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Ausgabe:

Januar/2021

Spalte:

108–109

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Schnelle, Ricarda

Titel/Untertitel:

Gemeinsam autonom sein. Eine Untersuchung zu kollegialen Gruppen im Pfarrberuf.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2019. 295 S. = Arbeiten zur Praktischen Theologie, 76. Geb. EUR 68,00. ISBN 9783374061136.

Rezensent:

Michael Klessmann

In ihrer Dissertation, die im Wintersemester 2018/19 an der Theologischen Fakultät der Universität Göttingen angenommen worden ist, lenkt Ricarda Schnelle die Aufmerksamkeit auf die bisher kaum bearbeitete soziale oder kollegiale Dimension in der beruflichen Praxis von Pfarrerinnen und Pfarrern. Das Pfarramt gilt traditionell, auch in der Pastoraltheologie (Pfarramtstheorie), als Beruf von Einzelgängern und für Einzelgänger, der Forschungsüberblick am Anfang der Arbeit belegt das deutlich. Dagegen setzt S. die These, dass dem Pfarrberuf eine wichtige und notwendige kollektive Dimension innewohnt. Pfarrerinnen und Pfarrer »brauchen ein-ander, um selbstbestimmt arbeiten zu können, sind ge­meinsam autonom« (22). Diese These, die sich bereits aus der Professionssoziologie ableiten lässt, will S. empirisch validieren, indem sie eine Untersuchung durchführt zu der Frage: Welche Funktionen übernehmen kollegiale Gruppen im Pfarrberuf?
S. hat dazu sieben Gruppendiskussionsverfahren mit verschiedenen Gruppen geführt: zwei Pfarrkonferenzen (bzw. einige Re-präsentanten dieser Konferenzen, die in der Regel deutlich mehr Mitglieder umfassen als eine Kleingruppe), drei selbstorganisierte Gruppen (Oasentage, wissenschaftlicher Arbeitskreis, Supervisionsgruppe) und zwei Fortbildungsgruppen. Die Gespräche wurden aufgezeichnet, transkribiert und dann differenziert ausgewertet mithilfe der dokumentarischen Methode. Das umfangreiche
5. Kapitel präsentiert die Ergebnisse, immer wieder belegt und da­mit für die Lesenden nachvollziehbar durch Ausschnitte aus den Gruppendiskussionsverfahren. Das wirkt zunächst interessant, be­kommt dann allerdings zunehmend redundanten Charakter. Als Ergebnis, knapp zusammengefasst, zeigt sich, wie es bereits die Professionssoziologie festgestellt hat, die hohe Bedeutung der Autonomie im Pfarrberuf (mehrfach ist vom »Primat der Autonomie« die Rede); die damit verbundene unvermeidliche Unsicherheit der Einzelnen in ihrer konkreten alltäglichen Berufspraxis wird aufgefangen und bearbeitet durch den Austausch in kleinen ad hoc zusammentreffenden oder auch länger bestehenden »fes­ten« kollegialen Gruppen, die in dieser Sicht vor allem der gegenseitigen Vergewisserung und insofern dann wieder der Autonomiewahrung dienen. Die gegenseitige Vergewisserung bedeutet nicht, dass man explizit gemeinsame Kooperation intendiert, son dern zunächst, dass man einander wahrnimmt und im vergleichenden Austausch sich der eigenen Praxis und Rolle vergewissern kann (deswegen kann auch der kollegiale Austausch in der Frühstückspause während der Pfarrkonferenz eine solche vergewissernde Bedeutung haben). Die implizite Norm der individuellen Autonomiewahrung wird so hochgehalten, dass sie mehr Gewicht be­kommt als z. B. die externe Kontrolle von Qualitätsstandards (247 u. ö.). D. h., jegliche Kontrolle oder Qualitätssicherungsmaßnahmen durch Kirchenleitung, Superintendenturen und auch Kollegen werden von den Befragten mehrfach als unerwünschte Einschränkung ihrer Autonomie abgelehnt. Man könnte das als ein aus berufsethischer Sicht höchst fragwürdiges Ergebnis bezeichnen! Das steht aber in dieser empirischen Untersuchung nicht im Fokus und wird deswegen nicht weiter thematisiert.
Die Untersuchung erweitert den Blick auf das Pfarramt um die Bedeutung seiner sozialen oder kollektiven Dimension – eine neue und hilfreiche Perspektive. Viele Beobachtungen sind aus der Gruppendynamik bekannt (z. B. dass die Abgrenzung gegen andere Gruppen die Binnenkohäsion stärkt). Allerdings spielt gruppendynamische Theorie in dieser Untersuchung keine Rolle (auch der Begriff Gruppe wird nicht spezifiziert verwendet). Bestimmte As­pekte scheinen ausgeblendet: Die Zusammenkünfte mit Kollegen sind zweifellos Anlass zur wechselseitigen Vergewisserung, aber doch auch zu Konflikt und Konkurrenz, wie wohl fast jede Pfarrerin bzw. jeder Pfarrer aus eigener Anschauung weiß. Gerade weil das Autonomiebedürfnis so stark ausgeprägt ist, gelingen gegenseitige Vergewisserung, Unterstützung und Kooperation oft nicht, breiten sich Vorbehalte, Misstrauen und destruktive Interaktionen aus. In der Pfarrerzufriedenheitsstudie der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (hg. von Dieter Becker u. a. 2005) werden Konflikte und Konkurrenzen mit Kollegen an erster Stelle unter den Negativerfahrungen in diesem Beruf genannt. Davon ist in der vorliegenden Studie mit keinem Wort die Rede – und das hat m. E. mit der Forschungsdurchführung zu tun, die wiederum mit den professionstheoretischen Vorannahmen von S. zusammenhängt:
Gelegentlich deuten die Beteiligten in den Gruppendiskussionen Konflikte und Meinungsverschiedenheiten an, die Forscherin fragt an solchen Stellen aber nicht nach (wie sie es gelegentlich an anderen Stellen tut), so dass solche Andeutungen unbestimmt stehen bleiben (und die Teilnehmenden den Eindruck bekommen können, dass sie besser unbestimmt bleiben sollten!) und so das Bild einer im Wesentlichen harmonischen und einander vergewissernden Gruppe entsteht. Beispielsweise wird in der Gruppe »Oasentage« die Pfarrkonferenz als »unglaublich undisziplinierter Haufen« bezeichnet (190, ähnlich 219), an anderer Stelle erwähnt ein Teilnehmer in deutlich abwertender Art und Weise die Ansprüche, die ein Superintendent implizit vermittelt (205) usw. Solche Andeutungen werden in der Gruppendiskussion nicht aufgegriffen und damit nicht in ihrer differenzierten Bedeutung für die soziale Dimension des Pfarramts reflektiert. Natürlich könnte man sagen, dass abgrenzende Diskurse für die Gruppe derer, die da zu­sammenkommen, eine vergewissernde Funktion haben, aber für die Pfarrerschaft insgesamt ziehen solche angedeuteten und unbearbeiteten Konfliktanzeigen m. E. eher destruktive Wirkungen nach sich, und das müsste mit den hier erhobenen Resultaten in Verbindung gebracht werden. Insofern kann man zusammenfassend sagen:
Das Ergebnis der Studie stellt eine zu begrüßende Erweiterung des Pfarrbilds dar, die auch Auswirkungen auf die Gestaltung des beruflichen Alltags haben könnte (z. B. mehr Gelegenheiten für das offizielle und inoffizielle Zusammensein in kleinen Gruppen zur Verfügung zu stellen); zugleich müssten in weiteren Untersuchungen die Schattenseiten der kollegialen Gruppen untersucht und zu den vorliegenden Ergebnissen in Beziehung gesetzt werden.