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Ausgabe:

Januar/2021

Spalte:

91–93

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Domsel, Maike Maria

Titel/Untertitel:

Leben bis zuletzt. Eine freiheitstheoretische Fundierung christlicher Sterbebegleitung.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer Verlag 2019. 214 S. Kart. EUR 39,00. ISBN 9783170374461.

Rezensent:

Michael Coors

Im Zentrum der katholisch-theologischen Doktorarbeit, die an der philosophisch-theologischen Hochschule St. Augustin entstanden ist, steht das Thema der christlichen Sterbebegleitung. Im An­schluss an Rainer Gronemeyer fragt die Autorin Maike Maria Domsel kritisch, ob die Sterbebegleitung in der Gegenwart zu einem neuen Expertenprojekt wird. Entgegen dieser Tendenz will sie die christliche eschatologische Auferstehungshoffnung in ihrer Be­deutung für die Sterbebegleitung zur Geltung bringen (12 f.).
Im ersten Hauptteil (33–56) der Arbeit rekonstruiert sie Thomas Pröppers theologischen Freiheitsbegriff, in dessen Rahmen Freiheit als Prozess der gegenseitigen Anerkennung verstanden wird, der sich insbesondere in der Liebe vollzieht. Insofern Liebe für Pröpper »Auflehnung und Klage gegen den Tod eines geliebten Menschen« sei, ist »Einverständnis mit dem Tod […] folglich ein Verrat« (41). Aus Pröppers Freiheitstheologie wird also eine Bejahung des Lebens abgeleitet. Eine wesentliche Pointe der Theologie Pröppers liegt für D. darin, dass die lebensbejahende Liebeszusage Gottes an den Menschen erst durch die den Tod überwindende Gnade Gottes vollends realisiert werden kann.
Eine hieran anschließende Eschatologie habe Pröpper selbst al­lerdings nur in Ansätzen, und zwar als präsentische Eschatologie, entwickelt. Darum sollen im zweiten Hauptteil (57–137) aus Pröppers Ansatz Schlussfolgerungen für die eschatologische Frage nach der »Fortexistenz des Menschen nach dem Tod« (55) gezogen werden. Es folgt der Versuch einer umfassenden Behandlung von Themen der futurischen Eschatologie – ein Vorhaben, das auf solch begrenztem Raum nur scheitern kann. Traktiert werden Fragen der Methodik der Eschatologie, des Todesverständnisses, der Leiblichkeit des Menschen und des Leib-Seele-Verhältnisses, Purgatorium, Jüngstes Gericht, Himmel und Hölle, Fragen der Zeittheorie und des Verhältnisses von Zeit und Ewigkeit sowie das Thema der Allversöhnung – das alles auf gerade mal 80 Seiten. Jedes dieser Themen wäre für sich ein eigenständiges Promotionsthema. Den Willen, den großen Zu­sammenhang darzustellen, muss man bewundern. Der Fülle der zum Teil hochdifferenzierten wissenschaftlichen Diskussionen zu diesen Themen kann D. dann aber nur sehr begrenzt Rechnung tragen.
Das sei exemplarisch am Themenkreis der Methodologie der Es­chatologie aufgezeigt: So heißt es einerseits, dass Eschatologie »vernunftmäßig und nachvollziehbare Aussagen über ein Dasein jenseits der menschlichen Erfahrungswelt treffen« (58) müsse. Ander-erseits wird betont, dass eschatologische Aussagen im Modus des Hoffens formuliert werden (59). Dass beides nicht unbedingt dasselbe besagt, geht aber unter, vielleicht auch deswegen, weil »Hoffen« ohne Weiteres mit »gegenwärtig erahnen, aber nicht wissen« gleichgesetzt wird. Etwas als mögliche Zukunft zu erahnen ist allerdings etwas anderes, als es zu erhoffen. Hoffnung ist ein eindeutig posi-tives Verhältnis zur Zukunft. Und so irritiert es nochmals, wenn Eschatologie einerseits im Modus der Hoffnung reden soll, es andererseits wenige Seiten später heißt, dass eschatologische Reflexionen »sowohl als Hoffnungsbilder als auch als Warnungen verstanden werden« (65) könnten. Am Ende scheint doch ein Verständnis von Eschatologie vorzuherrschen, das theologische Eschatologie als eine Art christliche Futurologie versteht, die aus der christlichen Lehre ableitet, was in der Ewigkeit passieren wird. Das ist aber etwas anderes als eine eschatologische Lehre von der Hoffnung des christlichen Glaubens. Zu all diesen Fragen gäbe es ausführliche und kontroverse Diskussionen in der theologischen Eschatologie, die aber in diesem Buch kaum Widerhall finden.
Ein weiteres Beispiel stellen die Ausführungen zur Unterscheidung der Begriffe Leib und Körper und der Relevanz dieser Unterscheidung für die Theologie dar: D. geht davon aus, dass diese Unterscheidung unmittelbar aus den biblischen Texten entnommen werden könne (80), ohne dass sie auch nur mit einem Wort auf den zeitgenössischen philosophischen Diskussionskontext der Phänomenologie eingeht, in dem diese Unterscheidung im 20. Jh. entstanden ist. Die Unterscheidung von Leib und Körper kann sicher helfen, Aspekte biblischer Anthropologie neu zur Geltung zu bringen: Es handelt sich aber sicher nicht um biblische Quellenbegriffe.
Auch der letzte Teil des Buches, in dem die eschatologischen Erkenntnisse auf das Thema der Sterbebegleitung angewendet werden, bleibt von Widersprüchlichkeiten und Inkonsistenzen geprägt:
– Warum muss betont werden, dass es darum gehe, im Sterbeprozess nicht alles im Voraus zu regeln (154)? Dem Rezensenten ist keine ernst zu nehmende Position bekannt, die Derartiges vertritt, und D. führt auch niemanden an, der das so sieht.
– Wenn vom Gegensatz zwischen Pröppers Freiheitsverständnis und einem zeitgenössischen Freiheitsverständnis geredet wird (162), lohnt es sich, daran zu erinnern, dass die Vorstellung eines einheitlichen zeitgenössischen Freiheitsverständnisses nicht mehr als eine Fiktion ist, die den gegenwärtigen Diskursen schwerlich gerecht wird.
– Auf der einen Seite betont D., dass es in der christlichen Sterbebegleitung nicht um die Bekehrung von Sterbenden gehen dürfe (142), zugleich aber heißt es: »Sterbende sowie Noch-Nicht-Sterbende sollten dazu ermutigt werden, einen Zugang zum christlichen Glauben zu finden, der Auferstehungshoffnung zu einem wichtigen Teil ihres Lebens werden lassen kann.« (164)
In breiten Teilen liest sich dieser dritte Teil des Buches wie eine Anleitung dazu, wie christliche Sterbebegleitung zu geschehen habe – oft mit einem latent moralischen Unterton. Auch hier gilt: Die wissenschaftlichen Diskussionen über die Kunst der Sterbe-begleitung in der Palliativversorgung, der Hospizbewegung, der Spiritual Care und Seelsorgetheorie sowie auch in der Ethik sind bereits deutlich weiter und differenzierter, als es sich in diesem Buch darstellt.