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Ausgabe:

April/2000

Spalte:

405–407

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Mayordomo-Marín, Moisés

Titel/Untertitel:

Den Anfang hören. Leserorientierte Evangelienexegese am Beispiel von Matthäus 1-2.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998. 448 S. gr.8 = Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments, 180. Lw. DM 98,-. ISBN 3-525-53864-2.

Rezensent:

Eckart Reinmuth

Dieses Buch ist ein eindrucksvolles und weithin überzeugendes Beispiel für die gegenwärtige methodische Erweiterung und Neuorientierung in den exegetischen Disziplinen. Der Vf. unternimmt es mit seiner bei Ulrich Luz gefertigten Dissertation, am Beispiel der matthäischen Vorgeschichte die Fruchtbarkeit einer konsequent rezeptionskritischen Fragestellung aufzuweisen.

Da er damit im Blick auf einen Evangelientext im deutschsprachigen Raum ein immer noch wenig erkundetes Gebiet betritt, ist der erste Teil seiner Arbeit dem Anliegen und der Geschichte dieser Fragestellung und ihrer theoretischen Grundlagen gewidmet (Literarische Rezeptionskritik und Evangelienexegese, 11-195). Dabei ist eine anregende, übersichtlich gestaltete Darstellung rezeptionsästhetischer und wirkungsgeschichtlicher literaturtheoretischer Entwürfe und Positionen entstanden, bei der - dies gilt für das Buch im Ganzen - die instruktive Literaturverarbeitung, die auch spanischsprachige Autoren einbezieht, hervorzuheben ist. Teil II der Arbeit ist der rezeptionskritischen Auslegung von Matthäus 1-2 gewidmet (196-365). Die eigentliche Textarbeit, in der eine auf die hypothetische Erstrezeption bezogene Analyse vorgeführt wird, beschränkt sich freilich auf knappe 120 Seiten; sie wird durch theoretische Vorklärungen, einen Exkurs zur form- und gattungsgeschichtlichen Analyse der Geburtsgeschichte und eine hermeneutische Abschlussreflexion gerahmt.

Der Schlussteil ist mit "Kritische Rückschau und hermeneutischer Ausblick" überschrieben (366-392); Literaturverzeichnisse und Register runden die Arbeit ab. Wie dieser Überblick zeigt, nehmen die theoretisch-darstellenden und methodenkritischen Reflexionen den größten Raum ein. Sie sind in einem frischen, anregenden Stil engagiert und gut lesbar geschrieben, so dass sich informative Darstellung und diskursive Anregung ergänzen, auch wenn man die Bewertungen und Folgerungen des Autors nicht immer teilen mag.

Die Anwendung am Text bleibt freilich etwas schwebend; das hängt m. E. mit dem unentschiedenen Umgang mit den vorzustellenden ,Erstlesern’ zusammen. M.-M. diskutiert verschiedene Möglichkeiten, vor allem die der impliziten oder der realen Adressaten des Matthäusevangeliums (Leser ,im Text’ vs. Leser ,vor dem Text’; vgl. 136 u. ö.), und er entscheidet die Alternative zu Gunsten der - freilich historisch zu erschließenden - realen Leser. Sie sind eingestandenermaßen "eine gelehrte hypothetische Abstraktion einer viel komplexeren, umfassenderen und vielseitigeren tatsächlichen Rezeption"; es standen theoretisch also auch andere historische Rezeptionsstufen zur Auswahl (371; freilich sei die Erstrezeption ihnen gegenüber durch ihre Nähe zur Enzyklopädie des Autors ausgezeichnet). Damit ist ein nicht zu unterschätzendes methodisches Problem gegeben, dessen Lösung - vor allem im Blick auf eine stringente Unterscheidung zwischen ,impliziten’ und ,realen’ Adressaten - nicht immer überzeugt (vgl. die theoretische Diskussion 135-144; die bereits 1976 erschienene Einführung zur Rezeptionsforschung von Hannelore Link bleibt leider unerwähnt).

Als Frage wird überdies nur unzureichend reflektiert, ob es nicht gerade unter historischem Gesichtspunkt erforderlich wäre, von Ersthörern zu sprechen. Der Vf. übersieht nicht die Besonderheiten der historischen Lektürebedingungen (bes. 166-170), nach denen als Erst-Leser der Evangelien eigentlich nur ihre Vor-Leser in Frage kommen, so dass der Text von den Adressaten als ,Klangereignis’ (170) rezipiert wurde. Warum wird dann nicht konsequent von den Hörern und Hörerinnen der Texte gesprochen (zumal die Besonderheiten einer solchen Rezeption erwähnt werden)? Vor diesem Hintergrund bleibt "der tatsächlich von den historischen Lesern und Leserinnen im Hörvorgang wahrgenommene Text" (169) eine unbefriedigende Vorstellung.

So bleibt der Vf. gleichsam auf halber Strecke stehen, weil er die Konturen der historischen Rezipienten nicht eindeutig umreißt. Ihr Bild bleibt schwach; soziologische u. ä. Fragen (z. B. die Bedeutung der Konversionserfahrung zum Christentum für die Textrezeption) werden nicht gestellt. Es bestehen gegenwärtig ergiebige Möglichkeiten, die kulturellen Kontexte antiker Rezipienten darzustellen, ihre Textweiten, religiösen und anthropologischen Symbolsysteme, selbst ihr Verhältnis zu Fiktionalität und Realitätsbezug von Texten zu erfassen. So wird nicht hinreichend diskutiert, welcher Grad an Bibelkenntnis bei den Erstrezipienten vorauszusetzen ist (vgl. dazu z. B. 320, Anm. 628 mit 316). Auch die Frage nach einer eventuellen Kenntnis der synoptischen Tradition oder gar des Markusevangeliums ist im Blick auf die ersten Rezipienten zu reflektieren und zu entscheiden.

Soweit ich sehe, wird nirgends die Frage gestellt, welchen Realitätsstatus die Erstleser den behandelten Texten zuschrieben- waren es für sie eher ,märchenhafte’ oder ,reale’ Texte (vgl. 356; auch 360 f.)? Dies führt zu der Frage, ob eine rezeptionskritische Untersuchung tatsächlich in so weitgehendem Maße wie die vorliegende Arbeit auf eine narratologische Analyse (und damit der impliziten Adressaten) verzichten kann. So zeigt etwa die Behandlung der Rolle Gottes im Zusammenhang des bethlehemitischen Kindermords (312 ff.) eine entsprechende Unsicherheit, die die Rezeptionsmöglichkeiten der hypothetischen Erstrezeption m. E. eher einengt als öffnet (zur m. E. problematischen Behandlung des bethlehemitischen Kindermordes vgl. auch 363).

Der Vf. betont abschließend, "daß die Ermöglichung einer Pluralität von Lektüren (und nicht deren Einschränkung!) das vielleicht wichtigste Proprium rezeptionskritischer Fragestellungen sein sollte" (392). Die vorliegende Studie löst diese Forderung auf erfreuliche Weise ein; sie bereichert in der Tat mit ihrer theoretischen Vor- und ihrer leserorientierten Textarbeit die Pluralität der hermeneutischen und exegetischen Grundlagendiskussion.