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Ausgabe:

April/2000

Spalte:

426–428

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Bielefeldt, Heiner

Titel/Untertitel:

Philosophie der Menschenrechte. Grundlagen eines weltweiten Freiheitsethos.

Verlag:

Darmstadt: Primus 1998. IX, 230 S. 8. Geb. DM 68,-. ISBN 3-89678-102-2.<

Rezensent:

Alessandro Pinzani

Ist heutzutage von Menschenrechten die Rede, so scheint sich eher die Frage ihrer konkreten rechtlichen Durchsetzung als die ihrer Begründung zu stellen. Man verfüge über genügend (mehr oder weniger verbindliche) positiv-rechtliche Instrumente, anfangend mit den UNO-Dokumenten (Charta, Allgemeiner Erklärung, den beiden Abkommen von 1966 usw.) bis hin zu einer ganzen Reihe regionaler Abkommen oder gar kulturbezogener (islamischer, afrikanischer usw.) Menschenrechtserklärungen, welche die Frage der Begründung der Menschenrechte sozusagen aufgehoben und unnötig gemacht haben. Gleichzeitig besteht die vielleicht größte Schwierigkeit bei der konkreten Anerkennung und Gewährleistung dieser Rechte eben darin, dass sich unwillige Regierungen und Politiker auf einen angeblich unklaren Status und auf eine mangelnde interkulturell gültige Begründung berufen, um die Durchsetzung von Menschenrechten in ihren Ländern nicht vorzunehmen oder auf einen "günstigeren" Zeitpunkt zu verschieben. Eine Begründung der Menschenrechte erweist sich also doch als notwendig für ihren letzten politischen Durchbruch über lauwarme Lippenbekenntnisse oder eine unter dem Deckmantel der kulturellen Eigenartigkeit getarnte Ablehnung hinaus. Ausgehend von dieser Lage versucht der Autor, beiden Aspekten (der Frage der Begründung und jener der konkreten Durchsetzung) gerecht zu werden, und eine umfassende Darstellung der Menschenrechts-problematik anzubieten. Dieser sehr hohe Anspruch stellt B. vor eine schwer zu lösende Aufgabe: die Menschenrechte sowohl in ihrer historischen und politischen Gestalt als juridische Rechte, als auch in ihrer philosophischen und (rechts-) moralischen Natur einerseits zu betrachten, und darüber hinaus sie als ein Institut darzustellen, das nicht nur eines globalen Konsenses fähig ist, sondern auch einen interkulturellen Stellenwert besitzt.

Gerade an dieser ungeheuren Aufgabe droht ein solches Vorhaben zu scheitern. B. erhebt zwar keinen Vollständigkeitsanspruch bei der Rekonstruktion der historischen Genese des Menschenrechtsgedankens oder bei der Analyse möglicher nicht-westlicher Quellen dieses Gedankens; das Ausmaß des zu verarbeitenden Materials könnte ihn trotzdem vor die Alternative stellen, entweder vereinfachend zu sein, oder im Mare magnum der Daten, Informationen und Literatur zu versinken. B. schafft es, dieses Meer bravourös zu überqueren. Dabei lässt er jedoch einige Fragen offen, besonders im ersten Teil, der den "Menchenrechte[n] als politisch-rechtliche[m] Freiheitsethos der Moderne" gewidmet ist.

B. begreift zu Recht die Menschenrechte als ein Produkt der "Ambivalenz der Moderne": Sie stellen einerseits "eine politisch-rechtliche Antwort auf Unrechtserfahrungen ... in der Entwicklung moderner Gesellschaften" dar; andererseits weisen sie gleichzeitig emanzipatorische und spezifisch moderne Züge auf. Diese emanzipatorische Kraft kommt nach B. in Kants Philosophie besonders zum Ausdruck. Dem großen Philosophen ist ein ganzes Kapitel, das dritte, gewidmet, das jedoch im Kontext des Buchs eher wie ein Exkurs wirkt. Dabei geht B. auf wichtige Fragen der moralischen, politischen und Rechtsphilosophie Kants ein und schlägt Interpretationen vor, die für den Kant-Interpreten durchaus von Interesse sind, deren Bedeutung und Verständlichkeit für den mit Kant nicht so vertrauten, eher am Hauptthema des Buches interessierten Leser allerdings gering sein mögen. Die Wahl Kants als Bezugsautor ist sicher richtig, sie scheint trotzdem etwas willkürlich, da sie mit möglichen Alternativen nicht verglichen wird. Im Allgemeinen werden andere Autoren von B. kaum berücksichtigt. Werden als klassische Denker noch Locke, Rousseau oder Hobbes mindestens erwähnt (letzterer jedoch im Rahmen einer sehr fragwürdigen, wenn auch traditionsreichen Interpretation als Theoretiker des Absolutismus), gibt es im Buch sehr wenige Hinweise auf die gegenwärtige philosophische Debatte über die Begründung der Menschenrechte: Namen wie Gewirth, Höffe, Spaemann, Shue, Rorty, Lyotard, Pogge oder Alexy fehlen ganz, und auch von Rawls (dem gegenwärtigen Denker, auf den sich B. am meisten bezieht) werden nur A Theory of Justice (1971) und Political Liberalism (1993) zitiert, nicht jedoch The Law of Peoples (auch 1993!), genau das Werk, in dem sich Rawls über das Thema Menschenrechte als interkulturelles Institut explizit geäußert hat.

Die willkürlich selektive Auseinandersetzung mit den gegenwärtigen philosophischen Theorien der Menschenrechte wird durch eine wenn auch aus selbstverständlichen Gründen knappe, trotzdem umfangreiche Rekonstruktion der geschichtlichen Entwicklung und Transformation der Menschenrechte kompensiert. Dabei gelingt es B. zu beweisen, dass die Menschenrechtsidee, obwohl geschichtlich in der westlichen Kultur verwurzelt, von dieser Kultur nicht immer anerkannt wurde. Die über lange Zeit zögerliche, manchmal sogar ablehnende Haltung der christlichen Kirchen wird dabei besonders hervorgehoben. Dadurch will B. ein indirektes Argument gegen die Auffassung gewinnen, wonach die Menschenrechte ein typisches Produkt des Abendlandes seien. Der Analyse und Widerlegung dieses Vorwurfs des Kulturimperialismus in allen seinen Formen (B. unterscheidet zu Recht verschiedene Argumente, so dass man eigentlich von "Vorwürfen" sprechen sollte) ist der zweite Teil des Buchs gewidmet.

Einen besonderen Platz nimmt dabei die Auseinandersetzung mit den islamischen Auffassungen der Menschenrechte (auch hier ist der Plural angebracht, wie uns B. zeigt) ein. B. lehnt zwar jene Positionen ab, die, ausgehend von einer bestimmten Interpretation von der Sunna und der Scharia und von deren Stellenwert, den Menschenrechten starke, religiös begründete Einschränkungen auferlegen; er bleibt jedoch für Positionen offen, die eine "liberale" Interpretation der islamischen Tradition anstreben, in der es auch für individuelle Rechte Platz gibt. Menschenrechte können Gegenstand eines überlappenden Konsenses sein - meint B. -, ohne deswegen auf ihre Universalität verzichten zu müssen oder vor kulturellen Differenzen blind zu werden. Sie enthalten eine "kulturkritische Komponenente" und zielen nicht auf einen vorbehaltlos alle Kulturen anerkennenden Multikulturalismus ab. Die Menschenrechte stellen normative Maßstäbe dar, anhand deren vorgegebene Traditionen kritisiert werden können. Sie bilden jedoch selbst "keine umfassende Weltanschauung", sondern konzentrieren sich auf "politisch-rechtliche Standards", wie B. "im freien Anschluß an Rawls" sagt.

Daraus zieht B. einen sehr wichtigen Schluss: Die Menschenrechte sind nicht "Ausdruck eines einseitig individualistischen Menschenbildes", sondern stellen die Bedingung der Bildung freier Gemeinschaften dar. Damit wird der absurde, teilweise auch in der sog. Kommunitarismus-Debatte angesprochene Dualismus Individuum-Gemeinschaft endlich beseitigt. In diesem Kontext wird auch das heute sehr aktuelle Thema der Beziehung zwischen Menschenrechten und eventuellen Menschenpflichten angesprochen. B. lehnt dabei eine materielle zugunsten einer formellen Symmetrie ab: Mit jedem Recht korrespondiert zwar die Rechtspflicht, das gleiche Recht der anderen zu respektieren; jede rechtlich verankerte Forderung, die darüber hinaus ginge, stellte jedoch eine Aushöhlung der Idee der Menschenrechte selbst dar.

Ein Kapitel über die Beziehung zwischen Menschenrecht und Gottesrecht (noch einmal gilt das besondere Interesse B.s dem Islam, aber auch dem Christentum) schließt dieses ehrgeizige Werk, dessen Hauptverdienst darin besteht, das Phänomen Menschenrechte in seiner ganzen Komplexität zu skizzieren und jene Fragen hervorzuheben, die sowohl philosophisch als auch politisch-rechtlich relevant sind. Ein gewisses Übergewicht der Auseinandersetzung mit dem Islam und des Bezugs auf Kant tut dem Wert der Arbeit keinen Abbruch.