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Ausgabe:

April/2000

Spalte:

418 f

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Barth, Karl

Titel/Untertitel:

Predigten 1921-1935. Hrsg. von H. Finze.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag 1998. XXII, 694 S. 8 = Karl Barth Gesamtausgabe. I. Predigten. Lw. DM 126,-. ISBN 3-290-17163-9.

Rezensent:

Klauspeter Blaser

Der Band schließt die noch klaffende Lücke in der Veröffentlichung der Predigten während der akademischen Tätigkeit Barths (1935-1952 und 1954-1967 bereits erschienen); auch für die Predigtarbeit Barths im Pfarramt von Safenwil fehlen nur noch die Jahre 1918-1921. Holger Finze hat 49 Predigten ediert, von welchen 16 bisher nicht zugänglich waren, während die übrigen 33 (vor allem aus der Zeit nach 1928 stammend) in den von Barth inspirierten Zeitschriften "Zwischen den Zeiten" und "Theologische Existenz heute", oftmals parallel auch in den von ihm besonders geschätzten "Biblischen Zeugnissen" Aufnahme gefunden hatten und später in den bekannten Predigtbänden gesammelt wieder abgedruckt worden sind.

Im Unterschied zum Gemeindepfarramt hatte Barth es meistens mit Studenten und Kollegen in Göttingen, Münster und Bonn zu tun; auch bei Predigten anderwärts, innerhalb und außerhalb Deutschlands, handelte es sich meistens um Einladungen zum Vortrag. Als Prediger wurde er verlangt und gehört wegen seiner neuen und besonderen Stimme. Doch finden sich in der Ausgabe auch Trauansprachen in intimerem Rahmen, ergänzt durch Bibelstunden und Zeitungsartikel zu kirchlichen Festtagen sowie durch biblische Betrachtungen. Über die näheren Umstände, die Textherstellung, die verschiedenen Predigt-orte, die Editionen, den Apparat und die Kommentierungsgrundsätze möge sich der Interessierte konzis und umfassend durch die Einleitung von H. Finze orientieren lassen. Auch dieser Band ist ein Glanzstück von Akribie. Selbst die geringsten Abweichungen im Original gegenüber bereits bestehenden Drucken oder unerheblichen Differenzen zwischen verschiedenen Drucklegungen der vorliegenden Predigten werden im Apparat verzeichnet. Dass dieses lobenswerte Prinzip gerade gelegentlich auch in die Nähe des Grotesken führt, ist ein Gefühl, das der Rez. allerdings nicht ganz unterdrücken kann. Die Anmerkungen enthalten für den geschichtlich und biographisch Interessierten eine Menge Details, z. B. zu Heinrich Scholz, den K. Barth getraut hat. Es ist kaum sinnvoll, sich zu den Formalia hier ausführlicher zu verbreiten. Klar ist: Den Forschern, die sich besonders der Homiletik Karl Barths widmen wollen, ist hier ein weiterer kostbarer Stein in den Garten gefallen. Ich möchte ihnen einige Gedanken, die mich bei der auszugsweisen Lektüre beschäftigt haben, unterbreiten:

1. Barth hat offenbar recht bewusst das veröffentlicht, was ihm als der Veröffentlichung würdig erschien. Auffällig sind bei den bisher unzugänglichen Texten ein eher loser Schriftbezug (z. B. Gleichnis vom Schalksknecht) und eine oft nicht ohne Weiteres verständliche Terminologie bzw. Dialektik. Ist die Ausage zu gewagt, dass im Vergleich zur Bonner Zeit Barths frühere Predigten weder dieselbe Dichte noch die gleiche Klarheit aufweisen? Nach heutigen Standards handelt es sich allemal um relativ schwierige Predigten, obschon im Urteil damaliger Zuhörer besonders deren Einfachheit überraschte (vgl. 344, Anm.). Gerade dies macht sie in der heutigen Predigtwüste bereits wieder interessant.

2. Geht es zu weit, bei Barth gewisse Charakteristika pietistischen Predigens wiederfinden zu wollen, auch wenn das spezifisch barthische Vokabular und der Heilsuniversalismus (159 ff.) natürlich das pietistische Schema durchkreuzen? Die Anrede des einzelnen Hörers mit dem dringlichen "Du", das Repetitive (z. B. "Jesus Christus sucht uns", in der Predigt vom 10. Juli 1932), die wiederkehrende "existentialistische" Gebärde "zwischen Verzagtheit und Hochmut" weisen in diese Richtung. Es ist überdies interessant, wie wenig die kritische Exegese zum Zug kommt und einfach Wendungen und Worte des Textes ausgepresst werden. Auch manche rhetorische Füllsel sind zu beobachten. Barth wagt es, dem Menschen bisweilen penetrant die unangenehme Seite seiner Existenz klar aufzuzeigen: Er ist schuldig, verurteilt, verloren (167, 210).

3. Gibt es neben den Traureden, den Bibelarbeiten und den Artikeln, die man insgesamt dem Genus der Kasualien zuordnen könnte, nicht auch und trotz entsprechendem Verbot bei Barth die Themapredigt? Man beachte die frühe (mir bisher unbekannte) Äußerung zum Thema Mission (129 ff.) oder die Marienpredigt (214 ff.). Ist es nicht so, dass mit zunehmender Intensität des Kirchenkampfes zwar der Schrifttext rhetorisch eine nicht wegzudenkende Rolle einnimmt, die Predigt aber manchmal auch ohne den Text bestehen könnte und also die Übergänge zwischen Vortrag und Predigt fließend sind?

4. Selbst wenn man die heutige theologische und homiletische Situation als katastrophal beurteilt, so kann doch der Dienst dieses Buches nicht darin bestehen, Barths Predigen als rettenden Anker zu rühmen. Zu groß ist die historische, terminologische und spirituelle Distanz, etwa zum heutigen Pluralismus oder zur berechtigten Frage nach der historischen Vermittlung der kontingenten Offenbarung. Und doch üben gerade dieselben Texte, die solche Fragen nahelegen, eine eigentümliche Faszination aus. Barth arbeitet eine Botschaft heraus, die von der ungebrochenen Aktualität seiner theologischen Schriftauslegung zeugt. Einige Splitter mögen das zum Schluss belegen:

"Wir werden nicht übersehen können, daß unser Glaube in jedem Augenblick ein Ringen mit unserem eigenen übermächtigen Unglauben ist." (237) "Aber die Erbärmlichkeit menschlichen Wesens kommt darin zum Ausbruch, daß unser Letztes immer nur unser Erbarmen mit uns selber ist" (270). "Es steht nicht in unserer Macht, einander zu bekehren, weder durch das Wort der Predigt, noch durch das Wort unseres Werkes. Was steht überhaupt in unserer Macht? Wir können nur hören, was wir sind und daraus folgt, daß wir es sind. Jesus Christus hat den Unglauben der Menschen damit erst genommen, daß er ihn nicht ernst genommen hat" (286).