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Ausgabe:

Januar/2021

Spalte:

54–56

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Lange, Benjamin

Titel/Untertitel:

Der Richter und seine Ankläger. Eine narratologische Untersuchung der Rechtsstreit- und Prozessmotivik im Johannesevangelium.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2019. XIII, 403 S. m. Abb. u. Tab. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 501. Kart. EUR 99,00. ISBN 978-3-161581694.

Rezensent:

Veronika Burz-Tropper

Die vorliegende Arbeit ist die für den Druck bearbeitete Dissertation von Benjamin Lange, die von der Abteilung Evangelische Theologie der Philosophischen Fakultät der Universität Siegen im Jahr 2019 angenommen wurde. Entstanden ist die Arbeit unter der Beglei-tung der beiden Exegeten B. Kollmann (Siegen) und R. Zimmermann (Mainz).
Nach einer Einleitung, die die Paradoxie des Richters und seiner Ankläger skizziert, die auch für nicht biblisch gebildete Lesende im JohEv in der Tat wahrzunehmen ist, gliedert sich die Arbeit in fünf Hauptkapitel.
Das I. Kapitel Grundlagen (5–30) bietet einen Forschungsüberblick, der L. »zugleich als Motivation dient und zu einer Eingrenzung der untersuchten Fragestellung führt« (3). Die Auseinan-dersetzung mit der Literatur zeigt, dass die Prozessmotivik des Jo­hannesevangeliums trotz weniger dezidierter Studien dazu ein durchaus häufig thematisiertes Thema in der Johannesforschung ist. Nachdem in jüngeren Arbeiten immer wieder die These geäußert wird, dass es sich bei Joh 1–12 in den Auseinandersetzungen Jesu mit den Juden um eine narrative Prozessbeschreibung handelt, aber bislang weder eine dezidiert narratologische Untersuchung dieser Texte noch eine Gesamtschau vorliegt, hat sich L. genau dies zum Ziel gesetzt:
»Die Rechtsstreit- und Prozessmotivik soll mit Methoden der narratolo-gischen Analyse sowie mit Methoden der Analyse johanneischer Bild- und Motivsprache untersucht werden. Dabei steht zum einen die Frage im Mittelpunkt, ob sich die gelegentlich geäußerte These, dass es sich bei Joh 1–12 um einen narrativ geschilderten Gerichtsprozess handele, anhand einer detaillierten Einzeluntersuchung relevanter Texte sowie in der dramaturgischen Makrostruktur belegen lässt. Zum anderen soll untersucht werden, wie die komplexe johanneische Darstellung die alttestamentliche Rechtsstreit- und Prozessmotivik aufnimmt und auf welche Art die forensischen Rollen in der doppelten Erzählebene des Evangeliums als symbolische Rollen verwendet werden. Dabei ist insbesondere die Frage nach der Funktion der Rechtsstreitmotivik in Bezug auf die Lesenden und ihre theologische Verortung im Evangelium von Belang.« (19)
Anschließend nimmt L. eine methodische Fundierung bezüglich Narratologie und Metaphorik vor und stellt den Aufriss sowie die konkrete Vorgehensweise seiner Untersuchung vor.
Das II. Kapitel Griechisch-römischer und alttestamentlich-jüdischer Rechtsstreit (31–87) nähert sich dem Motivkomplex des ge­richtlichen Prozesses und der involvierten Parteien sowie deren Rollen im Rechtsstreit in antiken Prozessordnungen an. L. untersucht die elementaren Bestandteile des antiken Gerichtsprozesses und Rechtsstreites. Neben dem griechischen, römischen und jüdischen Prozessrecht widmet er sich im Speziellen auch dem alttestamentlichen Motivkomplex des Rechtsstreites, den L. als den vorwiegend bildgebenden Bereich für das JohEv ansieht. Hier erhalten Lesende eine instruktive Einführung – basierend auf historischen und kulturellen Hintergründen – in das jeweilige Prozessrecht, wo­bei neben den Abläufen und Bestandteilen auch die forensischen Rollen (Richter, Ankläger, Angeklagter, Zeugen und Publikum) relevant sind, »die als prototypische symbolische Rollenbilder wichtige Bestandteile des bildgebenden Bereichs der metaphorischen Prozessdarstellung im Johannesevangelium konstituieren« (33). Spannend ist, dass die Funktion von Zeugen unterschiedlich ist – im griechisch-römischen Prozess gibt es Zeugen sowohl auf Seite der Kläger als auch der Beklagten, im jüdischen haben Zeugen nur anklagende bzw. sogar richtende Funktion, was nach L. »in der bisherigen Forschung noch nicht hinreichend wahrgenommen« (53) wurde. Was die alttestamentlichen Formen des Rechtsstreits betrifft, zeigen sich eigene Akzente, die wesentlich mit der Rolle Gottes im Rechtsstreit zusammenhängen: »Die alttestamentliche Prozessdarstellung zeigt […] als zentrales Merkmal eine stark ausgeprägte Rollenüberschneidung, die sich insbesondere auf Gott selbst konzentriert. So kann Gott in einer einzigen Gerichtsszene die Rolle von Angeklagtem, Ankläger, Zeuge und Richter innehaben.« (83)
Ab dem III. Kapitel Prozessdarstellung als Thema des Johannesevangeliums (89–136) erfolgt die Auseinandersetzung mit forensischer Motivik im JohEv. Dabei untersucht L. einerseits die johanneische Prozesserzählung in Joh 18–19, wobei deutlich wird, dass das johanneische Interesse »weniger auf der Ebene des vordergründigen Geschehens, als vielmehr auf einer tiefgründig und konsequent angelegten Transformation der Rollenbilder« (111) liegt, da der im-plizite Leser einen Parallelprozess wahrnehmen kann, der »metaphorischer Natur [ist] und die erzählten Geschehnisse und Handlungen in paradoxer Weise neu [belegt]« (111). Zudem zeigt die Art der Darstellung, dass das offensichtliche Fehlen eines jüdischen Prozesses »absichtsvoll geschieht, kunstvoll mit Lesererwartungen spielt und im besten Sinne als gezielte Vermeidung einer inhaltlichen Schilderung angesehen werden muss« (111). Diese Leerstelle wird allerdings mit zahlreichen intratextuellen Verweisen auf Joh 1–12 gefüllt. Deshalb erfolgt »eine Bestandsaufnahme forensischer Semanteme« (4) im ersten Teil des JohEv (Kapitel 1–12). Dabei handelt es sich neben vereinzelt vorkommenden forensischen termini technici um die Begriffe μαρτυρία und μαρτυρέω sowie κρίνω und κρίσις.
Die Passagen, in denen der »Motivkomplex des Rechtsstreites« (4) erkennbar wurde, werden im IV. Kapitel Joh 1–12 als narrativer Gerichtsprozess (137–310) einer ausführlichen narratologischen Analyse unterzogen. Diese Analysen zu Joh 1,1–34 (Einführung in den kosmischen Prozess), Joh 2,13–25; 3,11–21; 3,31–36 (Die Prozesseröffnung), Joh 5,1–47 (Die Formulierung der Anklagen), Joh 7,14–8,59 (Beweissammlung vor den Prozesszuschauern), Joh 9,1–10,39 (Anklageplädoyers und Geständnis des Angeklagten) und Joh 11,47–57; 12,37–50 (Die Urteilsverkündigung) bilden auch den Schwerpunkt der Arbeit.
Im V. Kapitel Zusammenfassung und Auswertung (311–345) werden die narrativen Untersuchungen zusammengestellt und systematisch reflektiert. L. fokussiert die forensische Darstellung im JohEv, die narrative Präsentation, die metaphorische Dimension sowie die Funktion für die Lesenden. Die wesentlichen Ergebnisse seiner Untersuchung fasst L. abschließend noch unter Ergebnis und Ausblick (347–351) zusammen. Besonders wichtig und richtig scheint die Erkenntnis L.s: »Die narratologische Untersuchung von Joh 1–12 und Joh 18–19 ergab, dass die Rechtsstreit- und Prozessmotivik des Johannesevangeliums einen außergewöhnlichen Schwerpunkt in der Erzählung bildet und in ihrer Funktionalität intrinsisch mit der Zielsetzung des Evangeliums (20,31) verbunden ist.« (347) Als sein wichtigstes Ergebnis hält er fest, »dass in der narrativen Konzeption des Johannesevangeliums die Schilderung eines Prozesses zwischen Jesus und den Juden nicht in Joh 18,19–24, sondern in narrativer Form in einer Vielzahl von Rechtsstreit- und Prozessszenen geschildert und damit auf eine ausführliche metaphorische Prozessdarstellung verlagert wird« (347).
Ein umfangreiches Literaturverzeichnis sowie die üblichen Indizes zu Bibelstellen etc., Autoren und Sachen runden die äußerst instruktive Studie ab, wobei noch eigens auf die 17 Tabellen und 14 Abbildungen hinzuweisen ist, durch die L. seine Überlegungen und Ergebnisse für die Lesenden verdeutlicht.