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Ausgabe:

März/2021

Spalte:

160-163

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Millar, Suzanna R.

Titel/Untertitel:

Genre and Openness in Proverbs 10:1–22:16.

Verlag:

Atlanta: Society of Biblical Literature Press 2020. 285 S. = Ancient Israel and Its Literature, 39. Kart. US$ 39,00. ISBN 9781628372724.

Rezensent:

Frédérique Dantonel

Die Promotionsschrift von Suzanna R. Millar, die an der Cambridge University unter der Betreuung von Katharine Dell entstanden ist und 2018 als Dissertation angenommen wurde, möchte nachweisen, dass der Spruchweisheit, nämlich Prov 10,1–22,16, sowohl eine didaktische als auch eine sprichwörtliche Funktion zukommen. Diese Sprüche stünden also in einer engen Beziehung zu zwei Gattungen: der didaktischen Unterweisung und dem Volksspruch. Dabei stünden diese beiden Gattungen in Beziehung zueinander und könnten neue komplexe Gattungen erzeugen. Prov 10,1–22,16 seien als didaktische Sprüche zu betrachten, die mit den Mitteln der Polysemie, des Parallelismus Membrorum und der Bildsprache eine literarische Offenheit zeigen. Diese Offenheit würde den Leser zu einer doppelten Strategie der Interpretation und des Gebrauchs einladen: zu einer didaktischen und zu einer sprichwörtlichen Strategie. Um die einschlägigen Proverbien zu erschließen, setzt M. mit der Paremiologie und der kognitiven Hermeneutik ein.
Nach einer Einführung, in der M. ihre Zielsetzungen nennt, die beiden Begriffsfelder »Didaktische Proverbien« und »Offenheit« allgemein definiert und einen kurzen Überblick über den Aufbau der Arbeit gibt (1–14), befasst sie sich in einem ersten Teil mit der »Offenheit der Didaktischen Proverbien« (17–85). M. erschließt die Begriffsfelder »Didaktisches Proverb« (17–44) und »Literarische Offenheit« (45–72), um dann ihren Ansatz einer »Offenheit für didaktische und sprichwörtliche Zwecke« zu erläutern (73–85). Es folgt der aus vier Kapiteln bestehende Hauptteil der Arbeit (89–219), in dem sie sich vornimmt, einschlägige Proverbien aus der Komposition Prov 10,1–22,16 exemplarisch zu untersuchen, und sich das Ziel setzt, zu zeigen, wie die literarische Offenheit der Proverbien zu einer didaktischen und sprichwörtlichen Verwendung beiträgt. Sie fokussiert dabei auf vier wichtige Bereiche der Proverbienforschung: im Zentrum von Kapitel 4 steht die Rolle des Charakters, im Zentrum von Kapitel 5 der Zusammenhang von Handlung und Folge, Kapitel 6 befasst sich mit dem König und Kapitel 7 mit der Aneignung von Weisheit. Schluss, zwei synoptische Tabellen, Literaturverzeichnis, Bibelstellen-, Außenbibelstellen- und Namenregister beschließen die Arbeit (221–285).
Der Rekurs auf G. von Rads Annahme, die Proverbien hätten »eine eigentümliche Offenheit, etwas über sich Hinausweisendes, das den Raum für vielerlei Assoziationen freigibt, ja unter Umständen auch eine bildliche Ausdeutung nicht verwehrt« (G. v. Rad, Weisheit in Israel, 42013, 32 f.), ist der präzise Ansatzpunkt, von dem M. ausgeht (1 f.221), um sich vorzunehmen, die Offenheit der Prov 10,1–22,16 zu untersuchen. Dabei stehen drei Bereiche im Zentrum ihrer Untersuchung. Erstens prüft sie, inwieweit sich die gattungsmäßige Zuschreibung – nämlich »das didaktische Proverb« – rechtfertigen lässt. Zweitens zeigt sie, inwiefern Offenheit dazu beiträgt, dass die Proverbien sowohl eine didaktische als auch eine sprichwörtliche Funktion erfüllen. Drittens hält sie fest, in­wieweit die eine oder die andere Strategie in der Interpretation der Spruchweisheit die Ergebnisse der Forschung beeinflusst haben können.
Ein Sprichwort definiert sie formal als eine in sich geschlossene Einheit, oft kurz und prägnant, der ein direkter literarischer Kontext fehle. Die Bedeutung eines Sprichwortes könne stattdessen durch den sozialen Kontext ermittelt werden. In seiner Geschlossenheit hebe sich das Sprichwort vom Diskurs ab und kündige sich als zusammenfassende Bemerkung an (36). M. beobachtet, dass sich Verbindungen zwischen Sprüchen aus verschiedenen Teilen der Komposition feststellen lassen. Dabei würden die »Volkssprichwörter« des Korpus eine einzelne Instanz einer Kategorie darstellen. Obwohl sie nicht systematisch angeordnet seien, könne der Leser sie zu einem kohärenten System kombinieren, um sich einen Sinn in der Welt zu verschaffen. Indem er das tue, entfalte er seine ethi sche Vision und forme er seinen Charakter. Das kombinierte Gewicht der Sprüche werde für ihn zu einem ideologischen Fundament, auf dem er stehen könne, wenn er die Welt beobachte und in Angriff nehme (39: »His ethical vision is shaped and his character is formed. The combined weight of the sayings becomes for him an ideological foundation upon which to stand when observing and tackling the world«.) Aufschlussreich ist, dass M. ihre Annahme konsequent problematisiert: Die Sprüche können zwar kombiniert werden, jedoch fügen sie sich nicht perfekt zu einem wasserdichten System zusammen. Die Sprüche stehen sich oft mit leicht abweichenden Botschaften oder alternativen Standpunkten zum selben Thema gegenüber, sogar mit eklatanten Widersprüchen, wie dies z. B. der Fall mit Prov 26,4–5 sei (39).
M. bringt konsequent ans Licht, dass mehrere Aspekte der von ihr gewählten Vorgehensweise zur Untersuchung der Offenheit der Proverbien problematisiert werden müssen: 1) Die Proverbien weisen oft eine Polysemie auf, d. h. semantische oder grammatikalische Zweideutigkeiten oder gar Mehrdeutigkeiten. In einem Prov können polyseme Begriffe vorkommen, die in einem unklaren grammatikalischen Verhältnis zueinanderstehen, z. B. Prov 20,2 (185 f.). 2) Der Parallelismus Membrorum kann Interpretationsfragen stellen, denen sich klare kognitive Antworten entziehen, bzw. denen die Parömiologie keine klare endgültige Antwort geben kann, z. B. Prov 17,17; Prov 15,6 (58 ff.). 3) Die verschiedenen Bedeutungen von polysemen Begriffen können unterschiedliche kognitive Bedeutungsebenen haben. Sie müssen es aber nicht, zumal das, was der Leser von heute als Mehrdeutigkeit wahrnimmt, für den Leser der Erzählzeit und der Antike möglicherweise eindeutig war (66–72). 4) Die meisten biblischen Proverbien können nicht als festgefahrene Muster mit festgefahrenen Auslegungsmöglichkeiten aufgefasst werden. Biblische Proverbien, die Metaphern enthalten (z. B. 12,4: »Eine Frau der Stärke ist die Krone ihres Ehemannes«), sind von volkstümlichen Sprichwörtern, die Metaphern sind, zu unterscheiden (z. B. »Gleich und gleich gesellt sich gern«) (68). Während ein biblisches Sprichwort also sein Ziel spezifiziere (z. B. »eine ausgezeichnete Ehefrau«), tue dies ein Volkssprichwort nicht. Gerade weil die Metaphern und Metonymien eines volkstümlichen Sprichwortes durch wiederholte Verwendung konventionalisiert und in einem »mentalen Lexikon« (68) kodiert werden, verschließen sie sich der Offenheit ihrer Bildlichkeit. Daraus ergibt sich, dass die Metaphern und die Metonymien in einem biblischen Sprichwort anders als in einem volkstümlichen Sprichwort ausgelegt werden sollten. Schließlich mögen einzelne methodologische Schritte der Paremiologie zwar für die Untersuchung von volkstümlichen Sprichwörtern geeignet sein, für die Auslegung der didaktischen Sprichwörter der Bibel sind sie es nur sehr bedingt und mit einem gebührenden Maß an Vorsicht. Dies zeigt M. sehr überzeugend.
Zwei Prinzipien sind für M. leitend. Das erste formuliert sie im ersten Teil der Untersuchung: Offenheit erhöhe die didaktische Funktion der biblischen Sprichwörter erheblich und trage zu drei wichtigen Erziehungs- und Bildungszielen bei: 1. zu der Entwicklung einer Weltanschauung; 2. zu der Charakterbildung und 3. zu der Schulung des Intellekts. Offenheit trage im Besonderen zur Erziehung bei, indem sie die Weite der Bedeutung der Sprichwörter und gleichzeitig auch ihre Komplexität nach sich ziehe (73 f.). Mit dem zweiten Prinzip problematisiert sie den Tun- Ergehen-Zusammenhang: In mehreren Sprichwörtern (11,16.24; 21,6; 26,8; …) ermögliche die Polysemie zwei unterschiedliche Interpretationen. Die eine bejahe den Tun-Ergehen-Zusammenhang, die an­dere untergrabe ihn (155). Die Leser seien nicht zu einer bestimmten Interpretation gezwungen, sondern vielmehr ermutigt, Möglichkeiten zu erforschen, zu erwägen, abzuwägen und zu bewerten. M. macht deutlich, dass die Parallelismen den Lesern eine Möglichkeit bieten, Handlungen und Folgen abzuleiten, ohne jedoch den Prozess absolut zu bestimmen. Sie demonstriert, wie die po-lysemen Sprichwörter spannende Interpretationen zulassen, die den Tun-Ergehen-Zusammenhang – so wie er von K. Koch (1972) und H. H. Schmid (1968) definiert wurde – verletzen. Für M. ist ein »Haltung-Schicksal-Zusammenhang« bzw. eine »schicksalwirkende Tatsphäre« (B. Janowski, 1994) angemessener als ein »Tun-Ergehen«, zumal die Offenheit der Proverbien keinen Akteur spezifiziere, der den Zusammenhang hervorrufen würde. Die Of­fenheit lege nahe, dass irgendeiner von drei möglichen Akteuren – intrinsische Kausalität, JHWH oder die Gesellschaft – aktiv sein könnte (124–157).
Im Kapitel zur Offenheit der didaktischen Sprichwörter über den König geht es M. darum, zu zeigen, dass der König und die Höflinge wahrscheinlich als idealisierte Gestalten vorkommen, die eine pädagogische Vorbildfunktion erfüllen bzw. als Paradigmen fungieren sollen (189). Auch bei diesem Beispiel der Proverbien über den König muss M. lediglich feststellen, dass es auch Proverbien gibt, die den König negativ darstellen und somit anders zu interpretieren sind.
Schließlich systematisiert M. ihre Ergebnisse und sie formuliert ein Prinzip, das dazu beitragen soll, Weisheit zu erwerben (Prov 4,5.7) und zu bestimmen. Das Prinzip lässt sich mit zwei Begriffen zusammenfassen: (Ver-)trauen und Prüfen. Es ermöglicht ihr auch, mehrere exemplarische praktische Anwendungsmöglichkeiten vorzustellen.
Die Stärke dieses Buches liegt darin, innovative Anregungen zu bieten. In einer durchgehenden Diskussion mit der neueren und gegenwärtigen angelsächsischen und deutschen Spruchweisheitsforschung und mittels präziser Textbeobachtungen macht M. überzeugend deutlich, dass die Paremiologie und die kognitive Hermeneutik dazu beitragen können, der historisch-kritischen Exegese zu helfen, die Spruchweisheit sowohl als einzelne Proverbien als auch als Komposition auszulegen. Zudem weist sie auf die Notwendigkeit hin, die biblischen Sprichwörter nicht mit volkstümlichen Sprichwörtern gleichzustellen und folglich mit den einzelnen methodologischen Schritten der Paremiologie mit Umsicht einzusetzen. M. ist es gelungen, klar zu problematisieren, welche Fragestellungen der Text-Auslegung und -interpretation mit der Parömiologie allein nicht gelöst werden können.