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Ausgabe:

März/2021

Spalte:

201-202

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Neele, Adriaan C. [Ed.]

Titel/Untertitel:

Petrus van Mastricht (1630–1706). Text, Context, and Interpretation.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020. 252 S. = Reformed Historical Theology, 62. Geb. EUR 120,00. ISBN 9783525522103.

Rezensent:

Hans-Martin Kirn

Der Sammelband bietet nach einer hilfreichen Einleitung zur Standortbestimmung Petrus van Mastrichts in der reformierten (Spät-)Orthodoxie, seinem Verhältnis zur Nadere Reformatie – er war Nachfolger von G. Voetius in Utrecht – und Erwägungen zur Mastricht-Forschung aus der Feder von R. M. McGraw neun Beiträge zu theologischen, philosophischen und rezeptionsgeschichtlichen Fragestellungen. Wie C. R. Trueman in seinem Begleitwort hervorhebt, bezeugt der Band die gewachsene Bedeutung religiös-kultureller Kontexte in der Orthodoxieforschung, die über die älteren Einseitigkeiten konfessionell-dogmatischer Perspektivierung hinausführen. Trotz Fortschritten bleibt freilich auch für die Mastricht-Forschung die Aufgabe bestehen, das Spannungsfeld von Konfessionskultur und Aufklärungsbewegung weiter zu er­hellen.
Im ersten Teil des Bandes zur Theologie Mastrichts kommen sowohl spezifisch reformierte wie auch orthodox breit geteilte Anliegen zur Sprache. So wird auf die terminologische Präzisierung der Auffassung vom zweifachen Königtum Christi (duplex regnum Christi) hingewiesen, die den noch fortlebenden dogmatischen Dissens in dieser Frage überwinden helfen könnte (J. D. Beeke). Weiter wird überzeugend dargelegt, wie wichtig die Rückbesinnung auf das klassische Verhältnis zwischen innerer und äußerer Berufung (vocatio interna, vocatio externa) für Mastrichts Kampf gegen cartesianische Subjektivierungseinflüsse war (E. van Burg). Als eigenständige, doch Voetianische Einflüsse aufnehmende Leistung erweist sich Mastrichts anticoccejanische Ausformung des Topos von der Bürgschaft Christi im Alten und Neuen Bund (Hebr 7,22) in der letzten Ausgabe von dessen zentralem Werk, der Theoretico-practica theologia (1682–1687) aus dem Jahr 1698 (G. Gwon). Schließlich wird das fundamentale Zusammenklingen von Wissenschaft und Frömmigkeit, sprich scholastischer Methode, Heilsglaube und Wortverkündigung nachgezeichnet, wie es Mastricht in seinem Hauptwerk systematisch ausarbeitete (T. M. Rester). Hier könnten sich weitere Studien zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden im breiteren Kreis konfessioneller Orthodoxien anschließen.
Der zweite, (auch) philosophischen Themen gewidmete Teil des Bandes präsentiert zunächst Mastrichts durch und durch theologische Auffassung von der göttlichen und menschlichen Willensfreiheit, wie er sie in seiner Theoretico-practica theologia entfaltete (Ph. J. Fisk). Sodann kommt seine häretisierende Subsummierung des theologischen Cartesianismus, wie ihn Chr. Wittich bot, unter Sozinianismus und Spinozismus zur Sprache (Y. Kato). Dieser Teil des Bandes endet mit einem Beitrag zu Mastrichts doxologisch zentriertem Kampf gegen den Einfluss des theologischen Cartesianismus im Raum der Kirche, wie er sich in Balthasar Bekkers De Betoverde weereld (Die bezauberte Welt) zeigte (D. J. Ragusa). Alle Beiträge illustrieren auf je eigene Weise die (spät-)orthodox verbreitete, mit großem Scharfsinn durchgeführte antiaufklärerische Häretisierungsstrategie, die traditionellen konfessionspolemischen Ar­gumentationsmustern folgte. Zum besseren Verständnis dieser Verfahrensweise und ihrer Diskursfunktion tragen freilich nicht alle Beiträge gleichermaßen bei. So bleibt in der Analyse von Mastrichts Schrift gegen Bekker dem Letzteren nur die Rolle des Betrügers hinter reformierter Fassade. Dabei hätte gerade diese Schrift Mastrichts die Chance geboten, die orthodoxen mit aufklärerisch motivierten biblischen und pastoralen Anliegen in ihrem Konkurrenzverhältnis wenigstens ansatzweise ins Gespräch zu bringen, und zwar unabhängig davon, wie man sich am Ende selbst positioniert.
Der dritte Teil des Bandes präsentiert zwei Beiträge zur Rezeptionsgeschichte. Der erste bietet eine sorgfältige Analyse des Kontexts und der Funktion einer Neuveröffentlichung von Mastrichts Traktat zur Wiedergeburt in englischer Übersetzung mit Anhang aus dem Jahr 1770 in Neuengland. Im Streit um das Verhältnis von Wiedergeburt und Heilsglauben im kongregationalistisch-er­wecklichen Milieu konnte man auf Mastricht als Garanten einer klassisch orthodoxen Sichtweise zurückgreifen, welche der göttlich gewirkten Wiedergeburt die (logische) Priorität zuschrieb (B. J. Crawford). Der zweite Beitrag gibt erstmals einen gründlich erarbeiteten Einblick in Leben und Werk des Pfarrers B. Ter Braak, dem Übersetzer von Mastrichts Theoretico-practica theologia ins Niederländische (erschienen 1749–1753), ergänzt durch wichtige Hinweise zur (möglichen) Rezeption des Werks auch unter Laien, die weiterer Vertiefung bedürfen (A. C. Neele). Dass die Vorrede der Übersetzung die große Hochschätzung der lateinischen Ausgabe bei Lutheranern wie J. F. Budde in Jena im Übergang von Orthodoxie und Aufklärungstheologie bezeugt, weist nebenbei auf bislang weithin vernachlässigte konfessionsübergreifende und komparative Fragestellungen hin. Den Band runden nützliche Anhänge aus der Feder des Herausgebers und Mastricht-Kenners A. C. Neele ab, so eine Übersicht zur Chronologie von Mastrichts Leben und Werk, eine Liste seiner veröffentlichten Werke und eine Übersicht wichtiger Sekundärliteratur bis 2019. Leider fehlt dem Band ein Register. Es bleibt zu hoffen, dass die neuere Übersetzung von Mastrichts Theoretico-practica theologia ins Englische (2018 ff.) und die neu zugänglich gemachten niederländischen Fassungen weiteres Forschungsinteresse wecken. Freilich sollte man sich dann nicht zuletzt mit etwas mehr Sorgfalt um lateinische Zitate und Begriffe kümmern, als manche Autoren des vorliegenden Bandes für nötig hielten. Auch dies gehört zum Voetianischen Motto des Anfangs, das einer jüngeren Forschergeneration mit auf den Weg gegeben wurde: pietas cum scientia conjugenda, Frömmigkeit und Wissenschaft miteinander zu verbinden.