition, in Veränderungsprozessen, in Restrukturierung – dieses Vokabular kennen alle, die sich mit den Entwicklungsprozessen der Kirchen in Deutschland befassen. Denn allen ist klar, dass die Zukunft der Kirche in Deutschland nicht einfach eine Verlängerung der Agonie eines bekannten kirchlichen Systemgefüges ist, sondern ein tiefgreifender Umbruch. Es reicht nicht, nach Rezepten zu suchen, wie es wieder (besser) werden kann (wie früher). Christoph Theobald hat in seinem zukunftsweisenden Buch (Christentum als Stil, Freiburg 2018) darauf aufmerksam gemacht, dass die zugrundeliegenden Bilder nicht mehr treffen: Wir leben eher in einer Zeit des Anfangs, in einer Zeit der Apostelgeschichte, als in den Resten der Christianitas. Ein Epizentrum dieses Umbruchs sind zweifellos die Pfarreien. Sie reflektieren ja schillernd diese Veränderungsgeschichte. Gerade in Zeiten des Umbruchs gerät aber diese zentrale »Struktur« in eine spannungsvolle Zerreißprobe.
Auf diesem Hintergrund bietet das Buch einen in­teressanten, aber sehr ambivalenten Einblick in die Dynamik kirchlicher Um­bruchsprozesse. Ausgangspunkt sind – wie so oft – Restrukturierungsmaßnahmen. Die Gründe sind bekannt: die Zahl der Pries­ter wird deutlich geringer, die finanziellen Ressourcen schwinden. Das ist Ausgangspunkt für tiefgreifende Veränderungen. Sie werden erzwungen, sind nicht gewollt – aber wann je ist Veränderung, schon gar tiefgreifende, freiwillig.
Das Bistum Essen hat diese Nötigung transformiert in einen konstruktiven Leitbildprozess. In einem mehrjährigen Prozess und breiter Partizipation vieler Engagierter wurden Perspektiven für eine Zukunft der Kirche erarbeitet, die nun – in einem zweiten Schritt – zu einem Pfarreientwicklungsprozess (PEP) führten. Die Aufgabe ist klar: Wie kann, bei Reduzierung der Ausgaben um 50 % bis 2030, eine pastorale Leitlinie für die nun noch 41 Pfarreien entwickelt werden, die in die Zukunft trägt. Mit hohem Aufwand und hoher Verbindlichkeit – und mit guter Begleitung – haben diese Prozesse zwischen 2015-2017 stattgefunden. Alle »Voten« der Pfarreien wurden vom Bischof gesichtet, beurteilt und gesegnet.
Das Buch versucht sich an einer Auswertung. Björn Szymanowski wertet die sehr unterschiedlichen Voten aus und zieht Linien. Dieser Grundlagenteil zeugt von der intensiven Arbeit und dem hohen Engagement in den Pfarreien. Was kommt dabei heraus? Wer sich im kirchlichen Kontext der Veränderungsprozesse deutscher Kirchen bewegt, der wird – ehrlich gesagt – nichts finden, was er nicht schon kennt. Die Fülle der pastoralen Keywords und des seelsorgerlichen Grundwortschatzes führen zu einer ge­wissen Ermüdung.
Aber vor allem entstehen Fragen. Die grundlegendste ist: Was eigentlich meint die Rede von der Pfarrei? Ist die Pfarrei ein Raum? Ist die Pfarrei eine Sozialgestalt? Ist damit Gemeinde oder ein Netzwerk von Gemeinden gemeint? Geht es hier um einen Anbieter von pastoralen Angeboten? Im vorliegenden Buch wird diese Frage diskutiert auf dem Hintergrund einer volkskirchlichen und milieuchristlichen Erfahrung. In den Voten wird schnell deutlich, von wo aus »Pfarrei« gedacht wird: ein Ensemble von bekannten kirchlichen Aktivitäten, die dazu führen sollen, dass Gemeinde weiterlebt und sich weiterentwickeln kann. Das ist durchaus würdigend gemeint – aber die Alternativen, die aufscheinen, bewegen sich im Spannungsfeld von attraktionaler und missionaler Ekklesiologie. Doch sie stellen die Frage nach dem, was mit Pfarrei ge­meint ist, nicht fundamental genug. Denn wie normiert bleibt der Gedanke, dass die Pfarrei eine Grundstruktur der Sammlung ist.
Das aber genau macht die merkwürdige Ausrechenbarkeit der Pfarreivoten aus. Denn das einzige was fehlt und zählen würde, ist die Vision kirchlicher Zukunft, die weiter reicht als zur Verlängerung des Bisherigen. Es reicht nicht ein Update, es braucht einen Wechsel des Betriebssystems. Spannend ist es, in diesem Zusammenhang die Überlegungen von Papst Franziskus (in Evangelii Gaudium) zu lesen, der die Pfarrei als Vollzug kenotischer Sendung sieht. Ja, denn es geht nicht um den Selbsterhalt der Kirche vor Ort, sondern um die Verkündigung des Evangeliums, nicht um eine Sozialform, sondern um Leidenschaft der Sendung, die ihrerseits durchaus ekklesiogenetisch sein kann. Das ist kein Vorwurf an die vielen, die sich engagiert haben – es ist eher eine Herausforderung an Planer und Verantwortliche: haben wir schon verstanden, wie grundlegend sich die kirchlichen Gefüge drehen und revolutio-nieren? Haben wir schon bemerkt, wie tief der Geist transformiert? Im vorliegenden Sammelband unterstreicht der Bischof von Essen sehr deutlich, wie radikal die Veränderungen gedacht werden soll ten. Er will eine »ernsthafte Erneuerung der Kirche« (9) und er macht bewusst, welche Kriteriologie dem zugrundeliegt – und er übersieht nicht die notwendigen Abschieds- und Trauerprozesse. Die aber – so denke ich – sind tiefgreifender als der Verlust einer Kirche oder das Nichtgelingen der Jugendarbeit. Mir scheint, dass der Bischof mit Recht und vielleicht auch selbstkritisch die Frage nach den zugrundeliegenden Kirchenbildern stellt. Das geschieht in diesem Buch in einigen der spannenden Kommentare, die in der Tat tiefer schauen lassen, worum es eigentlich geht.
PD Birgit Hoyer macht in ihrem Beitrag sehr deutlich, welche grundlegenden Anfragen gestellt werden müssen: »Die Menschen im Bistum Essen sind sein größter Schatz. Eine Grundproblema-tik der Studie, die diesen Schatz nicht vollumfänglich heben lässt, liegt in der mangelnden Transparenz der Motive und Motivationen« (247). Sie fragt kritisch, ob hinter den schwammigen Pastoralbegriffen wirklich eine präzise und geistvoll-geistgewirkte Idee steckt– oder ob es nur um Pragmatismus und ein Anders-weiter-so geht. Mir scheint eine ihrer Grundfragen weiterführend: »Über den eigenen Glauben zu sprechen, scheint durch die Prozessarchitektur nicht intendiert« (247). Aber darum geht es eigentlich: wie das Evangelium heute in uns lebendig wird, damit es mit anderen wirksam und relevant werden kann. Wenn eine solche weiterführende Vision fehlt, riskiert es ein selbstreferenzieller und exklusiver Prozess mit reiner Binnenerhaltsperspektive zu werden, wie die Autorin vorsichtig kritisiert. Sie plädiert für eine andere Perspektive: den Blick auf die Christen und ihren Glauben zu richten – und auf ihr Leben mit den Menschen in ihren Lebensräumen. Droht hier nicht das, was der Historiker F. Siepmann über die Kirchenentwicklung der Vergangenheit bemerkt: »Das Vergangenheitsverhältnis war latent nostalgisch, das Gegenwartsverhältnis offenkundig aktionistisch, das Zukunftsverhältnis tendenziell utopisch« (253).
Auch der Kommentar von Wolfgang Reuter gibt sehr zu den-ken: Er stellt deutlich in Frage, ob die Rede von einer Angebotspastoral nicht zu einer Selbstüberforderung der Ortsgemeinde führt: Es wird »offenkundig«, dass in dieser durchgehenden Fixierung auf »Angebote« die unsere Gesellschaft charakterisierenden Optimierungs- und Selbstoptimierungsforderungen »wirksam zu Tage treten« (263). Auch Reuter konstatiert, dass offensichtlich neue ek-klesiologische Leitbilder fehlen, der Verlust der alten Bilder nicht betrauert wird und sie deswegen latent weiterwirken. Das gilt auch für andere tiefsitzende Bilder: die Versorgungspastoral, die unreflektierte Rede von Ehrenamtlichen – sie machen nach Reuter deutlich, dass eine tragende Zukunftsperspektive fehlt.
So lohnt das Buch – vor allem in seinen nachdenklich-sympathischen Begleittönen – die Lektüre und stellt deutlich vor Augen, dass das Entscheidende fehlt: ein Bild. Und es wird auch klar, um es biblisch mit dem Buch der Sprüche zu sagen: »Ohne Vision verkommt das Volk.«