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Ausgabe:

Januar/2021

Spalte:

64–67

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Nowakowska, Natalia

Titel/Untertitel:

King Sigismund of Poland and Martin Luther. The Reformation before Confessionalization.

Verlag:

Oxford u. a.: Oxford University Press 2018. 288 S. m. 6 Abb. Geb.
£ 73,00. ISBN 9780198813453.

Rezensent:

Andreas Stegmann



Die Geschichte der Reformation im Königreich Polen wird von der kirchengeschichtlichen Forschung vernachlässigt. Dabei ist sie interessant und auch für die allgemeine Reformationsgeschichte relevant. Die 279-seitige Studie der in England lehrenden Natalia Nowakowska, die von den ersten beiden Jahrzehnten der polnischen Reformationsgeschichte handelt, zeigt das eingängig und überzeugend.
Das Buch lässt sich auf unterschiedliche Weise lesen. Als Beitrag zur Geschichte der polnischen Reformation zeigt es, wie sich zwischen 1518 und 1535 das Luthertum im Land ausbreitete und wie die weltlichen und kirchlichen Obrigkeiten darauf reagierten. Diese Geschichte wird in Form eines einleitenden Überblicks (Kapitel 1: 47–73) sowie in Form von fünf thematischen Kapiteln erzählt: die Reformation im königlichen Preußen und insbesondere die Stadtreformation in Danzig (Kapitel 2: 77–96); die Reformation im Herzogtum Preußen und das Verhältnis von König Sigismund I. (Regierungszeit: 1506–1548) zu Herzog Albrecht (Kapitel 3: 97–118); das Vorgehen des Königs gegen die Reformation im Land (Kapi-tel 4: 119–132); die auswärtigen Beziehungen des Königreichs (Ka-pitel 5: 133–150); und das Vorgehen der polnischen Kirche gegen die Reformation (Kapitel 6: 151–169). Eingeleitet werden diese Kapitel durch einen forschungsgeschichtlichen Rückblick, der auch den Neuansatz der Vfn. vorstellt (3–36), sowie einen Überblick zum Schauplatz, zu den Protagonisten und den Quellen der folgenden Darstellung (39–46). Am Schluss stehen zwei Kapitel, die ein Korpus von ca. 500 Quellen der 1520er und 1530er Jahre daraufhin unter-suchen, wie Reformationsgegner und -anhänger das »Luthertum« (Kapitel 7: 173–196) und den »Katholizismus« (Kapitel 8: 197–217) verstanden.
Die Vfn. positioniert sich selbstbewusst der bisherigen Forschung gegenüber, der sie vorwirft, die Bedeutung der frühen Re­formation in Polen unterschätzt und vor allem die Religionspolitik von König Sigismund I. unzureichend analysiert zu haben. Tatsächlich wird die Reformation in Polen gemeinhin als spätes und wenig bedeutsames Phänomen gesehen, dessen eigentliche Repräsentanten nicht die frühen Lutheranhänger, sondern die sich in der Jahrhundertmitte etablierenden Calvinisten und Sozinianer gewesen seien. Die Vfn. wurde für ihre 2012 erstmals geäußerte Infra-gestellung dieser Sicht kritisiert, ihre Studie aber entfaltet die von ihr entwickelte Alternative überzeugend. Sie zeigt, dass und wie Luthers Anregungen in den 1520er und 1530er Jahren im Königr eich Polen Wirkung entfalteten. Die Danziger Stadtreformation und die preußische Territorialreformation sind frühe und be­deutsame Belege für diese Wirkung. Daneben gibt es aber auch eine ganze Reihe weiterer Indizien für reformatorische Sympathien und kirchliche Reformbemühungen, die sich nicht nur in den nordwestlichen Teilen des Königreichs in der deutschsprachigen Bevölkerung fanden, sondern auch in der polnischsprachigen Bevölkerung Groß- und Kleinpolens. Die Vfn. beschäftigt sich allerdings kaum mit der Frage nach Einheit und Vielfalt der frühen Reformation in Polen.
Obwohl die Quellen die Reformationsanhänger vielfach als Lutheraner bezeichnen, dürfte es doch andere Einflüsse gegeben haben, und die Frage liegt nahe, ob es sich wirklich durchweg um die Konfrontation von »King Sigismund of Poland and Martin Luther« handelt, die dem Buch den Titel gibt. König Sigismund jedenfalls erkannte früh die Gefährlichkeit der reformatorischen Bewegung und ging entschieden gegen sie vor. Allerdings zeigte er sich weitherzig, solange die Reformationsanhänger keine politischen Ziele verfolgten, da er sie weiterhin als Teil der Kirche be­trachtete und die Einheit der Kirche nicht durch ein Eingehen auf ihr Abgrenzungsbemühen aufs Spiel setzen wollte. Die königliche Religionspolitik hat für die Vfn. nichts mit Toleranz, sondern vielmehr mit einem »pre-confessional sense of a Latin Christian identity« (14) zu tun.
Ausgehend von dieser These kann man das Buch auch als Studie über das Verhältnis von Kontinuitäts- und Diskontinuitätsmomenten im reformatorischen Umbruch lesen. Die polnische Reformation lässt sich als Beispielfall für ein grundsätzliches Problem verstehen: wie sich das Selbstverständnis der Papstkirche durch die Herausforderung der Reformation veränderte. Anfangs war dieses Selbstverständnis noch »vorkonfessionell«, was die Vfn. vor allem am Beispiel von König Sigismund I. zeigt, wofür sie im 7. und 8. Kapitel aber auch weitere Quellen anführt. Kennzeichnend für die Ekklesiologie des Herrschers war die Vorstellung von der Einheit der Kirche. Diese eine Kirche war in sich plural, und selbst die Herausforderung durch Abweichler wie Luther stellte ihre Einheit nicht grundsätzlich in Frage. Im Interesse der Wah rung der Einheit oblag es der weltlichen Obrigkeit, gegen die Abweichler vorzugehen, ohne ein Zerbrechen der kirchlichen Einheit zu provozieren. Für das vorkonfessionelle Kirchenverständnis war die reine Lehre, die wahre und falsche Kirche voneinander schied, weit we­niger wichtig als für die Reformation. Dadurch kam es zu einer Phase der »mutual incomprehension«, während derer »pre-confessional and confessional understandings of Christianity« (35) nebeneinanderstanden, nämlich eine vorkonfessionelle, mehr an der Einheit der Kirche als an der Reinheit der Lehre interessierte und eine reformatorische, das Bekenntnis zum Kriterium der Kirche erhebende Ekklesiologie. Als die Papstkirche dann aber die reformatorische Betonung der Lehre akzeptierte und ihre Lehralternative zur Reformation formulierte, machte sie den Schritt vom vorkonfessionellen zum konfessionellen Christentum. Ansätze dazu gab es auch im Umfeld des Krakauer Hofs, ohne dass die Verfechter eines konfessionellen Neuverständnisses der Papstkirche während der Regierungszeit Sigismunds I. die Religionspolitik entscheidend beeinflussen konnten.
Obwohl die Vfn. eine große Fülle von Quellen verarbeitet hat und sich aus arbeitsökonomischen Gründen auf die anderthalb Jahrzehnte der frühen Reformation beschränkt, ist es doch bedauerlich, dass sie nicht wenigstens einen Ausblick auf die bis zum Ende der 1540er Jahre dauernde Regierungszeit von König Sigismund I. gibt. Das hätte ihre Darstellung nicht nur bestätigen, sondern auch ergänzen können. Reformationsgeschichtlich relevantes Material für diese fast anderthalb Jahrzehnte gibt es in Fülle. So umfassen die von der Vfn. als Quellengrundlage vorrangig verwerteten »Acta Tomiciana« noch weitere, bislang noch nicht im Druck zugängliche Bände. (Der Rezensent kann sich nicht erklären, was die Vfn. damit meint, dass »Górski’s Acta Tomiciana come to an end in 1535, at which point this rich window onto the court and reign of Sigismund I closes« [45].) In den staatlichen und kirchlichen Archiven Polens gibt es zahlreiche weitere Quellen, etwa im Archiv für alte Akten (AGAD) in Warschau, das von der Vfn. überhaupt nicht berücksichtigt wird. Zu monieren ist auch die unzureichende Auswertung der deutschsprachigen Forschung, die die Ausführungen an unterschiedlichen Stellen hätte bereichern und vertiefen können, und die nur beiläufige Berücksichtigung des ehemaligen Königsberger Staatsarchivs, in dem sich die reforma- tionsgeschichtlich bedeutsame Korrespondenz von Herzog Al­brecht findet (heute: GStAPK Berlin, XX. HA, Ordensbriefarchiv, Herzogliches Briefarchiv, Ostpreußische Folianten). Verwunderlich ist, dass der Luther- und der Melanchthon-Briefwechsel überhaupt nicht berücksichtigt werden. Inhaltlich gibt es einige Fehleinschätzungen und Irrtümer, etwa hinsichtlich des Beginns re­formatorischer Predigt in Danzig (49) oder der Zeit und des Orts der Königswahl 1529 (101). Die Wiedergabe deutscher Namen, Be­griffe, Zitate und Titel ist nicht immer fehlerfrei. Auch sonst findet sich mancher Flüchtigkeitsfehler. Bei der Übernahme latei-nischer Formulierungen aus den Quellen werden die Kasus nicht immer angepasst, und manche von der Vfn. selbst gebildete lateinische Formulierung weist Fehler auf (199: »The maiori or patri«, 214: »ecclesia universale«).
Das kluge und spannende Buch der Vfn. wird sowohl die Erforschung der polnischen Reformation als auch die Diskussion über den reformatorischen Umbruch befruchten. Es ist eine Einladung an die Forschung, der frühneuzeitlichen Kirchengeschichte Ostmitteleuropas die Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, die sie verdient.