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Ausgabe:

April/2000

Spalte:

410–412

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Gierl, Martin

Titel/Untertitel:

Pietismus und Aufklärung. Theologische Polemik und die Kommunikationsreform der Wissenschaft am Ende des 17. Jahrhunderts.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1997. 644 S. m. Abb. 8 = Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 129. Geb. DM 132,-. ISBN 3-525-35438-X.

Rezensent:

Volker Gummelt

Die Göttinger Dissertationsschrift von Martin Gierl will nicht, wie man es bei dem Obertitel "Pietismus und Aufklärung" vermuten könnte, eine Gesamtdarstellung dieser Thematik sein. Für das richtige Verständnis des Anliegens dieser Arbeit ist die Einschränkung durch den Untertitel "Theologische Polemik und die Kommunikationsreform der Wissenschaft am Ende des 17. Jahrhunderts" entscheidend.

In einer Einleitung (11-17) benennt G. als die Hauptgegenstände seiner Untersuchung "die Pietismuskontroverse" und "die deutsche Frühaufklärung". Hieran interessiert den Historiker G., wie die Kommunikation in der Wissenschaft am Ende des 17. Jh.s funktionierte und welche Wandlungen sich zu Beginn des 18. Jh.s demgegenüber vollzogen. Insbesondere bei der Analyse "der Pietismuskontroverse" ist es von Vorteil, dass G. als Historiker diesem Anliegen nachgeht. So kann er der Versuchung widerstehen, eine theologische Standortbestimmung vorzunehmen. Allerdings muss auch ein Manko der Darstellung G.s erwähnt werden, das die Arbeit insgesamt jedoch nur geringfügig beeinträchtigt: In den Abschnitten, in denen G. über seine eigentlichen Schwerpunkte hinaus theologiegeschichtliche Exkurse gibt, finden sich leider einige Unkorrektheiten nicht nur terminologischer Art.

Der erste der insgesamt drei großen Abschnitte dieses Buches (19-259) ist ausschließlich "der Pietismuskontroverse" gewidmet. Unter "der Pietismuskontroverse" versteht G. alle Streitigkeiten zwischen Vertretern der lutherischen Orthodoxie und Vertretern des "eher gemäßigten, kirchlichen" und des "radikalen Pietismus" in der Zeit der siebziger Jahre des 17. Jahrhunderts bis zum Ende des zweiten Jahrzehnts des 18. Jahrhunderts. Als Quelle dient ihm dazu die umfangreiche Sammlung von Streitschriften in der Universitätsbibliothek Göttingen, die zwölfbändigen sog. "Acta pietistica", die die wichtigsten der entsprechenden Publikationen enthalten. (Vollständigkeit ist bei dieser Materie nicht zu erreichen und bei der Zielsetzung von G. auch nicht notwendig.) Als den Mittelpunkt all diesen Streitens stellt G. völlig überzeugend die "Verteidigung der reinen Lehre" heraus, die gemäß der damaligen allgemein anerkannten "Praxis des Elenchus", d. h. der öffentlichen Widerlegung von Irrlehren, ablief. Diese orientierte sich insbesondere an den Schemata von Disputationen, wie sie in den Universitäten jener Zeit gelehrt und gepflegt wurden. G. zeigt auf, in welch fest etablierten Bahnen sich die pietistischen Auseinandersetzungen vollzogen. Zudem gewinnt man durch seine Untersuchung Verständnis für das äußere Erscheinungsbild dieser Streitigkeiten und für die Vorgehensweise und eingesetzten Mittel, denen sich beide Seiten in gleicher Weise bedienten. Bedauerlich ist nur, dass G. sich ausschließlich auf "die Pietismuskontroverse" konzentriert und die gleichzeitigen Streitigkeiten lutherischer Theologen mit Repräsentanten der römisch-katholischen und reformierten Kirche völlig ausklammert. Viele Aspekte, die G. als konstituierend für das Kommunikationsgefüge "der Pietismuskontroverse" herausstellt, wären auch auf diese Bereiche der theologischen Auseinandersetzung übertragbar.

In dem zweiten großen Abschnitt des Buches (261-413) verbleibt G. quellenmäßig gesehen weiterhin bei "der Pietismuskontroverse", fragt nun jedoch vor allem nach dem "Kommunikationswandel". In einem ersten Kapitel geht G. von diesbezüglichen Äußerungen Speners aus und stellt an ausgewählten Beispielen dar, wie in verschiedenen pietistischen Kreisen eine Reform des wissenschaftlichen Kommunikationswesens angestrebt wurde. In einem zweiten Kapitel werden die Veränderungen auf dem "literarischen Markt" während "der Pietismuskontroverse" vorgestellt. Interessant sind hier insbesondere die Ausführungen G.s, die basierend auf sorgfältigen Auswertungen von Katalogen der Buchmessen jener Jahre belegen, wie man sich in den Auseinandersetzungen stets um die Gunst eines möglichst breiten Lesepublikums bemühte. Dieses Bemühen setzte nicht nur die Ausschöpfung aller drucktechnischen Möglichkeiten voraus, sondern verlangte von allen beteiligten Parteien, publikumsfreundliche - und das hieß z. T. immer wieder neue - Erscheinungsformen ihrer Veröffentlichungen zu schaffen.

In dem abschließenden dritten großen Abschnitt des Buches (415-574) wendet G. sich dem anderen Gegenstand seiner Untersuchung, "der deutschen Frühaufklärung", zu. Das erste Kapitel beschäftigt sich ausschließlich mit der Gestalt des Christian Thomasius (1655-1728). Als "frühaufklärischer Denker, pietistischer ,Zänker’ und Medienpionier" (416) verbindet Thomasius in einzigartiger Weise auch unter dem kommunikationgeschichtlichen Aspekt "die Pietismuskontroverse" und "die deutsche Frühaufklärung" miteinander. Die Ausführungen in dem zweiten Kapitel dieses Abschnittes zu drei ausgewählten Phänomenen der deutschen Frühaufklärung ("die Eklektik", "die Historia literaria", "die Höflichkeitsdebatte") führen eindrücklich ein "neues Verständnis von Gelehrsamkeit" und ein anderes Kommunikationsgefüge als in "der Pietismuskontroverse" vor. Einige der Folgerungen, die G. in seinen kurzen Schluss-bemerkungen (575-578) daraus zieht, sind jedoch angesichts der unterschiedlichen Thematik seiner beiden Schwerpunkte etwas überzogen. Ein äußerst umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis (582-624) schließt die Arbeit ab.

Den Resultaten dieser Dissertationsschrift ist es zu wünschen, dass sie von breiten Kreisen der Forschung rezipiert werden. Zu hoffen ist, dass G.s methodischer Ansatz auch in weiteren Bereichen der Kirchengeschichte in ähnlicher Weise zur Anwendung kommt.