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Ausgabe:

April/2000

Spalte:

421–424

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Bürki, Bruno, u. Stephan Leimgruber [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Theologische Profile - Portraits théologiques. Schweizer Theologen und Theologinnen im 19. und 20. Jahrhundert.

Verlag:

Freiburg/Schweiz: Universitätsverlag u. Paulusverlag 1998. 480 S. gr.8. ISBN 3-7278-1187-0 u. 3-7228-0447-7.

Rezensent:

Eberhard Busch

In dem Buch sind Porträts von 33 Persönlichkeiten gesammelt, die die theologische Arbeit in den Schweizer Kirchen in den letzten zwei Jahrhunderten mitgestaltet haben. Die Artikel, von verschiedenen Autoren und Autorinnen verfasst, bieten jeweils in präziser Kürze neben Angaben zur Vita der Dargestellten eine Würdigung ihres Werks sowie bibliographische Hinweise. Im Vorwort und in einem Nachwort sind noch einmal weitere Namen angeführt, die offenbar andeuten sollen, dass die da besprochenen 33 Persönlichkeiten exemplarisch ausgesucht sind und dass ihr Kreis ein offener ist, der durch die Nennung vieler anderer Männer und Frauen noch ergänzt werden könnte. Ohnehin ist diesem Band ein noch umfangreicherer vorangegangen: Gegen die Gottvergessenheit. Schweizer Theologen im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. von S. Leimgruber und M. Schoch, Basel/Freiburg/Wien 1990, 668 S.

Was bietet der vorliegende Band? Er ist einerseits ein Lexikon zur Übersicht über Weg und Werk der genannten Personen. Er ist aber auch und vor allem anhand von in der Tat mehr oder weniger zufällig ausgesuchten Beispielen faktisch eine Skizze der eigentümlichen Landschaft der christlich-kirchlichen Theologie der Schweiz. Das Licht ist vielleicht doch zu sehr unter den Scheffel gestellt, wenn im Vorwort bemerkt wird, es sei nicht beabsichtigt, "eine spezifisch schweizerische Theologie zu konstruieren" (13). Sei es denn unbeabsichtigt, es werden in dem Band eben doch Konturen einer eigengeprägten schweizerischen theologischen Kultur sichtbar, die gewiss etwas Anregendes dem nichtschweizerischen Ausland zu bieten hat. Das sei in drei Hinsichten veranschaulicht.

1. Man begegnet in dem Band einer Art von theologischer Existenz, zu deren auffallenden Merkmalen eine als miteinander verträglich empfundene bunte Vielfalt gehört. Nicht nur, dass hier neben deutschsprachigen auch neun französischsprachige Theologen, gewürdigt in ihrer Sprache, auftauchen! Drei Beiträge führen auch je in ihrer Weise besonders interessante prominente Theologinnen vor. Und welche menschliche Vielfalt tritt da vors Auge: neben Kantigen, Flexiblen, Erweckten, Liberalen etwa ein Geistbewegter, der gern Bäume fällt (343), eine Lernschwester, die sich im Akkadischen weiterbildet (249), ein erzkonservativer Exeget, der entdeckt, dass Maria bei ihrer Verlobung erst 12 Jahre alt war (149), ein in der "Befreiungsperspektive von unten" Denkender (283), dessen mitabgedrucktes Foto aussieht, wie man sich einen guten Schweizer Schulmeister vorstellt, ein lustig dreinsehender Appenzeller, für den die Welt bei Thomas von Aquin stillgestanden ist (119), eine Mystikerin, deren Dichtung "der christologischen Bewegung des ,heilig Hin- und Her’ gehorchend dem WORT aus ihrem geerdeten Mutterschoß einen Sprachleib gibt, den Weg zu seiner Brotwerdung mitgeht bis zur Aufkreuzigung der eigenen Kontur" (336). Und vor allem, es stehen hier, als wäre die Einheit der Kirchen schon selbstverständliche Gegenwart, Menschen aus verschiedenen Konfessionen nebeneinander. Im Geleitwort erklären der Präsident des Evangelischen Kirchenbundes und der Bischof von Basel miteinander das Phänomen so, "daß sich die Schweiz von Haus aus und seit einer längeren Geschichte als ein multikulturelles Land präsentiert" (9). So tauchen hier neben Gliedern dieser beiden Konfessionen auch ein griechisch-orthodoxer Metropolit auf, von dem der Ausspruch stammt "Nicht der Weg ist unmöglich, sondern das Unmögliche selbst kann der Weg sein, der zum Vater führt" (438), aber auch die in der Tat bemerkenswerten "christkatholischen" Theologen Ernst Gaugler, Urs Küry und Kurt Stalder, die besonders dafür charakteristisch sind, dass die Schweizer Theologie in ihrer Pluralität auf ein Zusammengehöriges hinweist.

2. Die hier vorgeführte Theologenschaft zeichnet sich aus durch eine sehr beachtliche spezifische Offenheit in einer grenz-überschreitenden Kraft, mit einem Willen zum "Einzug in die gemeinsame Weite" (10). Einerseits ist es erstaunlich, dass ohne weitere Umstände etwa ein Fünftel der "Schweizer" Profile diesen zugezählt werden, obwohl sie gar nicht aus diesem Land stammen. Andererseits fällt bei den hier Geborenen auf, wie viele von ihnen eine ausgesprochene Neigung zum Inter-Nationalen gezeigt und ausgelebt haben; und es ist im Blick darauf eher eine Schrulle, wenn G. Manser eine "Freiheit für den persönlichen Patriotismus auf Freiburger Boden" (111) gepflegt wissen wollte. So vollzieht etwa der aus Chaux-de-Fonds gebürtige nachmals renommierte Calvinforscher R. Stauffer schon sein Studium nicht nur in Basel, sondern auch in Belgien, in Paris, New York und Edinburgh. So verlegt der Alttestamentler W. Zimmerli gleich nach dem Zweiten Weltkrieg seinen Wirkungsort nach Deutschland, wo er zum Organisator der Europäischen Rektorenkonferenz aufsteigt. Und so zieht der Katholik J. Beckmann aus nach China, nach Afrika, nach La-teinamerika, bemüht um die Rechte und Freiheit eines einheimischen Kirchentums (212); und der aus dem französischsprachigen Jura kommende reformierte J. Rossel wirkt entsprechend in Indien, bevor er als Präsident der Basler Mission deren Paradigmenwechsel einleitet: "De la mission occidentale à la mission mondiale" (317). Und so wird H. R. Weber gesagt: "Du bist ein Schweizer, den man exportieren kann" (385), und er geht nach Indonesien. Dementsprechend ist zumindest der Sinn für das Ökumenische in allen Konfessionen verbreitet, wenn er nicht gar direkt zu Verantwortlichkeiten in der ökumenischen Bewegung führt. Es geht um eine Ökumene, die "ein Zentrum, keinen Rand" hat, wie es G. W. Locher nachgerühmt wird (290). Ja, das "ouverte à l’ensemble de la tradition abrahamite" (356, 290) ist hier schon früh ausgebildet. Zu dieser Offenheit gehört aber auch die bei nicht Wenigen bemerkte, auch bei katholischen Vertretern schon früh feststellbare "apertura a sinistra" (96), nämlich in der Sorge um die sozialen Schäden angesichts der Unterprivilegierten. J. Rossel erklärte: War für das 16. Jh. die Frage nach dem "aus Gnade allein" zentral, so für uns jetzt die: "de savoir si le pardon gratuit a des implications pour le renouvellement de la société" (321). Und immer wieder ist es der Gedanke des Reiches Gottes, der als Grund für solche mannigfache Offenheit geltend gemacht wird (24, 26, 389 u. ö.).

3. Wir stoßen in dem Buch auf eine theologische Haltung, für die weithin das Interesse an Vermittlungen charakteristisch ist, verbunden mit einem Hang zur Pädagogik, aber auch mit einer nüchternen Ausrichtung auf das Machbare und darauf, immer wieder eine Mitte zwischen Extremen zu finden und so allzu schroffe Konfrontationen zu vermeiden. Es sind nicht zufällig Ausländer, die in das an sich ausgewogene Bild Extrempositionen einbringen - wie F. Overbeck mit seinem Pochen auf die Unversöhnlichkeit von Glaube und Wissen, von Eschatologie und Kirche (N. Peter hat dazu eine richtige Forscherarbeit vorgelegt, 81 ff.) oder Ch. v. Kirschbaum in ihrer Zusammenarbeit mit deutschen Kommunisten (181) oder St. Pfürtner mit seinem antiklerikalen Kampf für das "Prinzip der Gewissensfreiheit" (372) oder L. Boros mit seiner seltsamen Verklärung des Scheiterns und geradezu des Todes als des Ortes der Freiheit und Gottesbegegnung (414). Für den heimischen Schweizer ist vielmehr typisch, nach einem Ausgleich zwischen allzu steilen Dingen zu streben, nach einem Ausgleich von Theorie und Praxis, nach dem "dritten Weg zwischen Rückzug und Auszug" (405), nach einer Ergänzung von Luther und Calvin durch den "dritten Mann der Reformation", Zwingli (290), oder nach einer Position jenseits des "Zerwürfnisses von Barth und Brunner" (208). Man kann hier anscheinend in ein und derselben Person "konservativer Exeget und Bahnbrecher in die Zukunft" sein (148). Man erinnert hier daran, dass "nüchterne Sachlichkeit auch ein Charisma" sein möchte (274), und ist des Glaubens, "in allem etwas Gutes und ,Werthaftes’" entdecken zu können (297), nicht ohne in der "Sehschule der Seelsorge" dazu anleiten zu können, den Anderen zu sehen, "wie er sich selbst nicht sieht" (348). Es passt zu der Abneigung des Extremen ein mehr oder weniger kräftiges Misstrauen gegen hierarchische "Machtmentalität" (403) und ein Plädoyer für Laienaktivität in einer mündigen Gemeinde, nicht nur bei Protestanten wie R. Bohren (340), sondern das alles durchaus auch bei Katholiken (z. B. 403 f.). Ja, der frühvollendete Tessiner Kirchenrechtler und Bischof E. Corecco wollte, in einem gewissen Respekt vor K. Barth, das römische Kirchenrecht entschlossen nach der "analogia fidei" neu fassen und maß darum "dem gemeinsamen Priestertum (aller Gläubigen) in der Auferbauung der kirchlichen Gemeinschaft" auf der Basis "der rechtlichen Struktur des Volkes Gottes" eine wesentliche Bedeutung zu (436).

So zeigt die Darstellung der 33 Profile Schweizer Theologen und Theologinnen ein zwar recht buntes, aber doch auch einheitliches und spezifisches Profil der Theologenschaft dieses Landes und weist auf eine Lebensweise hin, mit der sie die Theologenschaft außerhalb dieses Landes freundlich grüßt.