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Ausgabe:

April/2000

Spalte:

436–438

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Bartmann, Peter

Titel/Untertitel:

Das Gebot und die Tugend der Liebe. Über den Umgang mit konfliktbezogenen Affekten.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 1998. 282 S. gr.8. Kart. DM 69,80. ISBN 3-17-015267-X.

Rezensent:

Christofer Frey

Tugenden scheinen in modernen Gesellschaften entwertet zu sein. Deswegen beklagt beispielsweise A. MacIntyre den "Verlust der Tugenden". Betrifft das nur die aristotelisch verstandenen Moralvorstellungen, die sich teleologisch auf ein integratives Gut ausrichten? Verneint also die moderne Gesellschaft diese Integration des Guten? Oder liegt der Verlust nicht auch am Missbrauch von Sekundärtugenden, der spätestens seit der Erfindung der Ideologie (d. h. einer Moralphysik, die der Gesellschaft auferlegt wird) festzustellen ist? Vor allem aber spielt eine besonders in Deutschland gemachte Erfahrung mit: Als Tugenden zum inneren Habitus wurden, konnte sich eine Gesinnungsethik herausbilden, die sich selbst versicherte, dass sie den Feind wohl liebte, obwohl das handelnde Subjekt gezwungen war, ihn zu strafen oder zu töten. Auch der Vf. der hier zu besprechenden, weitgehend historischen Studie über Affekt, Liebesgebot und Tugenden hat gelegentlich den Verdacht, dass Gefühle und Affekte entweder missbraucht werden können oder keine praktischen Konsequenzen haben, wenn sie denn zu billigen sind (vgl. 100).

Diesen Kontext muss sich bewusst halten, wer - wie B. - die Liebe in den Tugenden oder gar als Tugend rehabilitieren will. Eine Station auf dem Weg zu dieser Rehabilitation ist die Neubewertung des Affekts. Denn der Affektbegriff sei "unverzichtbar" zum Verständnis dessen, was Liebe bedeute (99). Die Arbeit der Affekte am Text des Lebens schlage sich in der festen Haltung, der ,hexis’ des Aristoteles nieder. Mit dieser zentralen Frage wird auch das wohl wichtigste, aber nicht durchgehend beachtete theologische Problem aufgeworfen: Stellt sich die Identität des menschlichen Lebens im Glauben auf Grund einer sich summierenden ,hexis’ her, oder kommt sie aus dem Widerfahren des rechtfertigenden Wortes? Wenn der Vf. Aristoteles aufbietet, um die neuzeitliche Version des Inneren des Menschen auszuleuchten, so müsste er einen stetigen Willen voraussetzen, wie er sich in der aristotelischen Ethik freilich nicht findet; die Philosophendebatte um die ,prohairesis’ beweist es. Zudem wäre die soziale Bindung des damit entworfenen Menschenbildes - nicht nur bei Aristoteles - zu beachten; Aristoteles konzipiert eine Tugendethik für den Mann der Oberschicht.

Der Vf. sieht allerdings in der praktischen Philosophie des Aristoteles eine die Geschichte übergreifende Anthropologie angelegt, die allerdings im Christentum nur eine Modifikation erfahren musste. Das gilt vor allem von Augustin, der über die Stoa hinausgehe und die "Vernünftigkeit der affektiven Dimension der christlichen Existenz" betone (155). Im Blick auf die Stetigkeit gerade auch affektiver Orientierung in der Biographie wird vor allem Thomas von Aquin zum Ratgeber (159 ff.). Er habe die Affekte in die Ethik integriert (170 f.). Auf diesem Hintergrund werde das aristotelische Konzept des Lernens auch für Luther interessant (192 ff.). Der Vf. will es auf das seiner Ansicht nach oft vernachlässigte Moment des Einübens beziehen. Nicht zu verwechseln sei es mit den von der Scholastik bestimmten scholastischen "Verbindungen von Natur und Gnade" und den sakramentalen Elementen (192). An manchen Stellen lässt der Vf. durchblicken, dass Lernen kognitive Bestandteile auch im Affektleben voraussetzt und Affekte nicht die Überlegung verdunkeln sollten (232). Mit gelegentlichen, aber allzu seltenen Vorstößen in die moderne Psychologie möchte der Vf. diese These exkursartig untermauern. Die Emotionspsychologie lege nahe, dass Affekte die Einschätzung der Situation mit sich brächten (30 ff.).

Wenn er aristotelische Schemata auf Luthers Denken überträgt, dann schließt der Vf. damit eine meist implizite Kritik an gegenwärtig dominanten Lutherauslegungen ein, vor allem wenn sie existentialer Ausrichtung sind. Zwar konzediert er, dass Luther - wie auch der frühe Melanchthon - in seinem Denken eine Spannung zum vernünftigen Umgang mit Affekten bewies (27). Aber der Glaube zeige nach Luther "alle Merkmale einer vollkommenen Tugend" (196). Demnach integrierte der Glaube die Affekte in vernünftiger Weise und wäre wohl nicht mehr von einer theologischen Tugend, wie sie im Hochmittelalter gelehrt wurde, zu unterscheiden. Das heißt, die antiaristotelischen Grundzüge der reformatorischen Wende grob zu verkennen. Gegenüber Ebeling macht der Vf. geltend, dass der ,usus civilis’ nicht genüge, moralische Orientierungen hervorzubringen, sofern er reines Wortgeschehen sei (ist er denn das? - vgl. 207 f.).

An den zentralen Argumenten zeigt sich, wie sich der Vf. bemüht, Glaube und Moral, Rechtfertigung und Heiligung aufeinander zuzuführen. Mit Luther verortet er die Affekte im Gewissen (48). Zwar weiß er, dass der Glaube eine Gabe ist, aber Gerechtfertigte brauchten (mit Hauerwas) eine "story" (46). Nun wäre jedoch zu fragen, ob die Identität des Glaubenden nicht eschatologisch konstituiert wird, aus dem aus Gottes Zukunft kommenden rechtfertigenden Wort, und nicht sukzessiv auf dem Weg der Herausbildung von Haltungen, die unsere Affekte formen. Die Einübung des Glaubens im Leben wird also nicht genügend von der Konstitution des Glaubens im Wortgeschehen unterschieden. So kann der Vf. zu der Behauptung kommen, dass Luther "auf seiten des Aristoteles" stehe (201).

Als Korrelat der Affektbearbeitung studiert der Vf. das Liebesgebot; dabei setzt er sich von der radikalen Unterscheidung von Agape und Eros ab. Er legt den biblischen Sinn des Liebesgebotes (v. a. in Lev 19,18 b) relativ einseitig fest - auf die Bewältigung des negativen Affekts, etwa des Zornes gegenüber dem Nächsten, der dadurch zum Feind würde (60 f.). Da die Menschen das Innere erst allmählich entdeckt haben und Augustins "Bekenntnisse" eine wichtige Station auf dem Wege dieser Entdeckung sind, wäre zu fragen, ob die Beobachtung der Affekte ohne ihre sozialen Auswirkungen bereits in Lev erfolgt sein kann. Zu erinnern wäre, dass der Fluch, der dem Tauben gilt (Lev 19,14), im selben Zusammenhang verboten ist, weil er eine Kraft nach außen entfaltet, nicht aber, weil er die Gesinnung verdirbt.

Der Vf. kämpft mit einer spezifisch protestantischen Auslegung des Liebesgebotes als eines Mittels, den Sünder der Selbstliebe zu überführen. Darum nimmt er den Gedanken der Gegenseitigkeit in der Erfüllung der Liebe auf und bemüht die Freundschaft, wobei er großzügig darüber hinwegsieht, dass Luther die göttliche Liebe aufgrund ihrer Kraft, das nicht Liebenswerte liebenswert zu machen, bestimmt hat. Der Vf. bleibt auf der Seite des Thomas von Aquin, wenn er den aristotelischen Gedanken der Freundschaft auf die Gottesbeziehung erweitert und die Liebe zu Gott darin gipfeln sieht (182). Da-rin sei auch die Freundschaft zu sich selbst begründet. Dann wird die Feindesliebe nicht mehr zum Kriterium der Liebe werden, obwohl das vor allem in der neutestamentlichen Exegese immer wieder angenommen wird. Die Parallele von Glaube und Vernunft zeigten eine "verblüffende Nähe" des Denkens Thomas’ und Luthers (196).

Der größte Teil der Monographie erstreckt sich auf zum Teil sehr differenzierte Textinterpretation, die manchmal die Einordnung in größere Zusammenhänge (zum Beispiel die reformatorische Wende) vermissen lässt. Trotzdem hat sie eine systematische Absicht. Sie wendet sich gegen eine Ethik, die von einem Prinzip her dirigiert wird. Der Akzent des Liebesgebots liege nicht in der Universalisierung, also in einer formalen und prüfenden Struktur, die sich an konkreteren Normen des Alltags bewähren müsste. Die Hauptabsicht des Liebesgebots sei die "Vermeidung bzw. Verarbeitung von Haß" als einem negativen Affekt (66). Vielleicht sucht der Vf. damit den Zugang zu einer posttraditionellen Moral, wie er sie u. a. bei Tugendhat zu finden meint (37). Sie soll dem persönlich geführten Leben und damit der Biographie zu einer ’story’ verhelfen und das Liebesgebot nicht auf Reziprozität einschränken.

Ethik ist allemal Reflexion über gelebte Moral, vor allem, wenn Grundsätze dieser Moral in einen Konflikt miteinander geraten oder in konfligierenden Situationen schwer zur Anwendung zu bringen sind. Moralische Identität wird sich im Haushalt der Affekte niederschlagen; sie kann in festen Haltungen (die nicht mit den überkommenen Tugendkatalogen identisch sein müssen) zum Ausdruck kommen. Kritische Moral braucht allerdings solche ’stories’, aber auch die Alltagszusammenhänge transzendierende Regeln und Gesichtspunkte. Ob sie in Tugenden gefunden werden können, ist höchst fraglich. Eher wären jene Menschenbilder kritisch zu prüfen, die sich in Tugenden niederschlagen und häufig zeit- und sozialbedingt sind. Hier gilt es, Perspektiven gelingenden Lebens auf dem Hintergrund gesamtbiblischer Theologie geltend zu machen, aber nicht allein ein auf Affekte zugespitztes Liebesgebot. Mit der Perspektivierung des Lebens wird auch deutlich, dass die Einübung im Glauben von der Einübung in der Moral, besser: im geheiligten Leben, zu unterscheiden ist und die Tugenden als "dauerhafte Charakterzüge" (112) nicht mit jener Einübung zusammenfallen, die Luther gemeint hat (vgl. 224). Die Identität der Christen ist komplexer. Warum hat der Vf. übersehen, dass Joest, der zwischen einem ,simul’ des Gerecht- bzw. Sünderseins und einem ,partim’ unterschied, beides miteinander verbinden wollte und nur im ,partim’ einen Progress des Lebens sah? Gerade diese Unterscheidung wäre für eine Tugend- und Affektenlehre von Belang.