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Ausgabe:

März/2021

Spalte:

189-192

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Im Auftrag d. Heidelberger Akademie der Wissenschaften hg. v. Ch. Mundhenk. Begr. v. H. Scheible.

Titel/Untertitel:

Melanchthons Briefwechsel. Kritische und kommentierte Ge­samtausgabe. Textedition. Bd. T 20: Texte 5643–5969 (Oktober 1549 – Dezember 1550). Bearb. v. M. Dall’Asta, H. Hein u. Ch. Mundhenk.

Verlag:

Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 2019. 494 S. Lw. EUR 298,00. ISBN 9783772826627.

Rezensent:

Michael Beyer

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:


Bd. T 18: Texte 5011–5343 (Januar – Oktober 1548). Bearb. v. M. Dall’Asta, H. Hein u. Ch. Mundhenk. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 2018. 628 S. Lw. EUR 298,00. ISBN 9783772826603.
Bd. T 19: Texte 5344–5642 (November 1548 – September 1549). Deutsch / Latein. Bearb. v. M. Dall’Asta, H. Hein u. Ch. Mundhenk. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 2019. 621 S. Lw. EUR 298,00. ISBN 9783772826610.


Die Heidelberger Melanchthon-Forschungsstelle hat die Herausgabe von Philipp Melanchthons Briefwechsel bis zum Jahresende 1550 in der gewohnten Weise weitergeführt. In der Regel sieht MBW.T ein Jahr des Briefwechsels für einen Band vor. Die letzten drei Bände (T 15–17) mussten jedoch den Briefwechsel für nur zwei Jahre aufnehmen. Nun ist der vertraute Rhythmus zwar wiederhergestellt, aber die große Anzahl von Briefen und Gutachten für das Jahr 1548 verteilt sich auf Band 18 und mit mehr als 100 Seiten noch auf Band 19. Das Jahr 1549 reicht ebenfalls mit etwa 100 Seiten bis in den Band 20, der anschließend das Material des ganzen Jahres 1550 bietet. Die Bände enthalten wieder eine größere Anzahl von ganz bzw. teilweise bisher ungedruckten Stücken. Die Schwierigkeiten der Briefedition für das Jahr 1548 seien – so die Herausgeberin im Vorwort zu Band 18 – so groß gewesen, dass sich die Forschungsstelle »phasenweise am Rand der Verzweiflung« befunden habe.
Umso erfreulicher ist es, dass Wege gefunden wurden, das Material dieses für Melanchthon und die ganze evangelische Christenheit besonders herausfordernden Jahres zu bewältigen. Neben dem Dank an ihre Mitbearbeiter nennt sie den Mitarbeiter Tobias Gilcher, den Setzer Michael Trauth sowie den Altmeister und Nestor der gegenwärtigen Melanchthonforschung, Heinz Scheible, der sich trotz seines hohen Alters weiterhin mit um die gute Qualität der Bände verdient macht. Dass es Scheible 2019 gelungen ist, einen weiteren Band seines großen Personenkommentars (MBW 13: Personen L–N) herauszubringen, muss Gegenstand einer weiteren Rezension sein. Wie bei den vorangehenden Rezensionen können aus der Menge des edierten Materials leider nur einige besonders herauszuhebende Themen angesprochen werden.
Es erscheint sinnvoll, den Faden aus dem Vorwort zu MBW.T 18 aufzunehmen, in welchem die Herausgeberin auf drei besonders herausfordernde Schriftstücke hinweist: Nr. 5208 enthalte mit 31 Seiten ein recht langes Dokument, Nr. 5139 verfüge über eine außergewöhnlich reiche handschriftliche und gedruckte Textüberlieferung und in Nr. 5343 schließlich erwarte den Leser eine stark differierende Textüberlieferung, die vor die Aufgabe stellt, besondere Wiedergabekriterien zu beachten. Das lange Stück, Nr. 5208, gehört mit zahlreichen anderen, teilweise ebenfalls länge-ren, in den Zusammenhang der weitgehend deutschsprachigen Überlieferung zu den Reaktionen Melanchthons sowie anderer sächsischer Theologen und Politiker einschließlich des Kurfürsten Moritz auf das Augsburger Interim, mit dem Kaiser Karl V. eine einheitliche Kirchenordnung im Reich errichten wollte. Sie beginnt mit einem Gutachten Melanchthons an den Rat Georg von Komerstadt vom 31. März 1548 in Altzella. Melanchthon lehnt das Interim grundsätzlicher ab, macht aber in Fragen der Kirchenleitung und der äußeren Dinge (adiaphora) auch einige Zugeständnisse an die Gegenseite (18, 5105). Die Überlieferung schließt die Dokumentation einer großen Anzahl von Gutachten aus Wittenberg und anderen sächsischen Tagungsorten für Kurfürst und Landstände sowie deren Gegenreaktionen, etwa in Leipzig, Pegau (Pegauer Artikel) und Altzella (Cellische Artikel) ein und reicht bis in den April 1549. Da wurde in Grimma über die von Fürst Georg von Anhalt, Melanchthon und anderen sächsischen Theologen inzwischen erarbeitete, aber nicht öffentlich publizierte neue Kirchenordnung (die so genannte »Georgs-Agende«) beraten. (19, 5512). Das so genannte »Leipziger Interim«, das mit zum Initial der innerevangelischen Streitigkeiten in der zweiten Hälfte des 16. Jh.s wurde und hier korrekt als »Empfehlung einer evangelischen Interimsordnung für Kursachsen« durch Fürst Georg von Anhalt, Melanchthon, Johannes Pfeffinger, Joachim Camerarius und Daniel Greser bezeichnet ist (19, 5387), kann jetzt zusammen mit der darüber geführten Diskussion intensiv studiert werden (19, 5386.5388 f.).
Ebenfalls in den Zusammenhang der notwendigen Bewahrung des evangelischen Glaubens gegenüber der Beibehaltung zumutbarer, traditioneller kirchlicher Riten gehören Teile des Briefwechsels zwischen Melanchthon und dem Erzbischof von Canterbury. Thomas Cranmer hätte Melanchthon gern in England gesehen, um sich seiner Hilfe bei der Lösung der komplizierten englischen Kirchenverhältnisse bedienen zu können. Beider Überlegungen richteten sich ansatzweise sogar bis auf die mögliche Gestaltung einer Lehrordnung der evangelischen Kirchen (»integrum corpus verae doctrinae«), die länderübergreifend zu erarbeiten sei (vgl. 18, 5205, 10 f.; siehe auch 5103.5144.). An Cranmer richtete Melanchthon am 1. März 1549 auch die Widmungsvorrede auf ein Werk des Mat-thias Flacius Illyricus (19, 5466), der sich aufgrund von Melanchthons Haltung gegenüber dem Interim vom Freund zum Gegner entwickelte, zu diesem Zeitpunkt bereits Melanchthon gegenüber Zweifel an dessen Standhaftigkeit hegte und das auch in Briefen an ihn artikulierte (vgl. 18, 5340; 19, 5382). Wenig später wurde die Haltung des Flacius offenkundig (vgl. 19, 5519.5556 – mit Erwähnung des Melanchthonbriefes an Christoph von Carlowitz, siehe unten zu 18, 5139.5655).
Es zeigt sich einmal mehr die nicht genug zu lobende Entscheidung aus den Anfängen von MBW, eine Trennung von Regesten- und Textbänden vorzunehmen und beide Textsorten durch eine Binnengliederung zu verbinden. Diese darf man getrost als annotierte dispositio bezeichnen. Eigentlich stellt sie eine kongeniale Rezeption des alle Textsorten klar gliedernden und sich an die Regeln der inventio haltenden Reformators dar. Aufgrund des freien Zugangs zu den Regesten über www.hadw-bw.de/mbw-regest (neue Web-Adresse!) ist das gemeinsame Benutzen von Textgliederung und Text noch einmal optimiert worden. Weil sich die Regesten in ihrer digitalen Form fortwährend verbessern bzw. anreichern lassen – so z. B. bereits mit den neu aufgefundenen Stücken 6225a, 6240a, 6282a –, sollte allerdings auch einmal überdacht werden, ob es nicht sinnvoll wäre, den Eintrag von Forschungsliteratur zu verbreitern.
Das sollte zumindest dort geschehen, wo – wie in Nr. 5139, lt. Vorwort in MBW.T 18, 7: »Melanchthons berüchtigtes Schreiben an den kursächsischen Diplomaten Christoph von Carlowitz« vom 28. April 1548 aus Altzella – unter Gliederungspunkt [3] Folgendes zu lesen ist: »M. wird sich der Entscheidung des Kf. fügen, wie er sich Luther fügte, auch wenn dieser lieber seiner Streitsucht frönte als dem Gemeinwohl diente.« Dabei handelt es sich um eine paraphrasierend-verdichtende Wiedergabe von »Ego cum decreverit princeps, etiamsi quid non probabo, tamen nihil seditiose faciam, sed vel tacebo vel cedam vel feram, quidquid accidit. Tuli et antea servitudem pene deformem, cum saepe Lutherus magis suae naturae, in qua φιλονεικία erat non exigua, quam vel personae suae vel utilitati communi serviret« (18, 210,15–211,19). Der schwierige Text kann durchaus so interpretiert werden, wie im Regest zu 5139 [3] geschehen. Allerdings gibt es nach 1966 (so der Hinweis auf einen Forschungsbeitrag in der Rubrik »Fundort«) zumindest zwei Beiträge (Hans Kurig: Philipp Melanchthon über sich und Martin Luther: Was schrieb Melanchthon im April 1548 an Chris-toph von Carlowitz?, in Lutherjahrbuch 67 [2000], 51–60, und Timothy J. Wengert: »Not by nature philoneikos«, in: Politik und Bekenntnis: die Reaktionen auf das Interim von 1548, hgg. v. I. Dingel u. G. Wartenberg, Leipzig 2007, 33–49), die die Regesten-Interpretation – sie knüpft an eine absichtlich für Melanchthon negativ konnotierte zeitgenössische Übersetzung aus dem entstehenden gnesiolutherischen Lager an – erheblich relativieren. Eher sei hier ein Vergleich der Gaben beider Reformatoren durch Melanchthon in Erwägung zu ziehen, der ähnlich wie die Vergleiche aus der Lutherüberlieferung auf eine ehrenvolle Beurteilung des je anderen hinausläuft. Da das Luther-Melanchthon-Verhältnis relativ oft zum Gegenstand von Auseinandersetzungen gemacht wird und sich bis heute auf die Interpretation der innerlutherischen Streitigkeiten in der zweiten Hälfte des 16. Jh.s auswirkt, wäre es hilfreich, die Paraphrase in 5139 [3] zu entschärfen und unter der Rubrik »Nachträge« die beiden genannten Titel nachzutragen.
Die für diesen Brief als besonders herausfordernd empfundene, sehr breite Textüberlieferung (18, 205–209), die sowohl das große zeitgenössische Interesse an Melanchthons Haltung zum Interim als auch seinen Widerhall in der Forschung spiegelt, ist mustergültig aufbereitet. Als letzte deutsche Textüberlieferung wird hier der in Auszügen gegebene Text der kleinen Sammelausgabe von Hans-Rüdiger Schwab, Philipp Melanchthon: der Lehrer Deutschlands: ein biographisches Lesebuch, München 1997, 208, genannt. Mit geringer Abweichung ähnelt er der Regesten-Lesart. Soweit mir bekannt ist, gibt es keine neuere Edition des gesamten Melanchthon-Briefes an von Carlowitz in deutscher Sprache mit der alten oder einer ausgleichenden Lesart. Allerdings gibt es sowohl bei Kurig als auch bei Wengert längere Passagen davon in deutscher bzw. englischer Sprache. Was läge näher, als die genannte Engführung wie auch nachträglich gesichtete Fehler in den Regest- bzw. Textbänden in den elektronischen Regesten kenntlich zu machen bzw. zu modifizieren? Dass die Pflege elektronischer Ressourcen einen erheblichen technischen Kraftaufwand und auch große Umstellungen im wissenschaftlichen Publizieren nach sich zieht, ist keine neue Nachricht. Welches Gewicht jedoch die elektronische Kommunikation für die Forschung in Zukunft haben wird, dürfte gerade aufgrund der gegenwärtigen Pandemie-Situation klar vor Augen stehen.
Die komplizierte Überlieferung in einer Abhandlung Melanchthons über das Messopfer von Ende Oktober 1548 in 18, 5343, führte zu der Entscheidung, den Text nicht nur mit der gewohnten Auflistung von Varianten im Apparat auszustatten, sondern ihn teilweise wegen zu großer Abweichungen durch Paralleldruck wiederzugeben. Diese Schrift war eine Vorarbeit zu einem Mitte Dezember 1548 in Jüterbog bei Verhandlungen zwischen den Kurfürsten von Sachsen und Brandenburg eingebrachten Text (19, 5384), mit dem eine gemeinsame evangelische Messordnung angestrebt wurde und der u. a. auf Überlegungen des altgläubigen Ju-lius von Pflugk antwortete. Kurbrandenburg lehnte sich jedoch unter dem Einfluss des ehemaligen Melanchthonfreundes und späteren Feindes, Johannes Agricola aus Eisleben, in der Folgezeit eng an das kaiserliche Interim an. Die darüber geführte Korrespondenz Melanchthons, u. a. mit dem Berliner Propst Georg Buchholzer, wie überhaupt alle Zusammenhänge zwischen den in MBW.T abgedruckten Texten lässt sich leicht über die Verweise in den Regestenbänden und noch effektiver in den elektronischen Reges-ten finden.
MBW.T 20 setzt mit Nr. 5643 – einem offenen Brief Melanchthons an Mathias Flacius Illyricus in Magdeburg vom 1. Oktober 1549 – die Auseinandersetzung über Melanchthons vermeintlich Glauben und Kirche beschädigende Zugeständnisse in Reaktion auf das kaiserliche Interim fort. Der Wittenberger verteidigt seine Haltung u. a. mit dem Hinweis auf den Schutz der Gemeinden, verweist auf das Festhalten an den Zeichen der wahren Kirche, zeichnet die gemeinsam mit Luther verantwortete Lehrentwicklung nach und verwahrt sich gegen Flacius’ ehrverletzende Unterstellungen. In seiner die Vorwürfe verschärfenden Antwort (5655) bemüht Flacius u. a. Argumente für Melanchthons vermeintliches Versagen auf dem Augsburger Reichstag 1530 und spricht expressis verbis von den durch das »Lipsicum Interim« eingerissenen Missständen. Auch führt er mehrfach den oben erwähnten Brief an Christoph von Carlowitz (18, 5139) an und kolportiert Melanchthon, der nunmehr »liberatus a tyrranide Lutheri« (59.389 f.) für alle gegenwärtigen Probleme der Kirchen verantwortlich sei. Der sich immer mehr ausweitende Streit ist in den Briefen des Jahres 1550 allgegenwärtig und wird auch durch die Außenwahrnehmung gespiegelt: Johannes Calvin beklagt in seinem Brief an Melanchthon vom19. Juni 1550 (5830), dass der Streit zwischen Wittenberg und Magdeburg ein unwürdiges Schauspiel biete und damit Wasser auf die Mühlen der Anhänger des Papsttums führe. Melanchthons nachgiebige Haltung gegenüber der äußeren kirchlichen Praxis sei ein Problem, aber er verstehe auch die Sorge Melanchthons um die Kirche. Leider ist keine Antwort des Wittenbergers auf diese sehr respekt- und ehrenvolle Einlassung überliefert.
Auch wenn in den Bänden 18 und 19 die großen kirchenpolitischen Ereignisse breiten Raum einnehmen und die sonst so vielgestaltige Korrespondenz etwas zurückgesetzt scheint, gibt es eine Konstante im Austausch mit dem Freund Joachim Camerarius in Leipzig, dem Melanchthon häufiger schreibt als anderen. Das setzt sich auch in Band 20 für das Jahr 1550 fort. Regelmäßiger Austausch besteht auch mit Johannes Mathesius, der in St. Joachimsthal unter dem böhmischen König und Kaiserbruder Ferdinand sein evangelisches Pfarramt führen muss.
Die Bände sind wie bisher mit Absender- und Adressatenverzeichnis, Bibelstellenregister sowie Personen- und Zitatenverzeichnis ausgestattet, deren Lektüre dazu hilft, den Reichtum, den die Mitarbeiter an dieser Edition so zuverlässig heben, für das Melanchthonstudium fruchtbar zu machen. Ihnen sei ausdrücklich gedankt!