Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2021

Spalte:

56–59

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Beyer, Michael

Titel/Untertitel:

Logik der Freiheit. Die Prädestinationslehre Wilhelms von Ockham im Rahmen seiner Theologie.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2017. VIII, 253 S. = Spätmittelalter, Humanismus, Reformation, 99. Lw. EUR 89,00. ISBN 9783161526718.

Rezensent:

Ueli Zahnd

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Wilhelm von Ockham: De potestate papae et cleri, III.1. Dialogus. Die Amtsvollmacht von Papst und Klerus, III.1. Dialogus. Lateinisch – Deutsch. Übers. u. eingel. v. J. Miethke. Vol. I u. II. Freiburg u. a.: Verlag Herder 2015. Vol. I: 392 S.; Vol. II: 352 S. = Herders Bibliothek der Philosophie des Mittelalters. 2. Reihe, 36/I u. II. Vol. I: Geb. EUR 55,00. ISBN 9783451341977; Vol. II: Geb. EUR 55,00. ISBN 9783451348976.


Das Spätmittelalter hat aus theologiegeschichtlicher Perspektive in den letzten 50 Jahren eine grundlegende Neubewertung erfahren. Zwar lässt sich bis heute das letztlich neuthomistische Schema finden, das das ausgehende Mittelalter zwischen der goldenen Zeit der Hochscholastik und der anbrechenden Moderne als geistesgeschichtliche »Talsohle« versteht (Theo Kobusch), doch mehrten und mehren sich insbesondere seit Heiko Obermans bahn-brechenden Studien die positiven Würdigungen einer theologie-, philosophie- und auch institutionengeschichtlich höchst spannenden und vielseitigen Zeit. Das gilt nicht zuletzt für ihren großen Protagonisten Wilhelm von Ockham, den lange beargwöhnten Papstkritiker und Ziehvater des spätmittelalterlichen Nomi nalismus, dessen Werk inzwischen zu großen Teilen kritisch ediert und in einer beachtlichen Zahl an Studien untersucht worden ist, auch wenn sich die Bibliographie zu ihm an jener zu anderen scholastischen Größen wie Thomas oder Scotus noch nicht messen lässt.
Umso erfreulicher ist, dass mit Michael Beyers Dissertation und Jürgen Miethkes Übersetzung zwei weitere Bücher auf den Markt gekommen sind, die das Wirken und Denken Ockhams einem weiteren Publikum erschließen und sich dabei auch ergänzen: Beyers Dissertation fokussiert auf die Prädestinationslehre in den »akademischen«, d. h. im engeren Sinne philosophischen und theologischen Schriften Ockhams aus der Zeit vor seiner Flucht aus Avignon, Miethkes Übersetzung widmet sich einem Hauptwerk zur Papstfrage aus der Spätzeit des Scholastikers, als er sich am Hofe Ludwigs des Bayern auf die Produktion politischer Schriften konzentrierte. Die beiden Publikationen stammen aus ganz unterschiedlichen Federn: Michael Beyer, inzwischen Pfarrer in Oberellen bei Eisenach, erarbeitete seine Studie als Promotionsprojekt an der Universität Jena (wo er 2013 auch mit dem Promo-tionspreis der Universität ausgezeichnet wurde); Jürgen Miethke hingegen greift als Emeritus der Universität Heidelberg mit der nun vorliegenden Übersetzung ein Werk Ockhams auf, das ihn in d en 50 Jahren seiner akademischen Karriere immer wieder be­schäftigt und zu dem er schon mehrfach publiziert hat. Doch muss sich Beyer mit seiner Dissertation nicht verstecken: Seine Studie greift die komplexe Thematik der Prädestinationslehre nicht nur in ihrer theologischen, sondern auch in ihrer logischen Tragweite insbesondere am Problem der futura contingentia auf und analysiert hierfür eine beachtliche Reihe von philosophischen Schriften Ockhams (neben der Summa logicae auch etwa den Kommentar zu Aristoteles’ Perihermeneias). Theologische Hauptquellen sind Ockhams Sentenzenkommentar, seine Quaestiones quodlibetales sowie der Tractatus de Praedestinatione, der explizit aus theologischer Perspektive jene Fragen weiterführt, die Ockham in seiner philosophischen Erörterung der Frage nach dem Zukunftswissen Gottes hatte zurückstellen müssen.
In seiner Darstellung folgt Beyer dann allerdings nicht einer Auslegung dieser einzelnen Quellen, sondern er geht davon aus, dass Ockham »stets sein theologisches Gesamtsystem vor Augen hatte« und »auch in den speziellsten Einzeluntersuchung[en] nie das große Ganze aus den Augen verlor« (20 f.), was ihm erlaubt, in einer thematischen Gliederung die unterschiedlichen Ausführungen Ockhams zum göttlichen Zukunftswissen (Kapitel 2), zu Gottes Heilswillen (Kapitel 3), zur menschlichen Freiheit (Kapitel 4) und zu den eschatologischen Konsequenzen (Kapitel 5) zusammenzutragen. Angesichts des in der älteren Forschung vorhandenen Klischees, Ockhams Denken sei »fragmentarisch und unzusammenhängend« (29), ist dieser systematische Zugriff durchaus begrüßenswert, auch wenn mit ihm etwas vorschnell das mögliche Nachzeichnen von denkerischen Entwicklungen bei Ockham und das erklärte historische Ziel, »die Texte aus sich selbst, ihrem Kontext und, wo es sinnvoll scheint, aus ihrer Genese heraus zu interpretieren« (38), in den Hintergrund rückt.
Dieser Aufbau orientiert sich zudem an einer Problemstellung (wie nämlich »das Dogma der Prädestination gelehrt und die Freiheit des Menschen gewahrt bleiben kann«), die – wie Beyer offen eingesteht – Ockham selbst »nirgends ausdrücklich benennt« (39), so dass die Arbeit insgesamt einen vielmehr systematischen als historischen Charakter erhält. Das unterstreicht schließlich auch der Begriff der Rechtfertigung, der vor allem zu Beginn der Arbeit prominent begegnet und das letztlich theologische Interesse Beyers unterstreicht, der in seine Studie denn auch nicht mit Ockham, sondern mit Luther einsteigt (4–8). In dieser systematischen Perspektive gelingt es Beyer in überzeugender Weise darzulegen, wie Ockham menschliche Freiheit und göttliche Prädestination zu­sammendenken kann – indem er nämlich Prädestination konsequent als zuverlässiges göttliches Vorwissen versteht, womit Beyer auch einmal mehr mit dem Vorurteil aufräumt, Ockham habe einen Willkür-Gott postuliert –, und wie tatsächlich dessen phi-losophische Überlegungen insbesondere zum Kontingenz- und zum Zeitbegriff das Fundament für die theologische Lösung bieten. Damit gelingt es Beyer, gegen die alten Klischees Ockhams konstruktiven theologischen Beitrag herauszustreichen, der die traditionelle Lehre nicht zersetzt, sondern vielmehr ermöglicht, die überlieferte Prädestinationslehre mit einem echten Freiheitsbegriff zusammenzudenken. Diesem theologischen Ergebnis sind eine Reihe von historischen Ungenauigkeiten vor allem mit Blick auf die bearbeiteten Genres nicht weiter abträglich (Lombards Sentenzen bestehen nicht aus Quaestionen, es gibt kein Buch IX von Perihermeneias und der Vorbehalt, dass nur Magister de quodlibet disputieren durften, war nie so absolut, dass Ockhams Quodlibeta als rein literarisches Produkt zu betrachten wären), auch wenn ein etwas umfassenderes Studium von Sekundärliteratur sie zu beheben geholfen hätte.
Bei Jürgen Miethke hingegen ist offenkundig der Historiker am Werk. Seine Übersetzung bietet zum ersten Mal den Traktat III.1 von Ockhams Dialogus im Zusammenhang, einen Traktat, der wie weitere Teile der komplexen Werksammlung unvollendet geblieben ist. Der Titel, den Miethke unverändert aus dem Original übernommen hat, ist denn auch etwas irreführend, da Ockham nie bis zu einer Behandlung der Amtsvollmacht des Klerus vorgedrungen ist. Selbst bei den existierenden Abschnitten zur Amtsvollmacht des Papstes bleibt vieles in der Schwebe, was allerdings nicht nur dem unvollendeten Charakter des Textes, sondern auch seiner Form als Dialog geschuldet ist, in dem ein Lehrer und sein Schüler eine Vielzahl an Positionen diskutieren, ohne dass dabei Ockhams eigene Meinung offen identifiziert würde. Dank einer umfassenden Einleitung von fast 70 Seiten und einer hilfreichen, wenn auch zurückhaltenden Kommentierung kann Miethke aufzeigen, dass Ockham bei der Frage der Vormachtstellung des Papstes zwar »im Ungefähren steckengeblieben ist« (64), ohne deswegen vor den kurialistischen Gegnern kapituliert zu haben: So sehr er ein monarchisches Prinzip auch in der Kirche zu akzeptieren bereit ist, steht der Papst doch nicht über dem Recht oder dem Wohl der Kirche und seine Amtsvollmacht bleibt zu­mindest im Regelfall auf innerkirchliche Angelegenheiten be­schränkt (177 f.).
Einmal mehr erweist sich damit, dass sich Ockham nicht einfach »destruktiv« gegen überlieferte Traditionen und Strukturen gestellt hat, sondern sie konstruktiv zu durchdringen und zu begründen versuchte. Die Übersetzung, die auf Miethkes eigene, vor über 20 Jahren veröffentlichte Teilübersetzung zurückgreift, ist äußerst gut zu lesen und überträgt das bisweilen sehr technische politische Vokabular Ockhams in ein allgemein verständliches und dennoch treffendes Deutsch. Etwas alleine gelassen dürften sich Leserinnen und Leser allerdings durch die Tatsache fühlen, dass zu den nackten Kapitelnummern der lateinischen Vorlage keine inhaltlichen Titel ergänzt worden sind, so dass eine selektive Lektüre zu bestimmten Themen oder Fragestellungen fast unmöglich ist. Weil auch die Einleitung keine strukturelle Inhaltsübersicht bietet, droht so den Theologinnen und Theologen etwa zu entgehen, dass in III.1 Dialogus III.4 f. eine der interessantesten spätmittelalterlichen Debatten zur Autorität der Schrift steckt (403 f.). Dass Miethke darauf nicht eigens eingeht, unterstreicht allerdings nur, wie reich der vorliegende Text und Ockhams Denken grundsätzlich sind und wie sehr eine Auseinandersetzung mit Ockham auch weiterhin höchst lohnenswert bleibt. Beiden, Jürgen Miethke und Michael Beyer, ist es zu danken, dass sie gewichtige Beiträge für die fortdauernde Neubewertung dieses intellektuellen Protagonisten des Spätmittelalters vorgelegt haben.