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Ausgabe:

April/2000

Spalte:

428–430

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Coriando, Paola-Ludovica [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

"Herkunft aber bleibt stets Zukunft". Martin Heidegger und die Gottesfrage.

Verlag:

Frankfurt/M.: Klostermann 1998. 232 S. 8 = Martin-Heidegger Gesellschaft Schriftenreihe, 5. Kart. DM 78,-. ISBN 3-465-02770-1.

Rezensent:

Martin Thurner

Das Denken Martin Heideggers ist unter den bedeutenden philosophischen Neuentwürfen des 20. Jh.s wohl derjenige, der innerhalb der Theologie die breiteste Wirkungsgeschichte hatte. Die sowohl im evangelischen (z. B. Bultmann) wie katholischen (z. B. Rahner) Bereich unmittelbar einsetzende Rezeption deutet auf eine, oft oberflächlich nicht auf den ersten Blick erkennbare, weil tiefere, innere Affinität beider Fragerichtungen. Der vorliegende Sammelband, in dem die Vorträge der 9. Tagung der Martin-Heidegger-Gesellschaft in Meßkirch 1997 publiziert werden, versucht die Verortung der theologischen Grund-Frage nach Gott im Denken Heideggers von verschiedenen, sowohl werkimmanenten wie aufschlussreichen externen Frageperspektiven aus zu ermitteln. Das im Titel vorangestellte Zitat ist ein Selbstzeugnis Heideggers für die Angemessenheit dieses Zuganges. ,Herkunft aber bleibt stets Zukunft’ ist die Antwort, die Heidegger in seinem Dialog "Aus einem Gespräch von der Sprache" (Ges.-Ausg. 12, 91 f.) auf eine Anfrage zu seinen theologischen Studien am Anfang seines Denkweges gibt.

Der erste, seinerseits wiederum ein Heidegger-Wort aufgreifende Beitrag "Frömmigkeit im Denken" (17-44) kann zugleich als Einführung gelesen werden, weil er den Bogen über die gesamte inhaltliche Breite der Thematik spannt. Er stammt von Manfred Riedel, dessen in anderem Kontext entfalteter "Akroamatik" (vgl. Ders., Hören auf die Sprache. Die akroamatische Dimension der Hermeneutik. Frankfurt/M. 1990) ebenso im theologischen Kontext eine breitere Wirkungsgeschichte zu wünschen wäre. Riedel verfolgt die Entwicklung der Gottesfrage über die verschiedenen Phasen von Heideggers Denken: Die Begegnung mit Nietzsche führte zu einer Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Theologie, die erst nach der "Kehre" in der Annäherung an Hölderlin zugunsten einer neuen Öffnung der Gottesfrage entschieden wurde.

In den folgenden Beiträgen wird diese Gesamtsicht an detaillierten Einzeluntersuchungen zu verschiedenen mit der Thematik zusammenhängenden Fragestellungen aus den aufeinanderfolgenden Positionen von Heideggers Denkweg vertieft. Das nicht zuletzt im Hinblick auf atheistische Umdeutungen der Existentialanalyse von "Sein und Zeit" (Sartre) im Vorfeld einer Interpretation im Zusammenhang mit der Gottesfrage zu bedenkende Problem von "Heideggers theologische(r) Abstinenz vor der Kehre" behandelt Rainer Thurnher in seinem gleichnamigen Beitrag. Das diesbezügliche Schweigen Heideggers deutet er als Ausdruck der Erfahrung des Ausbleibens des Göttlichen in der modernen Welt und als Konsequenz aus der Einsicht in die Unmöglichkeit einer Fortsetzung des metaphysischen Sprechens über Gott. Inwiefern die Kategorien der Faktizitätshermeneutik von "Sein und Zeit" selbst von theologischen Quellen (Paulus, Augustinus) her beeinflusst wurden, zeigen die Aufsätze von Costantino Esposito ("Die Gnade und das Nichts. Zu Heideggers Gottesfrage"; 199-224), Jean Greisch ("Das Goße Spiel des Lebens und das Übermächtige"; 45-66) und Bernhard Casper ("Das Versuchtsein des Daseins und das ,Freiwerden von den Götzen’"; 67-82). Die in der faktischen Lebenserfahrung der urchristlichen Religiosität vorgegebene Verbindung von Zeitlichkeit, Unruhe und Geschichtlichkeit sowie die augustinischen Grundbegriffe von "memoria" und "temptatio" haben für die Existentialanalytik von "Sein und Zeit" eine prägende Bedeutung.

Für das Verständnis der Aussagen Heideggers nach der "Kehre", in denen ausdrücklich von Gott, wenn auch in der mehr verschweigenden Rede vom "Fehl der Götter" und dem "Wink" als Wesung des "kommenden Gottes" gesprochen wird, ist der Beitrag "Zur Ermittlung des Übergangs" der Hgn. Paola-Ludovica Coriando grundlegend, weil hier der "Wesungsort des ,letzten Gottes’ im seinsgeschichtlichen Denken" (101-116) herausgearbeitet wird. Die von C. konstatierte Unterscheidung zwischen dem als "Ereignis" gedachten Sein und Gott wird von Hans Hübner in seinen Überlegungen zu ",Vom Ereignis’ und vom Ereignis Gott", einem "theologischen Beitrag zu Martin Heideggers ,Beiträgen zur Philosophie’" (135-158), als Differenz zum christlichen Gottesverständnis gedeutet, in welchem es vielmehr, im Ausgang von Heidegger, Gott selbst als das Ereignis zu denken gelte. Demgegenüber betont Augustinus-Karl Wucherer-Huldenfeld im Vortrag ",Fußfassen im anderen Anfang’. Gedanken zur Wiederholung der denkgeschichtlichen Überlieferung philosophischer Theologie" (159-182) die Gemeinsamkeiten zwischen dem "Ereignis"-Denken der "Beiträge" und dem christlich motivierten Seinsdenken des Thomas von Aquin. Indem Wucherer-Huldenfeld das "verbale" Seinsverständnis (sein als ereignishafter Vollzug) des Thomas herausarbeitet, kritisiert er zugleich indirekt die von Heidegger vorgenommene Einordnung auch des thomasischen Denkens in eine zu verwindende "Onto-theologie", die den göttlichen Seinsgrund als ein höchstes Seiendes dachte. Einen von Heidegger selbst hergestellten rezeptionsgeschichtlichen Bezug zu einem christlichen Denker thematisiert Holger Helting unter der Überschrift "Heidegger und Meister Eckehart" (83-100). Die Gemeinsamkeit beider Denker sieht Helting in der Erfahrung des freigebenden Gabe-Charakters des "Nichts". Die im freigebenden Entzug dem Denken eröffnete, augenblickhafte Erfahrung der Zugehörigkeit zum Heiligen wird von Th. C. W. Oudemans schließlich in seinem Beitrag "Untergehen im Angesicht des abwesenden Gottes" (117-134) als der tiefere Grund für die Hermetik einer heiligen "Nüchternheit im Denken Heideggers" erwiesen.

Gerade in ihren unterschiedlichen thematischen und methodischen Ansätzen vermitteln die in diesem Band vereinigten Beiträge einen umfassenden Eindruck von der inneren Vielfalt des Gottes-Denkens Heideggers und verweisen so auf den Reichtum der darin verborgenen Möglichkeiten. Dass die Theologie die insbesondere im Ereignis-Denken Heideggers beschlossene Zukunftsfähigkeit noch kaum für sich entdeckt hat, macht sie ihrer nur noch bedürftiger. Freilich gelingt eine derartige Aneignung nur mit jener kritischen Distanz der "Auseinandersetzung", die in manchen der vorgelegten Beiträgen bisweilen fehlte.