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Ausgabe:

März/2021

Spalte:

154-156

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Bergmann, Claudia D.

Titel/Untertitel:

Festmahl ohne Ende. Apokalyptische Vorstellungen vom Speisen in der Kommenden Welt im antiken Judentum und ihre biblischen Wurzeln.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2019. 310 S. = Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament, 222. Kart. EUR 69,00. ISBN 9783170361348.

Rezensent:

Jan Heilmann

Die Bochumer Habilitationsschrift von Claudia D. Bergmann macht es sich zur Aufgabe, ein Desiderat der ritualgeschichtlichen Forschung antiker Mahlkultur einzulösen – die Untersuchung antik-jüdischer Vorstellungen von Mählern in der kommenden Welt und deren traditionsgeschichtlichen Inventars. Das Textkorpus, das der Studie zugrunde liegt, umfasst jüdische Texte mit apokalyp-tischem Gedankengut aus der Zeit vom 2. Jh. v. Chr. bis zum 2. Jh. n. Chr. Die Studie ist einem klar erkennbaren Schwerpunkt kulturwissenschaftlich-ritualtheoretisch orientierter Forschungsansätze zuzuordnen, der in zahlreichen anderen Publikationen B.s zum Ausdruck kommt.
Die Studie beschäftigt sich mit einem Thema, das in der Forschungsgeschichte unter dem Stichwort »eschatologisches Mahl« behandelt wird und vor allem als Topos des Neuen Testaments untersucht wurde. Dabei weist B. auf eine gängige These hin, und zwar »dass eine klare literarische Verbindungslinie zwischen den Mählern im Alten Testament […] und Texten der jüdischen Apokalyptik einerseits und den Mählern im Neuen Testament andererseits gezogen werden könne.« (36) Diese These basiere allerdings auf einer Behauptung. Denn die so genannten »eschatologischen Mähler« im Alten Testament und in apokalyptischen Texten, deren Genese und Unterschiedlichkeit sowie traditionsgeschichtlichen Beziehungen seien bisher nicht grundlegend untersucht worden. Anstelle der traditionellen Terminologie, Mähler, die als imaginiertes Geschehen »in eine idealisierte Zukunft hineinprojiziert« (11) sind, als »messianisch«, »eschatologisch« oder »apokalyptisch« zu charakterisieren, bevorzugt B. die terminologisch eindeutige und sinnvolle Bezeichnung »imaginiertes Mahl in der Kommenden Welt« (42).
B.s Untersuchung knüpft an eine breite ritualtheoretische und ritualgeschichtliche Forschungstradition und deren Anwendung auf die antike Mahlkultur an. Das Ziel der Untersuchung besteht darin, mithilfe anthropologisch orientierter Ritualtheorien den symbolischen Charakter und die rituellen Strukturen der imaginierten endzeitlichen Mähler zu untersuchen; außerdem literarische Konventionen und Topoi in komparatistischer Perspektive zu erschließen. Die Textuntersuchung ist nach systematischen Gesichtspunkten gegliedert. In vier Kapiteln werden die Speisen, der Ort, die Teilnehmer und die ordnenden Strukturen des imaginierten Mahles in der kommenden Welt behandelt. Innerhalb dieser Kapitel werden die relevanten Textpassagen sukzessive analysiert.
B. arbeitet ein spezifisches Inventar von Speisen heraus, das in Texten, die endzeitliche Mähler imaginieren, vorkommen kann. Es umfasse mit den Ur- und Endzeitwesen Leviathan und Behemoth fleischliche Nahrungsmittel oder Manna und die Früchte des Lebensbaumes. Letztere kommen am häufigsten vor. Kennzeichen des endzeitlichen Mahles sei außerdem eine besondere Fülle der imaginierten Speisen, die als Kontrast zu Erfahrungen des Mangels im Diesseits zu sehen sei. B. versteht die phantastischen endzeitlichen Speisen und die Fülle als ein Signum einer »Vision einer allumfassenden neuen Welt« (135), das den Lesenden, die sich mit den rechtgläubigen Menschen der Endzeit identifizieren sollen, eine neue, körperlich gedachte Identität verspricht. Dagegen wird das Trinken im Zusammenhang mit imaginierten endzeitlichen Mählern niemals thematisiert, möglicherweise weil es als Topos einer »übermäßigen Genusshandlung verstanden werden könnte« (119).
Mähler der kommenden Welt werden, wenn eine Ortsangabe vorhanden ist, im untersuchten Textkorpus entweder in einem »die ganze Welt umfassenden Garten, auf dem Berg Gottes, [oder] im geographisch begrenzten Paradies/Eden« (265) imaginiert. Ein auffälliges Merkmal der imaginierten endzeitlichen Mähler sei sodann der weitgehend namenlose Teilnehmerkreis. Dieser er­scheine als undefinierte Masse und werde teilweise »mit einem ehrenden Titel wie ›Gerechte‹ oder ›Heilige‹ bezeichnet« (203). Auswahlkriterien für die Teilnehmer seien Glaubenstreue, ethisch korrektes Handeln und die Zugehörigkeit zu Israel. Zum Teil finden sich prominente Figuren aus den Erzählwelten des Alten Testaments als besondere Gäste in den Texten. Der Gesalbte wird aber weit weniger häufig als Teilnehmer des Mahles aufgeführt, als dies in der Forschungsliteratur behauptet wird; er nehme außerdem eher eine passive oder vorbereitende Rolle ein. Diese Charakteristika der dargestellten Kommensalität führt B. zu der Schlussfolge rung, dass es sich eher um eine symbolische Tischgemeinschaft handele. Es sei eine deutliche Spannung wahrnehmbar zwischen Körperlichkeit und Körperlosigkeit. Einerseits implizieren die Darstellungen des Mahls einen Geruchssinn, andererseits werde der Vorgang des Essens selbst nie beschrieben.
Ein zentrales strukturelles Merkmal des endzeitlichen Mahlgeschehens sieht B. darin, dass es mit dem Auftakt der Endzeit beginne, aber keinen Endpunkt habe. Hierarchien der Mahlteilnehmer untereinander würden nicht thematisiert. Die literarisch entworfenen, imaginierten Mähler der kommenden Welt, die »einen geographisch und zeitlichen Raum, in dem Neues und bereinigtes Altes imaginiert werden können« (270), darstellen, seien imaginiertes rituelles Handeln. Sie haben »verweisenden, vorwegnehmenden und identitätsstiftenden Charakter« (269) und als imaginierte Rituale eine Orientierungs- und Ordnungsfunktion, »innerhalb unsicherer Umstände soziale Strukturen neu zu bestimmen.« (270)
Ein wichtiges Ergebnis der Studie besteht darin, die Grundlage geliefert zu haben, eine gängige Beurteilung der Mahltexte aus Qumran kritisch zu bewerten. Der Vergleich der Mahltexte aus Qumran mit dem analysierten Material zeigt, dass jene sich strukturell, bezogen auf den traditionsgeschichtlichen Hintergrund und in der literarischen Ausgestaltung, fundamental von den literarischen Entwürfen des imaginierten Mahles in der kommenden Welt in der übrigen antik-jüdischen Literatur unterscheiden. Die Mahltexte aus Qumran können nicht mehr »als prominente Beispiele für das Mahlgeschehen in der Kommenden Welt oder [als] eine Antizipation desselben bewertet« (259) werden.
B.s Habilitationsschrift stellt eine sorgfältig an den Quellen erarbeitete Forschungsarbeit dar, die ein wichtiges Desiderat der antiken Mahlforschung einlöst. Ein besonderer Vorzug der Arbeit liegt darin, dass sie das Quellenmaterial gesammelt und in Übersetzung leicht zugänglich präsentiert. Die Darstellung ist sprachlich und strukturell sehr gut zugänglich, wenn auch an einigen Stellen leserlenkende Hinweise fehlen. Aus der Sicht des Rezensenten hätte der Dialog mit den Ergebnissen der ritualgeschichtlich orientierten Forschung zu Mählern in der griechisch-römischen Welt und insbesondere im jüdischen Kontext einen größeren Raum einnehmen müssen. Auch die Berücksichtigung von ikonographischen und archäologischen Zeugnissen insbesondere aus der Sepulkralkultur wird vermisst. Denn insbesondere die Wahrnehmung der Leserinnen und Leser von literarisch gestalteten imaginierten Mählern in der kommenden Welt wird im Rezeptionsprozess durch ihr Weltwissen und ihre eigene Mahlerfahrung determiniert gewesen sein. Diese Perspektive kommt in der Arbeit zu kurz. Exemplarisch hinzuweisen ist einerseits auf die Frage nach der Haltung beim Mahl – hier spricht B. ohne Diskussion grundsätzlich vom Sitzen beim Mahl (z. B. 225.264), obwohl dies für den gesamten Untersuchungszeitraum keinesfalls eindeutig ist; andererseits auf die Vorstellung imaginierter Außenmähler in der kommenden Welt. Diese hätten vor dem Hintergrund von in literarischen und ikonographischen Quellen, aber vor allem archäologisch bezeugten Mählern im Außenbereich weiter beleuchtet werden können. Aus der Sicht eines Neutestamentlers ist gerade in dieser Hinsicht der Vergleich mit neutestamentlichen Texten zu kurz gekommen (vgl. z. B. die Speisungserzählungen und Joh 21). Es ist zwar in arbeitsökonomischer Hinsicht verständlich, dass die neutestamentlichen Texte lediglich knapp in den Fußnoten erwähnt werden, zuletzt erscheint es aber so, als orientiere sich der Ausschluss der neutestamentlichen Texte aus dem Untersuchungskorpus (47 f.) eher an Disziplinengrenzen als an Sachfragen.