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Ausgabe:

April/2000

Spalte:

413–415

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Luginbühl-Weber, Gisela

Titel/Untertitel:

Johann Kaspar Lavater - Charles Bonnet - Jacob Bennelle: Briefe 1768-1790. Ein Forschungsbeitrag zur Aufklärung in der Schweiz. 1. Halbbd.: Briefe; 2. Halbbd.: Kommentar.

Verlag:

Bern: Lang 1997. LXXVII. 819 S., zahlr. Abb. 8. Lw. DM 138,-. ISBN 3-906756-49-1.

Rezensent:

Albrecht Beutel

Anzuzeigen ist die vorzügliche, in ihrer editorischen Sorgfalt und kommentierenden Gründlichkeit mustergültige Ausgabe des Briefwechsels zwischen dem Zürcher Theologen und Schriftsteller Johann Kaspar Lavater (1741-1801), dem Genfer Naturforscher und -philosophen Charles Bonnet (1720-1793) und dem Genfer Pfarrer Jacob Bennelle (um 1717-1794). Dieser vielschichtige, gelehrte Trialog ist nicht nur das Dokument einer "unverbrüchliche[n] Freundschaft zweier Autoren und ihres unermüdlichen Vermittlers" (XXIII), sondern zugleich einer der erstaunlichsten interdisziplinären Diskurse aus dem Zeitalter der Aufklärung - ihn "den wohl erstaunlichsten" zu nennen (XLV), ist eine Übertreibung, die die Herausgeberin, um die Bedeutung ihrer Edition zu unterstreichen, gar nicht nötig gehabt hätte.

Die hier erstmals vollständig vorgelegte Korrespondenz - deren bislang einziger Teildruck von 1924 ist damit überholt - umfasst 85 Briefnummern. Sieben Briefe konnten nur erschlossen werden und müssen als verloren gelten. Die erhaltenen Schreiben sind überwiegend in französischer (70 Nummern), zu einem kleinen Teil (8 Nummern) in deutscher Sprache verfasst. Die Briefe umspannen den Zeitraum von Dezember 1768 bis August 1790, freilich in einer höchst ungleichmäßigen Streuung: Rund zwei Drittel der Briefe stammen aus den ersten zweieinhalb Jahren der Korrespondenz; später scheint der Austausch mitunter länger als ein Jahr geruht zu haben (für die Jahre 1774, 1777, 1779, 1780, 1782, 1784, 1786 und 1787 sind überhaupt keine Schreiben bekannt). Leider fällt eine dieser Lücken in die Zeit des sog. "Bekehrstreits" - die Widmung an Moses Mendelssohn, die Lavater seiner deutschen Teilübersetzung von Bonnets "La palingénésie philosophique" 1769 vorangestellt hatte, war als Aufforderung zur Konversion verstanden und, bei großer öffentlich-literarischer Anteilnahme, als unschicklich-anmaßende Proselytenmacherei gebrandmarkt worden -, so dass der Briefwechsel von Hintergründen und Verlauf des Streits kaum etwas sichtbar werden lässt (LXIV).

Das Themenspektrum, das in dieser Korrespondenz verhandelt wird, ist breit, weist aber doch einige deutliche Brennpunkte auf. Durchgehendes Interesse finden die Hauptwerke von Bonnet und Lavater: Bonnets "Palingénésie" und zumal die darin angestellten erkenntnistheoretischen Erörterungen sind für Lavater als gleichsam naturwissenschaftliche Begründung seiner in den "Aussichten in die Ewigkeit" (4 Bde., 1768-1778) entwickelte Unsterblichkeitslehre von elementarer Bedeutung. Aber auch Lavaters Interesse an einer wissenschaftlichen Physiognomik ("Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntniss und Menschenliebe", 4 Bde., 1775-1778) wird immer wieder zu einem wichtigen Gesprächsgegenstand - bis hin zu der dem Vermittler Bennelle am 24.7.1773 behutsam, aber eindringlich vorgetragenen Bitte, er möchte ihm "von unserm verehrungswürdigsten Herrn Bonnet eine genaue, crayonnirte, oder feingetuschte Zeichnung im Profil, en Médaillon" (125) oder doch wenigstens "einen genauen Schattenriß von seinem Profil" beschaffen, "NB ohne Perüke" (126). Der Vorstoß war erfolgreich: Bennelle vermittelte an Lavater eine crayonnierte Profilzeichnung des perücken- und haarlosen Bonnet, scheint freilich die von Lavater in seinem Bittbrief höflichkeitshalber hinzugefügte Einladung, auch von sich selbst eine Profilskizze beizulegen, taktvoll ignoriert zu haben (558).

Ein weiterer Schwerpunkt des Briefwechsels liegt in dem durchgängigen Interesse an dem Phänomen einer übernatürlichen Geistbegabung; der von Bennelle dafür gebrauchten Wendung "les vrais Chrétiens" (44) entspricht bei Lavater der Ausdruck "Kraftchristen" (390). Ausführlich berichtet Lavater am 9.12.1769 von dem soeben abgeschlossenen "Verhör der merkwürdigen Frau" Elisabeth Tüscher, die unter ihrer Gabe, "bisweilen auch zukünftige Dinge in einem glatten weißen Trinkglas mit reinem waßer, im kleinen figürlich und en relief zuerblicken", leide und "keinen als guten gebrauch davon" mache: "Diese Gabe hindert Sie weder an der Arbeit noch am Gebeth" (56 f.). Nachdem er einige Beispiele dieser "merkwürdigen" Geistbegabung erzählt hat, kommt Lavater zwar zu dem Ergebnis, die Sache müsse noch viel genauer untersucht werden, verbindet damit aber zugleich die Vermutung, die angeführten Beobachtungen seien in direktem Zusammenhang mit Bonnets Keimtheorie und Fibernpsychologie zu interpretieren (59. 409 f.).

Stärker, als man auf Grund des Briefbestands hätte vermuten können, wird dann allerdings auch der "Bekehrstreit" in den Blickpunkt gerückt. Während offenbar selbst Bonnet der Auffassung war, Lavater habe mit seiner folgenschweren Widmung den jüdischen Philosophen zur Konversion bewegen wollen (40. 374), vermutet der Lavater wohlgesonnene J. J. Breitinger darin einen empirischen Test auf die Frage, "ob das messianische Zeitalter ... bereits angebrochen sei" (LXVII; vgl. 212-223); wenn freilich die Hgn. die Widmung Lavaters kurzerhand als "ein[en] Schritt auf dem Weg zur politischen Gleichstellung der Juden" (LXVII) interpretiert, so hätte diese überraschende Deutung zumindest einer integrativen Erklärung bedurft. Lavater selbst machte aus der Kluft, die ihn von Mendelssohn trennte, nie ein Hehl: "Moses wird mir immer ein Räthsel des Verstandes und des Herzens bleiben" (112), schrieb er am 12.2.1771 an Bonnet, dem er zwölf Tage zuvor anvertraut hatte: "Ich kenne keinen Mann von dieser aüßersten Feinheit und Scharfsinnigkeit, der so augenscheinliche fehl=urtheile und Paralogismen mache, wie Er" (105).

Der sehr umfangreiche Kommentarteil (im Vergleich zum Briefteil beansprucht er mehr als den doppelten Umfang; berücksichtigt man überdies den kleineren Satzspiegel, so stehen Brief- und Kommentarteil gar in dem Verhältnis 1:3) beschränkt sich nicht auf unmittelbar verstehensnotwendige Erläuterungen, sondern bietet auch zahlreiche Hintergrund- und Randinformationen. Seine Lektüre ist überaus lehrreich, unterbricht aber die fortlaufende Lektüre der Briefe in einem bisweilen schwer erträglichen Maß - so wird z. B. die Erwähnung zweier Bände der "Allgemeine[n] deutsche[n] Bibliothek" (123) durch einen 117-zeiligen Kommentar (552-554), die des d’Holbachschen Buches "Système de la Nature" (113) durch einen 57-zeiligen Kommentar erläutert (524-526). Insofern wäre dem Leser ein zweifacher Lektüregang anzuempfehlen: zunächst in der Beschränkung auf den im 1. Halbband gebotenen Text der Briefe, sodann, in einem zweiten Durchgang, in dem vertiefenden, synoptischen Studium von Brief- und Kommentarteil.

Zu kritisieren sind nur ein paar Schönheitsfehler. So stimmt z. B. die Überschrift von Brief Nr. 10 im Briefverzeichnis (LXXV) nicht mit der Kopfzeile des Abdrucks (29) überein. Für die Briefe G. Ch. Lichtenbergs wird noch immer die alte Leitzmannsche Ausgabe von 1901, die seit der von A. Schöne und U. Joost besorgten (und im Quellenverzeichnis aufgeführten!) Briefedition (1983 ff.) antiquiert ist, zitiert (z. B. 279). Zudem sind die Erläuterungen zu einigen historischen Personen durchaus irreführend, so wenn J. J. Spalding als "Leibniz-Wolffianer" (368) oder J. F. W. Jerusalem - überdies anachronistisch - als "lutherischer Alttestamentler" (369) vorgestellt werden.

Üppige Anhänge steigern noch einmal den Wert des nicht kostspieligen, aber kostbaren Bandes: Der 1. Halbband bietet eine 84-seitige Dokumenten-Sammlung aus dem thematischen Umkreis des Briefwechsels (179-263), der 2. Halbband wird durch eine Übersicht zu "Lebensdaten und Hauptwerke[n]" der Briefpartner (667-692), ferner durch ein reiches Quellen- und Literaturverzeichnis (697-779) und durch ausführliche Register (785-819) abgerundet.

Erst nach einer aufmerksamen Lektüre vermag der Leser zu ermessen, wie stark der dem Band vorangestellte Untertitel untertreibt: In Wahrheit ist diese Edition sehr viel mehr als nur "ein Forschungsbeitrag", und sie behandelt sehr viel mehr als nur die "Aufklärung in der Schweiz".