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Ausgabe:

April/2000

Spalte:

432–435

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Schröder, Winfried

Titel/Untertitel:

Ursprünge des Atheismus. Untersuchungen zur Metaphysik- und Religionskritik des 17. und 18. Jahrhunderts.

Verlag:

Stuttgart: Frommann 1998. 619 S. gr.8 = Quaestiones, 11. Lw. DM 167,-. ISBN 3-7728-1918-4.

Rezensent:

Detlef Döring

Vorzustellen ist im Folgenden ein Buch, das auf der einen Seite zu den beeindruckendsten Publikationen der letzten Jahre zur Geistesgeschichte der Frühen Neuzeit zu rechnen ist und dem doch auf der anderen Seite nach Auffassung des Rez. mit Nachdruck widersprochen werden muss. Der Autor, europaweit unbestritten einer der führenden Vertreter der Clandestinenforschung, hat sich einem Thema gewidmet, dessen Brisanz dem Leser nicht erst eigens erläutert werden muss. Er hat seine Aufgabe unter der wohl nur ihm möglichen Heranziehung des gesamten z. Zt. bekannten Quellenmaterials und unter souveräner Beherrschung der Literatur bewältigt. Ein äußerst umfangreicher Fußnotenapparat und eine weit über 100 Seiten umfassende Einzeldarstellung der "Hauptquellen" des Atheismus machen das Werk zum Handbuch und zur Quellensammlung. Bibliographie und (5) Register sind mustergültig. Viele der von Schröder vermittelten Erkenntnisse, Entdeckungen und Diskussionsansätze werden der Forschung entscheidend weiterhelfen. Daran kann und soll nicht gezweifelt werden; dennoch schleicht sich, umso weiter man in der Lektüre voranschreitet, wachsendes Unbehagen ein. Auf dessen Gründe sollen sich die folgenden Ausführungen konzentrieren.

Sch.s entscheidender Ansatz besteht in der Vorgabe, die Entstehung des Atheismus als rein philosophiegeschichtliches Thema behandeln zu wollen. Der von ihm postulierte "philosophische Atheismus" sei von allen religions- und kirchenfeindlichen Äußerungen eindeutig abzugrenzen. Der Gegner des Atheismus ist ihm nicht zuerst die christliche Religion und ihre Kirchen, sondern die "philosophische Theologie" (eine "Subdisziplin der metaphysica specialis"), deren genaue Definition man in Sch.s Buch allerdings vergeblich sucht. Nur "theoretisch ausformulierte Artikulationen des Atheismus" sollen Gegenstand der Untersuchung bilden. Die Bestreitung der Existenz Gottes muss das absolute Zentrum einer solchen Anschauung bilden. Die frühesten entsprechenden "Artikulationen" findet Sch. in der Mitte des 17. Jh.s; seine Untersuchungen des atheistischen Schrifttums erstrecken sich von diesem Zeitpunkt bis in die zweite Hälfte des folgenden Jahrhunderts. Seine Darstellung mündet in die provozierende These, dass der Atheismus bis weit in das 18. Jh. hinein den Zeitgenossen ein sacrificium intellectus zumutete; er hätte sich allen Wissenschaften der Zeit gegenüber in einem Widerspruch befunden ("Ruch der wissenschaftlichen Unseriosität"). Diesen "verstockten Narren der intellektuellen Szene" gegenüber hätte sich damals der Theismus in jeder Hinsicht überlegen gezeigt. Da für Sch. der entscheidende Maßstab für die Beurteilung eines Ideengefüges dessen Theoriehaltigkeit ist, muss er fast immerfort die Dürftigkeit und die Substanzlosigkeit der von ihm untersuchten atheistischen Positionen feststellen: Es sind keine Philosophen, denen wir hier ins Gesicht blicken.

Der Atheismus besitzt für Sch. aber nur als theorieschwere Philosophie eigentliche historische Lebensberechtigung. Dass der Weg zum Atheismus allein im Bereich der philosophischen Diskussion zu suchen ist, versucht Sch. durch die Widerlegung aller in der bisherigen Forschung behaupteten Gründe für das Entstehen des Atheismus zu belegen. Zugleich geht es darum, die Schwäche atheistischer Positionen zu demonstrieren: Niemals hätten die Atheisten eine Chance besessen, sich mit ihren dürftigen Lehren Geltung verschaffen zu können. Die modernen Naturwissenschaften, die bei unserem Thema meistens zuerst als eine Wurzel des Atheismus angeführt werden, gehen für Sch. bis in die Zeiten Darwins mit dem Theismus konform; ganz im Abseits der großen Heerstraße der wissenschaftlichen Entwicklung bewegen sich dagegen die Atheisten; sie immunisieren sich "gegen die Ergebnisse der empirischen Wissenschaften". Sch. kann ein solches Bild entwerfen, da für ihn bereits im 17. Jh. im Wesentlichen das moderne naturwissenschaftliche Weltbild gefestigt dasteht. Das von ihm in den atheistischen Schriften ausführlich nachgewiesene Aufgreifen von Elementen der spekulativen Naturphilosophie der Antike und der Renaissance, das Berufen auf verschiedene Parawissenschaften kann dann nur den Beweis ärgsten Hinterweltlertums erbringen: Die Atheisten sind in ihren Anschauungen vormodern, archaisch.

Der Vf. unterliegt damit dem lange Zeit von den modernen Wissenschaften verbreiteten Mythos, sie hätten sich im totalen Bruch, im entschiedenen Kampf gegenüber ihren vormodernen Vorläufern herausgebildet. Dem ist nicht so! "Altes" und "Neues" befanden sich lange Zeit in einer Gemengelage und vieles am "Neuen" wäre ohne "Altes" nicht denkbar. Wenn sich also im atheistischen Schrifttum vormoderne Theoreme finden, bedeutet dies nichts Außergewöhnliches. Auch die Urzeugungslehre, deren Behauptung in mehreren Texten von Sch. als ein besonders schlagender Beweis für die "Narretei" der Atheisten betrachtet wird, da jene Lehre seit Ende des 17. Jh.s völlig obsolet gewesen sei, ist noch bis ins 19. Jh. immer wieder ernsthaft vertreten worden. Entscheidend ist im Übrigen, dass überhaupt die Idee aufkommen konnte, die Entstehung der Welt und die Entwicklung des Lebens ohne Annahme der Existenz Gottes erklären zu können. Dass dies auf relativ bescheidener theoretischer Ebene geschah und unter Heranziehung sich als falsch erweisender wissenschaftlicher Theorien, spielt dagegen eine untergeordnete Rolle. Auch das kopernikanische Weltbild z. B. konnte sich lange Zeit nicht durchsetzen, weniger auf Grund des sich ihm entgegenstellenden Widerstandes, sondern bedingt durch seine unübersehbare Begründungsschwäche, die das ptolemäische Weltbild als weitaus überlegen erscheinen ließ.

Auch die Bibel- und Dogmenkritik kann Sch. nicht als Einfalls-tor des Atheismus erkennen; von der Bibelkritik führe "kein Weg zum Atheismus". Wohl sei die Religionskritik eine "Strategie zugunsten der Atheisten" gewesen soweit es um den Kampf gegen die Offenbarungstheologie ging, aber in der Auseinandersetzung mit der "Rationaltheologie" war sie ganz und gar untauglich. Vielmehr sei durch diese Kritik die "Rationaltheologie" stabilisiert worden. Belegt wird dies mit dem Hinweis, die Bibelkritik habe von keiner metaphysischen Position aus operiert, sei theoretisch anspruchslos gewesen, da sie ja nur historische Belege gesammelt habe. Den "Gott der Philosophen" habe sie so "ganz unberührt" gelassen. Dass diesen "historischen Belegen" eine ungeheure Sprengkraft innewohnte, wird von Sch. völlig verkannt, es gilt eben allein der "theoretische Anspruch." Auch das Konzept der natürlichen Religion, die der Offenbarungsreligion entgegengestellt werden konnte, habe nicht die Entstehung des Atheismus vorbereitet, sondern letztlich doch immer die "philosophische Theologie" gestützt, selbst in ihrer Schwundform habe sie doch nie die Existenz Gottes geleugnet. Die nicht gerade seltene Auffassung, der neuzeitliche Rationalismus habe zur Herausbildung des Atheismus beigetragen, ist für Sch. "kaum eine ernsthafte Prüfung" wert. Die menschliche Vernunft sei immer als Ableitung aus der göttlichen Vernunft verstanden worden; eine "theoriegeschichtliche Filiation" des Atheismus aus dem Rationalismus sei daher schlechterdings nicht möglich. Die einhellige von den orthodoxen und pietistischen Theologen ausgesprochene Warnung vor der Überbewertung der Vernunft im Bezug auf Glaubensfragen ist dann nur "das vage Lamento" der "alten theologischen Apologetik".

Hat Sch. bisher auf den Atheismus in seiner materialistischen Ausprägung geblickt, so entdeckt er doch noch eine andere Entwicklungsrichtung des von ihm untersuchten Phänomens. Hier endlich findet er auch den von ihm bisher so vermissten theoretischen Anspruch. Den agnostischen Atheismus, eine Wortschöpfung Sch.s, könne man als die ars sanior des Atheismus bezeichnen, da er mit der Anknüpfung an die antike Skepsis tatsächlich philosophischen Gehalt gewonnen habe. Am Anfang stehen die Fideisten (u. a. Montaigne und Charron), die der Vernunft das Recht absprechen, in Glaubensdingen Aussagen treffen zu können: Man habe sich den Lehren der Offenbarung und der Kirche diskussionslos zu unterwerfen. Die Fideisten verfolgen damit eine "apologetische Zielsetzung", wobei die Gründe für eine solche Entwicklung in Sch.s Ausführungen nicht recht deutlich werden. Da nach seiner Auffassung die Philosophie, d. h. der Gebrauch der Vernunft, bis zum Ende des 18. Jh.s "fast einhellig" der Verteidigung der Religion wider die Atheisten diente, wäre eine solche gegen die Vernunft gerichtete Apologie ja eigentlich nicht nötig gewesen? Mit ihrem Tun zerstören die Fideisten die Grundlagen der "theologischen Philosophie" ("Aushölung der Rationaltheologie"), was die theorieschwachen Atheisten nie und nimmer aus eigener Kraft hätten bewerkstelligen können. Sie brauchten jetzt nur noch zuzugreifen und das Arsenal der Argumente des Skeptizismus nutzen, um gegen den Theismus Front zu machen. So bleibt, folgt man dem Autor, die Rezeption einer antiken Philosophenschule als einzige nachweisbare Erklärung für die Entstehung des Atheismus. Die postulierte reine Philosophiegeschichtsschreibung unter Absehung aller anderen historischen Vorgänge erreicht hier ihre Vollendung.

In seiner "Schlußbemerkung" muss Sch. konstatieren, dass die Ursachen für die Entstehung des Atheismus ihm weithin unerkannt geblieben sind. Warum die seit der Antike vorliegenden (pyrrhonistischen) "Bausteine einer Kritik der philosophischen Theologie" erst in der zweiten Hälfte des 17. Jh.s "zu einer atheistischen Strategie gebündelt wurden, ist aus der Philosophie- und Theologiegeschichte nicht verständlich zu machen". Immerhin ist hier noch wenigstens eine theoriegeschichtliche Erklärung möglich.

Ganz unverständlich ist das Aufkommen des materialistischen Atheismus, dem Sch. gar "keine historische Signatur" zuzuschreiben vermag. Er ist eine Anomalie, eine "Willkür", die durch "einen philosophiehistorischen Rekonstruktionsversuch nicht eingeholt werden kann." Mit dieser Kapitulation enden Sch.s Ausführungen im Hauptteil seines Buches. Sie bildet das zwangsläufige Ergebnis der Prämissen, die er am Beginn seiner Untersuchung setzte. Wer die Geschichte des Atheismus aus der allgemeinen Historie herauslöst, zum Thema der reinen Philosophiegeschichte, d. h. der bloßen Theoriegeschichte macht, operiert ahistorisch und wird niemals die Entstehung dieses Phänomens der Geschichte wirklich erklären können. Ein allein philosophiegeschichtlicher Vorgang, das Auftreten des neuzeitlichen Pyrrhonismus, wird dann zur einzigen vorzeigbaren Erklärung für den Ursprung des Atheismus! Das so reiche Quellenmaterial, welches der Vf. beibringt, verdeckt nur oberflächlich die Tatsache, dass Schröder, wie er selbst bekennt, die "interdisziplinäre Historiographie, deren Erträge doch nur spekulativ sind", entschieden ablehnt.

Wer unter Absehung des jeweiligen historischen Kontextes nur die Theorien der "Philosophen" und der "Atheisten" analysiert und vergleicht, um dann das dürftige Niveau der Letzteren zu konstatieren, verbaut sich zwangsläufig den Blick für eine überzeugende Erklärung der von ihm beobachteten Phänomene. Den Ursprüngen des Atheismus kommt man nicht auf die Spur, wenn sich das Interesse allein theoriegeschichtlichen Entwicklungen zuwendet. Sch.s erwähntes Fazit ist dafür der beste Beweis. Nur die Überschreitung der Grenzen der Theoriegeschichte unter dem Vorzeichen der interdisziplinären Historiographie kann einer komplexen Erscheinung der Geschichte, wie sie der Atheismus darstellt, gerecht werden. Sch.s Buch, das als imponierende intellektuelle Leistung vom Rez. voll und ganz respektiert wird, bildet daher letztendlich eine Sackgasse der Forschung.