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Ausgabe:

April/2000

Spalte:

424–426

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Schindler-Joppien, Ulrich

Titel/Untertitel:

Das Neuluthertum und die Macht. Ideologiekritische Analysen zur Entstehungsgeschichte des lutherischen Konfessionalismus in Bayern (1825-1838).

Verlag:

Stuttgart: Calwer 1998. XIII, 306 S. gr. 8 = Calwer Theologische Monographien, Reihe B, 16. Kart. DM 98,-. ISBN 3-7668-3546-7.

Rezensent:

Uwe Rieske-Braun

Die kritische Analyse von erkenntnisleitenden Positionen und Paradigmen der aus dem Historismus erwachsenen Historiographie wurde in der jüngeren Geschichtswissenschaft zum Gegenstand von Untersuchungen und Debatten (J. Rüsen, O.-G. Oexle, H. Lübbe). Die Kirchengeschichtsschreibung hat sich an dieser Wissenschaftskonzept und Erkenntnisinteresse reflektierenden Diskussion bislang kaum beteiligt. Die anzuzeigende Monographie bietet einen in diese Richtung weisenden, exemplarischen und anregenden Versuch, der sich das Ziel setzt, die Kirchengeschichtsschreibung zum bayerischen Konfessionalismus des frühen 19. Jh.s ideologiekritisch zu analysieren. Zudem aber bietet sie eine eigene Darstellung der historischen Genese der "Erlanger Theologie" und des aus der Erweckungsbewegung hervorgegangenen Neuluthertums, das sich unter der Ägide des Oberkonsistorialpräsidenten Karl Friedrich v. Roth (1828-1848) in der bayerischen Landeskirche gegen den Rationalismus durchsetzte.

Die Untersuchung hat ihrem Interesse entsprechend zwei Teile: Nach einer Einführung behandelt sie zunächst das "Verhältnis der Kirchengeschichtsschreibung zur kirchlichen Institution im bayerischen Protestantismus" (17-100), um anschließend die "Entstehung des Neuluthertums und die Durchsetzung der Erweckungsbewegung gegen den Rationalismus in Bayern" darzustellen (101-256). Der Ertrag der ideologiekritischen und geschichtlichen Bemühungen mündet in einen "Ausblick auf Landeskirche, Theologie und Gemeinden" (257-262). Das Quellen- und Literaturverzeichnis enthält auch ein Autorenverzeichnis des "Homiletisch-Liturgischen Correspondenzblattes" und der ersten Jahrgänge der "Zeitschrift für Protestantismus und Kirche" (1838-1840).

Drei exemplarische Darstellungen des bayerischen Neuluthertums werden zunächst als "gesellschaftsgeschichtliche Außenansichten" von "liberalen Historikern" herangezogen, als die dem Vf. der dänische Kirchenhistoriker und Lutherforscher L. Grane, der Rechtswissenschaftler H. Bruchner und der mentalitätsgeschichtlich orientierte Historiker W. K. Blessing gelten. Als "sozialgeschichtliche Analyse" dienen zwei Aufsätze F. W. Grafs zum neulutherischen Konfessionalismus (1988 und 1991). Ihnen werden "Analysen und Schilderungen lutherischer Theologen" gegenübergestellt, nämlich von M. Jacobs, H. Weigelt, H. Fagerberg, sodann von F.-W. Kantzenbach, G. Merz und M. Simon, denen der Vf. vorab attestiert, dass ihre Geschichtsschreibung "offensichtlich kirchenpolitische Interessen" verfolgt (40).

Als "Trendsetter" einer tendenziösen lutherischen Kirchengeschichtsschreibung habe sich die wirkungsträchtige Darstellung von G. Thomasius über das "Wiedererwachen des evangelischen Lebens in der lutherischen Kirche Bayerns" (1867) erwiesen, der eine idiosynkratische "Geschichtsschreibung aus der Perspektive der Sieger eines historischen Konfliktes" biete. Mit Hilfe des organologischen Denkens habe Thomasius ein pathetisch idealisierendes, verklärendes Bild des bayerischen Neuluthertums entworfen, das dessen rationalistische Gegner pauschal disqualifiziere. Es solle die etablierten "konkreten Formen der Herrschaft" in der südlichen Landeskirche kirchenpolitisch "stabilisieren bzw. stärken" (59), die historischen Vorgänge seien entsprechend "einseitig und verzerrt dargestellt, Zusammenhänge verschleiert und verfälscht" (77). Das Buch von Thomasius biete "ein Beispiel ideologischer Kirchengeschichtsschreibung" (81) und verbreite "einen Mythos der Erlanger Theologie" (76).

Ein Exkurs (91-100) erläutert das historiographische Konzept, dem die nun folgende geschichtliche Darstellung entsprechen soll und zeigt, dass Methodik und Vorgehen geschichtstheoretisch reflektiert worden sind. Erkenntnisleitend sind vier Fragen: Nach dem Zeitraum, in dem der lutherische Konfessionalismus entstand, nach dem Verhältnis zum Rationalismus, nach den Einflüssen, die von außerhalb des bayerischen Protestantismus wirkten und nach Bedingungen für seinen Bedeutungsgewinn.

Im Zentrum der Analyse steht das 1825 gegründete "Homiletisch-Liturgische Correspondenzblatt", das zum Medium der Erweckungsbewegung wurde. Sein Herausgeber Heinrich Brandt (1790-1857) zeigt eine Entwicklung vom Rationalismus zum Neuluthertum und gewann eine Reihe von Autoren, die dem konfessionalistischen Trend mit ihren Beiträgen entsprachen. In seiner Bedeutung abgelöst wurde das Blatt von der "Zeitschrift für Protestantismus und Kirche" (seit 1838), dessen Autoren bekanntlich überwiegend "Erlanger Theologen" waren. Die Gegnerschaft zu den "Historisch-Politischen Blättern" und das Profil der neuen Zeitschrift sind bereits mehrfach dargestellt worden; erheblichen historischen und theologiegeschichtlichen Erkenntnisgewinn bieten die Passagen der Studie, die den Konflikt zwischen der Erweckungsbewegung und dem Rationalismus materialintensiv aus den Quellen heraus darstellen. Plausibel wird zudem, dass das sich gegen Katholizismus und Rationalismus profilierende Neuluthertum zur Sicherung seiner "Institutionalität" eine "Zweireichelehre" ausbildete, die im späteren 19. Jh. in variabler Akzentuierung im Luthertum häufig anzutreffen ist.

Durch Personalentscheidungen, oberkonsistoriale Maßnahmen zur Disziplinierung des Pfarrerstandes und eine Reform des Ausbildungswesens wurde der Machtgewinn der neulutherischen Konfessionalität in der bayerischen Kirche nicht nur flankiert, sondern nach dem Urteil des Vf.s entscheidend durchgesetzt: Dies führte zur Degradierung und dem freiwilligen Rückzug rationalistischer Theologen. Der prominente "Fall" des Heinrich Stephani, der 1834 seines Amtes enthoben wurde, setzte ein Zeichen: "Das Oberkonsistorium erreichte in den dreißiger Jahren also eine theologisch-kirchenpolitische Gleichschaltung der Pfarrerschaft." (180) Das Correspondenzblatt begleitete diesen Vorgang mit publizistischen Invektiven und wurde durch zunehmende antirationalistische Polemik zu einem "Kampfblatt der Erweckungsbewegung" (223). Zahlreiche, regional- und theologiegeschichtliche Detailerkenntnisse werden aus dieser Darstellung deutlich. Interessant wird herausgearbeitet, dass das Selbstverständnis der Neulutheraner sich zunächst nicht gegen die preußische Union wandte und die Scheibelsche Separation in Schlesien durchaus kritisch beurteilt wurde. Die Passagen zum Augustana-Jubiläum von 1830 und die Darstellung von Bezügen zu Erweckungskreisen in anderen deutschen Regionen wünschte man sich durchaus ausführlicher. Die Stärke des Buches liegt in seinen historischen Beobachtungen, auch wenn diese aus weiteren Archivalia noch hätten ergänzt werden können, etwa durch den Briefwechsel von Kronprinz Maximilian mit Adolf Harleß, der sich in dessen Nachlass findet.

Die scharfen Verdikte gegen die durch G. Thomasius inaugurierte lutherische Geschichtsschreibung aber werfen Fragen auf nach dem methodisch-historiographischen Problembewusstsein des Vf.s. Gewiss spart Th. nicht mit Polemik gegen Rationalisten wie Stephani ("ein widerwärtiger, selbstgefälliger, aufgeblasener Mensch", 61) und bekannte offen seine Wertschätzung für "glaubenstreue Väter und Lehrer" (165). So erhellend und argumentativ gewichtig viele der Beobachtungen Sch.-J.s sind, die in die fällige Tendenzkritik münden, scheint es doch fraglich, ob Kriterien einer ideologiesensiblen Historiographiekritik angemessen zur vielfach aburteilenden Disqualifikation dieser neulutherischen Darstellung des 19. Jh.s verwandt werden können. Eine retrospektive Etikettierung als "Rekognition" und "lutherischer Traditionalismus" (87) greift für das innere Movens der von Thomasius erstmals dargestellten theologiegeschichtlichen Entwicklung recht kurz.

Vielleicht hätte eine behutsamere und stärker auf die argumentative Deskription konzentrierte Analyse, die gleichwohl ein tieferes Faible entwickelte für die kirchenorientierte Religiosität des Neuluthertums, ihren Zweck auch erfüllt. Anregend aber ist die Darstellung und es wäre bedauerlich, wenn ihr reflexiver Impuls lediglich zur Abwehr einer Provokation führen würde.