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Ausgabe:

Januar/2021

Spalte:

72–74

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Krummacher, Christoph

Titel/Untertitel:

Kirchenmusik.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2020. XV, 511 S. = Neue Theologische Grundrisse. Lw. EUR 79,00. ISBN 9783161595189.

Rezensent:

Konrad Klek

Dass in einer theologischen Lehrbuchreihe Kirchenmusik zum Titel wird, ist so bemerkens- wie beachtenswert und setzt einen Autor voraus, der auf den Feldern von Musik wie Theologie kompetent ist. Christoph Krummacher, als Musiker langjähriger Leiter des kirchenmusikalischen Instituts an der Leipziger Musikhochschule, hat 1994 eine theologische Promotion vorgelegt zu Grundlagen einer Theorie evangelischer Kirchenmusik (Musik als praxis pietatis), die auch für einige Kapitel dieses Buches die Basis bildet. Viele Jahre war er allenthalben gefragt für Zeitschriftenbeiträge und »Festreden« als einer der wenigen sprachfähigen »Theoretiker« der Kirchenmusik. Eine gedruckte Reden- und Aufsatzsammlung bescherte ihm seine Leipziger Hochschule (der er auch als Rektor vorstand) aus Anlass der Zurruhesetzung 2014. Für die ökumenisch angelegte Enzyklopädie der Kirchenmusik hat er die umfänglichen vier Bände zur Geschichte der Kirchenmusik (abgeschlossen 2014) als Herausgeber (und Mitautor) der evangelischen Seite betreut.
Primäre Zielgruppe dieser Buchreihe sind Theologen. So be­ginnt K. mit einer Bilanz zum Thema Kirchenmusik in aktuellen Kompendien der Praktischen Theologie und Liturgik. Diese fällt leidlich ernüchternd aus, K. hat viele Fehlstellen sowie falsche Antithesen zu benennen, würdigt aber auch die kunstaffinen zeichentheoretischen Ansätze (Volp, Bieritz) und schließt sich in der Liturgik namentlich an Meyer-Blanck (2011) an.
Es wäre wohl stimmiger gewesen, hier gleich den theoretischen »Dritten Teil« des Buches anzuschließen, eine souveräne Präsentation von »Beispielen aus der Geschichte der Theologie und Ästhetik«, angefangen bei Altem und Neuem Testament, über Mittelalter, Luther, Kant, Hegel, Schleiermacher, Theologen und Kirchenmusiktheoretiker des 20. Jh.s einerseits, die »säkularen« Größen Adorno, Georg Picht und Umberto Eco andererseits, bis zum kultursoziologischen und dann religionsästhetischen Perspektiwech-sel der Gegenwart. Diese gut 100 Seiten Tour d’Horizon sind das theoretische Herzstück des Buches und werden in Zukunft un­zweifelhaft eine Referenzgröße bilden für alle Diskussionen zur Polarität von Kirche und Kunst, wo bisher zu oft (auch mangels substantieller Reflexionen dazu) die Kirchenmusik außen vor blieb. Im Ergebnis plädiert K. entschieden für das Eigenrecht von Kunst als spezifischem Weltbezug gerade auch kirchlich motivierter Praxis, warnt aber vor theologisch unstatthafter Gleichsetzung ästhetischer und religiöser Erfahrung oder auch vor Anpassung an die Gesetze des Erlebnismarktes. Philosophischer Gewährsmann ist G. Picht: »Der von Picht entfaltete Ansatz, Kunst aus der Phänomenalität der Welt im Ganzen zu denken und die Wahrheit des Seins aus den Dingen selbst zu entfalten, lässt die Kunst für den christlichen Glauben zu einem Gestalt- und Darstellungsraum seiner Welthaftigkeit werden« (375). Ein Maßstab setzendes Lehrbuch zu ästhetischen Theorien in ihrer Relevanz für kirchliche Kunstpraxis ist dies gewiss, auch formal gelungen mit stets griffigen Zusammenfassungen am Ende der (insgesamt 42) Kapitel. Problematisch sind demgegenüber die an Position 2 gestellten Kapitel zur »Geschichte der Kirchenmusik« – gut 100 Seiten Kirchenliedgeschichte und ca. 140 Seiten Geschichte der vokalen und instrumentalen Kirchenmusik – wie auch die abschließenden zu »Die Praxis der Kirchenmusik«.
Die Ausführungen zur Geschichte sind für Theologen zu wenig elementar, für kirchenmusikalisch Bewanderte zu selektiv, an klar erkennbaren Standpunkten und Vorlieben K.s orientiert und dabei durchaus »nach alter Väter Sitte« (der Hymnologen und Kirchenmusiktheoretiker des 20. Jh.s) mit fragwürdigen Wertungen ge-spickt. Signifikant dafür ist etwa die Kennzeichnung »gefühlsbetonte, privat-biedermeierliche Frömmigkeit« für die volkstümlichen Lieder des 19. Jh.s. Die Melodien zu EG 407 (Text von einem Vorfahren des Autors!) und zu EG 46 sind K. viel zu emotional angelegt. Was er namentlich gegen die Sexte des zweiten Tons von »Stille Nacht« anführt, wäre aber genauso gegen die Sexte im analogen Siciliano der Sinfonia von Kantate II des Bachschen Weihnachts-oratoriums einzuwenden! Völlig überflüssig sind Kleindruck-Ab­schnitte, in welchen K. einzelne Entscheidungen der Gesangbuchkommission zum EG (erschienen 1993!) kritisiert. Mäkeleien nach der Art »was mich schon immer geärgert hat« gehören nicht in ein Lehrbuch und sind zudem überwiegend »Schnee von ges­tern«. Die Auseinandersetzung mit zeitgenössischem Liedgut und seiner (popmusikalischen) Stilistik, das in zahlreichen landeskirchlichen Zusatzheften zum Gesangbuch bereits kirchliche Realität ist, erspart sich K., indem er nur das EG als Bezugsgröße gelten lässt. So kneift dieser »neue theologische Grundriss« gerade vor dem, was aktuell theologisch zu prüfen wäre.
Die Liedgeschichte zeigt zwar interessante Akzente: durchgängig mehr Berücksichtigung der musikalischen Gestalt als sonst üblich, beim Barock (P. Gerhardt) mehr literaturwissenschaftliche Aspekte (angeregt durch Arbeiten seines Bruders Hans-Henrik K.), positive Würdigung aufklärerischer Autoren. Zu wenig Platz findet aber die für die kirchliche Praxis essentielle Rezeptionsgeschichte in Gesangbüchern und privaten Liededitionen (wo die Aufklärung eben nicht so gut wegkommen könnte). Das kirchliche Singen speist sich ja stets aus der »Wolke der Zeugen« früherer Zeiten, so dass die Polarität von alten und neuen Liedern stets neu auszutarieren ist.
Bei der Kirchenmusikgeschichte, die sich durchaus sinnvoll auf den deutschen (und evangelischen) Raum konzentriert, herrscht die herkömmliche Fixierung auf »große Meister« vor – trotz der breiter angelegten Konzeption der vorausgehenden Bände der Enzyklopädie! Hier liegt ein Akzent auf exzeptionellen Werken des 20. Jh.s, die mit K.s Kunsttheorie korrelieren, bisher aber wenig im Blick sind (z. B. Strawinsky). Wenn ein Lehrbuch der »Kirchen-Musik« die Breite der kirchlichen Praxis aber nicht zu würdigen vermag, ist das ein eminentes ekklesiologisches Defizit. Bachs herausragende Leistung präzise zu benennen (mit Bezug auf Studien des anderen Krummacher-Bruders Friedhelm), ist ja nicht verkehrt, aber ein eigener Blick auf Telemann, Stölzel oder Graupner (stellvertretend für viele Kantatenkomponisten) wäre durchaus geboten gewesen, schon im Sinne von »diversity«. Dass dann im 19. Jh. die flächendeckende Versorgung der Gemeinden mit »Kirchen musik« via Orgel, Orgel spielenden Lehrern und mit liturgisch kompatibler Orgelmusik, die für diese praktikabel ist, eine Würdigung verdienen sollte, kommt K. nicht in den Sinn. Er spricht vom »Niedergang von Stellung und Niveau des gottesdienstlichen Or­gelspiels« und wertet die Arbeit der Lehrerseminare als »bescheidenes Niveau« ab (271; vgl. 437). Wie beim Kirchenlied wird auch bei der Kirchenmusik die Rezeptionsgeschichte als Aufführungs- und Interpretationsgeschichte nicht erfasst. Wenn denn Bach so zentral ist, sollte doch gerade auch im Blick auf die gegenwärtige Kirchenmusikpraxis die geistesgeschichtlich so signifikante Entwicklung der Bach-Rezeption vorgestellt werden.
Nur 70 Seiten bleiben am Ende für »Die Praxis der Kirchenmusik«, fokussiert auf »Das kirchenmusikalische Amt« des hauptberuflichen Kirchenmusikers, dessen nötige Kooperation mit dem Pfarrer in Sachen Gottesdienst und den notwendigen Ausgleich zwischen den Interessen des Künstlers und Erwartungen/Anforderungen an ihn als Gemeindemitarbeiter. – Das Buch verzichtet übrigens (fast) völlig auf gendersensible Formulierungen, ohne Erklärung dazu. Speziell am Anfang fällt das auf und wird diesbezüglich empfindlichen Gemütern alle Lust zum Weiterlesen rauben. Auch der Sprachhabitus ist ganz »nach alter Väter Sitte«. – Die Vielfalt heutiger Beteiligungsformen an Kirchenmusik wird nicht reflektiert. Am fatalsten ist wohl, dass die Hauptträgergruppe der Chöre nur als Leitungs- und Bildungsaufgabe des Kirchenmusikers in den Blick kommt. Posaunenchöre und popmusikalische Ensembles erhalten wegen ihrer spezifischen Instrumente eigene Ab­schnitte in der geschichtlichen Darstellung, Kirchenchöre, Singkreise und Kantoreien aber fallen durchs Raster. »Kirchenmusi-kalische Arbeit ist im Kern Arbeit mit Laien« (453), wird zwar konstatiert und unterstrichen, aber wie das bei den heutigen kultursoziologischen Implikationen mit der zuvor systematisch entf alteten Kunstästhetik vermittelbar sein soll, bleibt offen bzw. reines Postulat. Thematische Leerstellen sind auch musikalische Jugendbildung, Musik in der Seelsorge sowie der so brennende Bereich »Musik bei Kasualien«, wo die potentielle Lesergruppe der Theologen nun wirklich der Anleitung bedürfte. Unter »Kirchenmusik als Teil der öffentlichen Kultur« werden lediglich die Fragen von Konzertveranstaltungen abgehandelt!