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Ausgabe:

März/2021

Spalte:

228-230

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Weber, Christel E. A.

Titel/Untertitel:

Prophetisches Predigen als Sichtwechsel. Eine interkulturelle Studie.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2019. 432 S. = Arbeiten zur Praktischen Theologie, 77. Geb. EUR 58,00. ISBN 9783374062584.

Rezensent:

Ralph Kunz

Die Kombination von Prophetie und Predigt weckt im deutschsprachigen Raum Erinnerungen an die Wort-Gottes-Theologie oder lässt an Phänomene im freikirchlich-pfingstlichen Milieu denken. Dass mit dem Attribut »prophetisch« ein Typus der Kanzelrede und ho-miletischer Ansatz beschrieben wird, hätten vor der Lektüre von Christel E. A. Webers Buch nur wenige aus dem Fach behauptet. Das dürfte sich jetzt ändern. Zu verdanken ist die Innovation sozusagen einem Import. W. absolvierte eine Fortbildung zur »Doctor of Minis-try in Preaching« in Chicago, pflegt das Gespräch mit Theologinnen und Theologen in Südafrika und arbeitet als evangelische Pfarrerin in Deutschland. Ihre interkulturelle Erfahrung kommt in dieser Studie zur Frage des prophetischen Predigens im Vergleich der drei Kontexte USA, Südafrika und Deutschland zum Zuge. Die Internationalität des Designs macht die Arbeit ungewöhnlich und verheißungsvoll. Sie stößt, so Alexander Deeg im Geleitwort, »hoffentlich einen neuen Diskurs über Prophetische Predigt auch im deutschsprachigen Raum an und leistet gleichzeitig einen weiteren Schritt zur Internationalisierung unserer homiletischen Diskussion« (8). Es ist eher unüblich, dass der Betreuer einer Doktorarbeit zur Publikation ein Geleitwort im Ton einer Laudatio beisteuert. Der Rezensent stimmt gerne mit ein. W.s Buch ist ein Wurf. Es ist keine Schreibstubenarbeit, sondern eine im Wechselspiel unterschiedlicher Kirchenkontexte entstandene, lebendig und anschaulich geschriebene interkulturelle Studie, die ein Herzstück der biblischen Predigtkultur neu ins Bewusstsein rückt.
Wie prägend die eigene Predigtkultur ist und wie inspirierend, mitunter auch irritierend, fremde Predigtkulturen sein können, ist in Zeiten des Internets sozusagen per Knopfdruck abrufbar. Was fern ist, rückt näher und wird greifbar. Zwar gilt das nicht für die Beispielpredigt, die in der Einführung eingehend analysiert wird, aber es gilt für die Rezeption dieser Predigt. W. zitiert Jim Wallis, den amerikanischen Theologen, Schriftsteller und Herausgeber der Zeitschrift »Sojourners«, der in einem Video auf Youtube vom Initialereignis erzählt, das seine Theologie der Hoffnung inspiriert hat. Wallis schildert eine Predigt von Bischof Desmond Tutu, die dieser als Erzbischof des anglikanischen Erzbistums Kapstadt in der St. George Cathedral in den Tagen der Apartheid hielt. Es sind ein paar kurze, einprägsame Sätze, an die sich Wallis erinnert, aber in der Erzählung bzw. der Wiederaufführung und Interpretation seiner Hörerfahrung werden diese wenigen Worte zu einer ganzen und unvergesslichen Predigt. Tutu wandte sich an Polizisten und Militärs, die in den Gottesdienst eingedrungen waren und sich drohend um die Gemeinde herum aufstellten. Eine Machtdemonstration! Tutu sagte zu ihnen: »You are powerful. You are very powerful. But you are not God. And I serve a God that will not be mocked.« (18) Die kurze Sequenz endet mit der Aufforderung: »We invite you today: Come and join the winning side.« Und die Gemeinde tanzte. Die Polizisten aber zogen sich angesichts dieser Macht wieder zurück. Zehn Jahre später, so erzählt Wallis, habe sich mit dem Ende der Apartheid Tutus Vision erfüllt.
Für W. ist die Episode beispielhaft für prophetisches Predigen. Dass sie als Deutsche dem Amerikaner zuhört, der die Wirkung einer südafrikanischen Predigt bezeugt, ist zudem exemplarisch für diese interkulturelle Studie. Sie setzt beim Phänomen an, kommt von da zur sorgfältigen Analyse der Rezeption und lenkt – sensibel für unterschiedliche Ebenen der Produktion – auf eine Kernthese der Untersuchung, die weiter vertieft wird: Die Wirkung macht das Prophetische aus. W. konzentriert die Essenz der Studie mit Hilfe des Beispiels in wenigen Worten:
»Zusammengefasst rezipiert Jim Wallis die Predigt Desmond Tutus in einer Situation, die von Gefahr und Hoffnungslosigkeit geprägt ist, als göttlich gewirkte ›Hoffnung‹. Die Botschaft der Predigt trifft ihn (und die Gemeinde) als etwas Neues, das überrascht, emotional berührt und in Aktion versetzt. Das Novum besteht für ihn in der Imagination einer anderen Wirklichkeit, in der sich die Verhältnisse durch Gottes Handeln umgekehrt haben. Diese Imagination hat die Kraft, bereits die Gegenwart zu verändern: Sie erweist sich als Energie der Transformation.« (37)
W. entwickelt das Thema des prophetischen Predigens kapitelweise in einer spiralförmigen Argumentation. In der Einführung werden ausgehend vom Beispiel erste Hypothesen formuliert und Fragen gestellt. Das Stichwort Imagination wird entfaltet und – mit Walter Brueggemann und Charles Campbell – als »Schlüssel zum Verständnis der prophetischen Predigt Tutus« (51) bezeichnet. In einem zweiten Schritt werden drei Zugänge zum Begriff des prophetischen Predigens referiert (57–162) und verglichen: Max Webers Bild des Propheten als charismatischer Idealist, der kult- und gesetzeskritisch predigt, Karl Barths Konzept des Propheten als Zeugen und der Prophetie als Theologie, der die prophetische Predigt als Vergewisserung der Berufung und Sendung der Gemeinde in die Welt versteht, und Walter Brueggemanns Prophet als Poet, der Gottes Trauer und Hoffnung vergegenwärtigt und eine alternative Story imaginiert. Eine übersichtliche Tabelle stellt die Gemeinsamkeiten und Unterschiede schematisch dar (148–152) und macht deutlich, dass die unterschiedlichen Zugänge nicht in Konkurrenz zueinanderstehen, sondern als Aspekte des Phänomens zu betrachten sind.
Im dritten Kapitel widmet sich W. der Frage, wie sich die prophetische Predigt und der Kontext zueinander verhalten. Am Beispiel des Apartheidstaates zeigt W., dass die prophetische Predigt einen Kairos hat, der eine Positionierung und Entscheidung erforderlich macht. Entscheidet sich die Kirche prophetisch, wird sie in einen Kampf gegen das Unrechtssystem verwickelt. In sehr differenzierter Weise wird die Stärke dieses Ansatzes, aber auch seine Schwäche diskutiert. Natürlich kann sich prophetisches Predigen auch in einem demokratischen Staat konfrontativ äußern. Aber das Prophetische lässt sich nicht darauf reduzieren. Sonst drohen der Verlust des Pastoralen und das Kippen in eine kompromisslose Oppositionsrhetorik. Prophetisches Predigen ist mehr als politisches Reden und anders als Moralisieren, »weil Gottes Handeln nicht immer gleich, sondern verschieden ist« (251).
In der Debatte über die Chancen und Grenzen des kirchlichen Engagements in der Öffentlichkeit ist diese Unterscheidung sehr hilfreich. W.s Untersuchung einer höchst lebendigen und dynamischen Dimension der Predigt ist auch für andere Praxisthemen relevant. Souverän wird mit den theoretischen Bezügen hantiert, um die Bedeutung der Prophetie für die Homiletik aufzuzeigen. Was W. dabei entdeckt, macht Lust, die Anschlussfragen zum ge­genwärtigen Diskurs, die W. benennt, aufzunehmen und zu vertiefen. Das erfreulich verständlich geschriebene Buch eignet sich auch für die Lehre. Der Homiletik-Lehrer freut sich auf die Diskussionen im Seminar, die es zweifellos auslösen wird.