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Ausgabe:

Januar/2021

Spalte:

105–108

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Sauer, Kathrin

Titel/Untertitel:

Unterwegs mit Gott. Radwegekirchen, Gottesdienste im Grünen und christliche Reisen als Gelegenheiten für »Gemeinde auf Zeit«.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2018. 410 S. m. 45 Tab. = Praktische Theologie heute, 159. Kart. EUR 44,00. ISBN 9783170349681.

Rezensent:

Ralph Kunz

Die Untersuchung von »Gemeinden auf Zeit« mit dem Fokus auf Radwegekirchen, Gottesdiensten im Urlaub und christlichen Reisen ist Teil eines größeren Forschungsprojektes, das sich mit dem punktuell-selektiven bzw. situativen Teilnahmeverhalten von Kirchenmitgliedern beschäftigt. In der von Kristian Fechtner, Birgit Weyel und Peter Bubmann betreuten Tübinger Dissertation von Kathrin Sauer werden Leitbegriffe und Leitfragen des Projekts vorausgesetzt. Unter »Gemeinde auf Zeit« werden »Formen des zeitlich begrenzten Erlebens von Gemeinde« (13) in den Blick genommen. Dies schließe »sowohl die Organisationslogik der Praxisgestalten (kirchlich-institutionelle Betrachtung) als auch die Motive und Erfahrungen der Beteiligten (Perspektive der Akteure)« (ebd.) ein. Letzteres gilt es zu untersuchen und mit Ersterem zu vergleichen. Die drei Teile der Arbeit ergeben sich logisch aus dieser Aufgabe:
In »I. Gemeinde auf Zeit als Konzeptbegriff für die Erforschung von punktuell-selektivem Teilnahmeverhalten im Freizeit- und Tourismusangebot der EKD« (16–67) beschäftigt sich S. mit den verschiedenen gemeindetheoretischen Konzepten; in »II. Empirisch fun­dierte Zugänge zur Wahrnehmung von Teilnahmeverhalten im Frei­zeit- und Tourismusangebot der EKD« (68–349) geht es um das Erleben der Befragten. Die Reflexion der Ergebnisse der Studie bzw. die In­tegration der konzeptionellen und empirischen Sichtweisen zu Handlungsperspektiven wird im Teil »III. Gemeinde auf Zeit im Spiegel der Empirie« (349–356) geboten. Grundlegend ist das Konzept der »Kirche bei Gelegenheit«, das sich auf Michael Nüchterns Entwurf aus den 1990er Jahren beruft. Sein Ansatz war auf dem Hintergrund der durch evangelikale Theologen (u. a. Michael Herbst, Fritz u. Christian Schwarz) lancierten Gemeindeaufbaudebatte ein volkskirch-licher Gegenentwurf zum missionarischen Programm. Nüchtern selbst wehrte sich gegen eine Idealisierung der Gemeinde und sprach sich gegen die »Eingemeindung« aus, mit der Menschen an eine Ge­meinschaft gebunden werden. In den 1990er Jahren ging es um einen Richtungsstreit. Wohin soll sich die Kirche bewegen? Wie kann Vergemeinschaftung gelingen? Im vorliegenden Buch interessiert diese Debatte nur am Rand. Die Weichen sind eindeutig auf Vielfalt und neue Formen gestellt, was einem Konsens entspricht. Der kurze theoriegeschichtliche Abriss (16–31) ist diesbezüglich erhellend.
Mit dem Begriff »Gemeinde auf Zeit« ist eine weniger polemische Sicht auf die Eingemeindung gegeben, auch wenn die Grundsätze von Nüchterns »gelegentlicher Kirche« bejaht werden. Ob und wie Gemeinde entsteht, ist eine zentrale Frage des Forschungsprojekts. S. sagt es so: »Bilden sich im Rahmen von einer so definierten Kirchlichkeit Formen von christlichen Gemeinden aus?« (14)
Für das Verständnis der leitenden Fragestellung ist es wichtig, dass die »Kriterien für Gemeinde auf Zeit« (40 f.) deskriptiv zu verstehen sind. Es geht um beobachtbare und beschreibbare Merkmale, wie Örtlichkeit, leibliche Praxis und symbolische Darstellung der Gemeinschaft. Auf den ersten Blick scheinen das sehr weite Kriterien zu sein. Es fragt sich aber, warum z. B. eine Community im Internet, die weder körperlich noch örtlich auftritt, nicht auch Gemeinde auf Zeit sein kann. Die Kriterien, die eine kirchliche Gelegenheit als Gemeinde auf Zeit ausweisen, sind und bleiben tatsächlich in verschiedener Hinsicht ein Knackpunkt der Forschungsanlage. Das zeigt sich auch am Schluss dieser Arbeit, wenn S. zum Fazit kommt: »Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in den Gottesdiensten im Grünen und auf den biblischen bzw. christlichen Reisen sich Gemeinde in theologischer Form vorfindet, die auf einem punktuell-selektiv genutzten Angebot basiert […]. Von den Reisenden wird das Erlebte aber in keinem Fall als zeitlich begrenzte Form von Gemeinde identifiziert.« (372)
Dieser Befund ist insofern bemerkenswert, als damit ein wichtiges Kriterium für den gemeindlich-gemeinschaftlichen Charakter von Kirche bei Gelegenheit gerade nicht oder nur teilweise er­füllt wird. Die theologische Bedeutung von Gemeinde sei zwar gegeben, aber nicht beobachtbar. Die »Existenz einer ›echten christlichen‹ Gemeinde«, so S. im Schlusssatz der Arbeit, bleibe »ein Ge­heimnis zwischen Gott und dem Menschen« (376). S. macht also geltend, dass Gemeindeaktivität nur als äußere Handlung beobachtbar, aber theologisch nicht erkennbar ist. »Letztlich ist die Gemeinde zwar als Sozialstruktur nachvollziehbar, in ihrer parochialen Form auch festgehalten – aber theologisch gesehen nicht überprüfbar.« (372)
Eindrücklich ist der empirische Ausweis dieser These in den 280 Seiten, die den Mittelteil der Arbeit ausmachen. Tatsächlich sind »Gemeinde« oder »Kirche« (in der normativen Bestimmung von CA VII) in der Wahrnehmung der befragten Personen irrelevant. Was sagt das über die Angebote aus? In der materialreichen Studie wird dafür viel Anschauung geboten. Die vielen Zitate, die Aus-sagen der Interviewten (68–247), die Analysen der Anliegenbücher aus Radwegekirchen (248–319) und die Präsentation der Ergebnisse der Fragebogenumfrage (320–341) geben ein Bild der Rezeption, das für die verantwortlichen Stellen im Freizeit- und Tourismusbereich äußerst wertvoll ist. S. bringt es so auf den Punkt:
»Menschen wollen ihre eigenen, direkten Kontakte zu kirchlichen bzw. religiösen Orten und Räumen individuell schaffen und pflegen. Eine zukunftsorientierte Kirche hat daher die Aufgabe, solche Berührungspunkte anzubieten, um Chancen auf Transzendenzerfahrungen zu ermöglichen. Die Vielzahl der Erfahrungen an und mit kirchlichen Orten, welche durch die befragten Personen zum Ausdruck gebracht werden, lassen sich allerdings oft nicht als eine Form von Gemeinde klassifizieren. Gleichzeitig stellen sie einen Kontakt zu einem kirchlichen Angebot dar – welche Qualität dieser Kontakt hat, kann mit dem Begriff der Gemeinde nicht qualifiziert oder disqualifiziert werden, denn jeder Kontakt zur Kirche ist unterschiedlich bedeutsam für den Einzelnen.« (374)
Und die Quintessenz mit Blick auf die Forschungsfrage? »Um die Bandbreite an Kontaktmöglichkeiten zur Kirche im Freizeit- und Tourismusbereich zu beschreiben, ist der Begriff der Gemeinde folglich nicht geeignet.« (374)
Im Anschluss an Harrison C. White präferiert S. das Konzept des netdom, auf Deutsch: Netzwerk. Im Blick sind episodische Begegnungen, die flüchtig bleiben dürfen. Es wird eine Kirche anvisiert, »die sich ganz auf gelegentliche Teilnahme ausrichtet.« (375) Damit ist eine strategische Weichenstellung von erheblicher Tragweite verbunden: »Das Ziel ist dann eher ein flächendeckendes kirchliches Angebot, das sich nicht an lokalen Mitgliederzahlen orientiert, sondern die Präsenz unterschiedlich profilierter kirchlicher Kommunikationsangebote als Hauptziel verfolgt.« (375) Es sei zwar ein schmerzlicher Prozess, der bedeute, dass man von Traditionen Abschied zu nehmen habe, aber ein notwendiger Reformschritt, wenn »von christlicher Religion spätmodern nurmehr im Modus je individueller Aneignung und Gestaltung« (Kristian Fechtner) zu denken sei. Dann müsste man, so S., um punktuell-situative Teilnahme einfacher zu machen, dringend eine Gottesdienstreform in Gang bringen, Ressourcen umleiten und Mitgliedschaft kirchenrechtlich neu grundlegen (375).
Ist die strategische Ausrichtung auf eine Förderung unterschiedlich profilierter kirchlicher Kommunikationsangebote wirklich ein »Hauptziel« der Kirche? Dass eine Erweiterung der Begegnungsmöglichkeiten im Freizeit- und Tourismusbereich für die Kirche eine Gelegenheit ist, das Evangelium zu kommunizieren, leuchtet ein. Es ist das Verdienst der Studie, die subjektive Wahrnehmung von Menschen, die diese Angebote nutzen, so sorgsam zur Kenntnis zu nehmen, dass ein lebendiges Bild entsteht. Welche Konsequenzen für die Kirchenentwicklung daraus zu ziehen sind, s teht freilich auf einem anderen Blatt. Der Umstand, dass das Partizipationsprofil für die Teilnahme an einem Gottesdienst im Grünen Teilnehmer erkennen lässt, die »überwiegend bereits sehr gut sozialisiert sind« (340) und spontane nicht geübte Got-tesdienstbesucherinnen und -besucher »hier leichter anschließen können«, kann auch so gedeutet werden: Dieses Angebot funktioniert nur, solange Menschen da sind, die sich im kirchlichen Milieu wohlfühlen. Die Gemeindesozialisation der meisten Teilnehmenden ist – zumindest in diesem Bereich – eine Bedingung für das Gelingen des Angebots. Die Menschen machen religiöse Erfahrungen, weil sie an Erinnerungen anknüpfen können, die sie in der Kirche und das heißt in einer Gemeinde gemacht haben. Gemeinde – das sind Menschen, die länger Zeit miteinander verbringen, weil sie Leben und Glauben miteinander teilen.
Reicht es, wenn S. im Fazit das »Gefühl der Zugehörigkeit zur christlichen Kirche« zur entscheidenden Instanz er­klärt? (376) Ob religiöse Angebote unterwegs oder im Urlaub Teil eines Netzwerkes sind oder nicht, ist für die Menschen irrelevant. Sehr wohl relevant ist für die »zukunftsorientierte Kirche« aber, wann und wo Menschen Gemeinde erfahren, die für sie da ist. Die Zugehörigkeit zur Kirche ist eine Gelegenheit, den Glauben als Le­bensform mit der Zeit (Grethlein) zu erfahren. Sich von fixen Vorstellungen der Eingemeindung zu lösen, ist richtig – eine Ekklesiologie, die nur auf einem diffusen Zugehörigkeitsgefühl in Gemeinden auf Zeit aufbaut, würde aber das, was Kirche in der Zeit ausmacht, auflösen.