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Ausgabe:

April/2000

Spalte:

419–421

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Barth, Karl

Titel/Untertitel:

Die Theologie der reformierten Bekenntnisschriften. Vorlesung Göttingen Sommersemester 1923. Hrsg. von der Karl Barth-Forschungsstelle an der Universität Göttingen (Leitung Eberhard Busch).

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag 1998. XIV, 376 S. 8 = Karl Barth Gesamtausgabe. II. Akademische Werke 1923. Lw. DM 96,-. ISBN 3-290-17157-4.

Rezensent:

Klauspeter Blaser

Über Barths Vorlesung in den ersten Jahren seiner Göttinger Lehrtätigkeit war man seit M. Freudenbergs Arbeit (Karl Barth und die reformierte Theologie, Neukirchen 1997; vgl. meine Rez. ThLZ 123, 1998, 78-80) ins Bild gesetzt. Nun hält man den unter der Leitung von E. Busch sorgfältig eingeleiteten und edierten Text selbst in der Hand und staunt gewaltig: Wie war es dem jungen Dozenten möglich, nebst aller übrigen Arbeit diese Vorlesung zu konzipieren und zu redigieren, die m. E. an theologischem Tiefgang, historischer Genauigkeit und profilierter Darstellung alles übertrifft, was bisher in dieser Sache verfügbar war? Sicher, Barths Aufsätze zur reformierten Lehre aus jenen Jahren enthielten bereits eine Zusammenfassung seines Arbeitens an diesem Gegenstand; spektakulär Neues war also nicht zu erwarten. Zudem mögen historische Details und inhaltliche Akzente von der seitherigen Spezialliteratur hie und da anders gesetzt werden (warum geizt übrigens die Kommentierung in diesem Punkt mit Hinweisen, während sie doch die vermutlich vom Autor benutzte Literatur ab und zu mit neuerer Literatur ergänzt?). Und dennoch: auch das ein genialer Wurf!

Die Besonderheit dieses Textes liegt einmal in seinem äußeren Aufbau. In einem ersten Durchgang arbeitet Barth die Bedeutung der reformierten Bekenntnisse (die er soweit möglich nach E. F. K. Müller referiert, sich aber auch auf ältere Ausgaben und Literatur stützt) im Gegenüber zur Confessio Augustana heraus. Stand hinter dem lutherischen Symbolbegriff der Glaube an die geistlich-weltliche Einheit des römisch-christlich-deutschen Abendlandes, so ist im Reformiertentum diese nach rückwärts gerichtete Hoffnung zerbrochen (19). Daraus erklärt sich die Vielzahl der reformierten Texte, die samt und sonders nicht mehr sein wollen als situationsbedingte und relative conceptae intus testificationes fidei; sie lassen jedenfalls gerade kein Einheitsbekennntnis zu (33). Gegenüber der Schrift befinden sie sich auf einer anderen Ebene, einem Reden und Denken von unten, nicht einem Offenbaren von oben (39). Der Glaube bekennt nicht sich selbst, sondern was geschrieben steht (64). Diese Thematik bildet dann den Gegenstand der zweiten Erörterung Barths, die in der Feststellung gipfelt, dass das Schriftprinzip schlechthin unbegründbar ist, weil die vom Geistzeugnis in uns nicht unterscheidbare Autopistie der Schrift weder ein historisches Datum noch ein inneres Erlebnis noch ein logisches Axiom meint, sondern der Offenbarung Gottes als einem nur in ihm begründbaren Herrschaftsakt innewohnt (101).

Gerade darum können wir die Wahrheit Gottes nur bezeugen; der von Barth auch später gerne verwendete Terminus des "Hinweises" taucht hier auf (64). Unter Abwägung aller anderen vorhandenen Möglichkeiten entschließt sich Barth, im großen dritten Paragraphen "einen Blick für das Ganze dieser Lehre zu gewinnen" (105). Was wollten diese Väter betont wissen, wenn sie ihre eigenen Bekenntnisse aufstellten anstatt das Apostolikum zu wiederholen oder einfach die Augustana anzuerkennen und ihm "durch eine ganz bestimmte Auswahl, durch bestimmte Unterstreichungen, Abgrenzungen, Verdeutlichungen oder auch Verwischungen eine neue, reformierte Fassung zu geben" (ebd)? Eingebettet in die Auseinandersetzung mit der alten Kirche Roms einerseits, mit dem Luthertum andererseits und ergänzt durch den Kampf gegen das moderne (Remonstranten-) Christentum, ortet Barth hier die positive Lehre vom Christentum, d. h. "die spezifisch reformierte Eigenart, die Gottesfrage aufzuwerfen". Die "sehr buntscheckige Reihe von Antworten" (230), lässt eine Typologisierung ziemlich irrelevant werden, wobei nach Barths Urteil Zwinglis Einleitung, Calvins Katechismus, die Gallicana, der Heidelberger Katechismus und das Schottische Bekenntnis in summa ein zutreffendes Bild davon geben, was die Reformierten eigentlich wollten (209). Unsichtbare göttliche Lebenswahrheit und sichtbare menschliche Lebenserneuerung, göttliche Zuwendung und menschliche Umkehr, Gottes- und Selbsterkenntnis, neutestamentliche und alttestamentliche Offenbarung, Gabe und Aufgabe, Rechtfertigung und Wiedergeburt, Gnadenbund und Gesetzesbund, Glaube und Pflicht wirken zusammen (230 f.). Zielt das Luthertum undialektisch auf die Glaubensgewissheit, so das Reformiertentum darauf, dass Gott nicht in unserer Hand, sondern wir in der seinigen sind (128, 232).

Die Besonderheit von Barths Vorlesung liegt sodann in seiner inneren Methodik, die nun teilweise bereits zum Ausdruck gekommen ist. Thesenartig zusammengefasst stellt der Autor das Wesentliche an den Anfang des jeweiligen Kapitels und entfaltet es dann nach allen Seiten hin unter Berücksichtigung aller relevanten Texte. Nichts scheint ihm zu entgehen, kein Detail ist ihm zu unwichtig, um nicht irgendwie erwähnt zu werden. Nie wird es dem Leser langweilig, weil Barth historische Details in interessante Zusammenhänge zu stellen weiß - oft entsteht gleichsam ein historischer Roman - oder weil sich hier nun bereits der unverwechselbare Barthsche Stil ankündigt, der unendlich mehr fesselt als die sog. wissenschaftlichen Abhandlungen der "Zuschauertheologen" (71) unserer Tage. Man vergleiche etwa Barths Ausführungen zu Beza (189-193).

Den deutschen Studenten, auch den reformierten, musste freilich dieser Abstecher ins 16. und 17. Jh. mit den Geschehnissen in Zürich, Bern, Basel, Genf und anderer schweizerischer Örtlichkeiten wohl recht exotisch vorkommen; ob ihnen manche Mitteilungen, die sich auf die deutschen Lande bezogen, mehr sagten, bleibe dahingestellt. Man spürt jedenfalls, woher Barth kommt und was er "aus eigener Anschauung" kennt; die anmerkungsweise Kommentierung durch den Herausgeber, meistens sehr knapp gehalten, kann dem Nicht-Eingeweihten weiterhelfen. Schließlich fällt auch auf, dass Barth bei aller wissenschaftlichen Akribie und Distanznahme gegenüber dem Gegenstand gerade hier ein besonderes Feuer zu entwickeln scheint. Mit seiner Vorliebe für Calvin und dem inneren Engagement entdeckt er seine eigene Tradition, trägt sie mit und verarbeitet sie produktiv.

Man lässt sich diesen Band der Gesamtausgabe mit dem eher unzeitgemäßen Thema gerne gefallen! Mögen ihn diejenigen aufmerksam lesen, die von der Frage nach der "reformierten Identität" bewegt sind. Hier ist Antwort.