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Ausgabe:

April/2000

Spalte:

401–404

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Gaukesbrink, Martin

Titel/Untertitel:

Die Sühnetradition bei Paulus. Rezeption und theologischer Stellenwert.

Verlag:

Würzburg: Echter 1999. 346 S. gr.8 = Forschung zur Bibel, 82. Kart. DM 48,-. ISBN 3-429-01929-X.

Rezensent:

Otfried Hofius

Die einem zentralen und höchst anspruchsvollen Thema gewidmete Arbeit hat sich das Ziel gesetzt, "den theologischen Umgang des Paulus mit den urchristlichen Überlieferungen vom Sühnetod Jesu zu beschreiben" (41). Sie ist klar aufgebaut und gelangt zu einer in sich kohärenten Sicht, die zweifellos mancherlei Zustimmung finden wird, mich selbst jedoch weder in exegetischer noch in hermeneutischer Hinsicht zu überzeugen vermag.

Die als Teil A dargebotene "Einführung" (10-45) skizziert Thema und Fragestellung (10-13) und ordnet beides in einer recht grobmaschigen Darstellung in die Forschungsgeschichte ein (13-41). Eine verhängnisvolle Weichenstellung erfolgt dann in dem Abschnitt "Zum Sprachgebrauch von ,Sühne’" (41-44): Die für das Verständnis der biblischen Sühneaussagen grundlegende Unterscheidung von exkludierender und inkludierender Stellvertretung wird als "den biblischen Texten fremd" zurückgewiesen - und dies nicht etwa mit Argumenten, sondern mit dem bloßen Hinweis auf zwei knappe Äußerungen der Sekundärliteratur, mit denen die Sache nun wirklich nicht entschieden ist (44, Anm. 201). Dass G. die Relevanz jener Unterscheidung verborgen geblieben ist, hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass der sühnetheologische Fundamentalsatz 2Kor 5,14b eine ganz unzureichende Interpretation erfährt (161) und elementare Texte wie Röm 5,12-21; 6,1-11; Gal 2,19 nicht sorgsam in die Betrachtung einbezogen werden. Eine präzise semantische Bestimmung des Sühnebegriffs bietet G. nicht. Es wird aber deutlich, was er unter "Sühne" versteht: die Befreiung der Sünder von der auf ihnen lastenden Sündenschuld bzw. die Tilgung oder Wegnahme der Sünde, durch die den Sündern die Möglichkeit eröffnet wird, dem ihnen als Folge der Sünde drohenden Tod zu entgehen (vgl. etwa 216 ff. 283 ff.). Die Frage, ob dieses Verständnis dem, was zentrale biblische Texte und insbesondere auch Paulus über die Sünde sagen, überhaupt gerecht zu werden vermag, kommt nicht in den Blick.

Teil B der Arbeit erörtert in engem Anschluss an die Sekundärliteratur das Thema ",Sühne in der alttestamentlich-jüdischen Tradition" (46-84). G. findet im Alten Testament zwei unterschiedliche Phänomene bezeugt: die "kultische Sühne" im Sinne von Lev 16 und die "stellvertretende Sühne" bzw. "sühnende Stellvertretung" des Gottesknechts in Jes 53 (46-60 bzw. 60-69; vgl. 43 f.). Ob im Blick auf Jes 53 mit Grund von "Sühne" geredet werden kann, hängt von dem vorausgesetzten Sühnebegriff ab und wird dementsprechend strittig bleiben. Was die Ausführungen zur kultischen Sühne anlangt, so ist erstaunlich, wie schnell G. mit der hoch reflektierten und wohlbegründeten Sicht fertig wird, die H. Gese und B. Janowski vertreten haben. Gegen das Verständnis der kultischen Sühne als einer auf Identifizierung beruhenden zeichenhaft-realen Lebenshingabe an das Heilige soll sprechen, dass dieses "mit exegetischen Problemen behaftet" sei, - eine Feststellung, die mit dem einfachen Hinweis auf den Leviticus-Kommentar von R. Rendtorff begründet wird (52 mit Anm. 39). Das gibt Anlass zu einer Frage, die sich auch an mancher Stelle im neutestamentlichen Teil der Arbeit aufdrängt: Genügt es, wenn selbst bei gewichtigen Thesen und weitreichenden Urteilen auf eine eigenständige Argumentation verzichtet und stattdessen lediglich auf Sekundärliteratur verwiesen wird?

Das Zentrum der Arbeit bildet Teil C: ",Sühne’ in der vorpaulinischen Tradition und der paulinischen Rezeption" (85-254). G. unterscheidet im Blick auf die vorpaulinischen und dann von Paulus rezipierten Sühneaussagen zwei Gruppen: die "Sühneaussagen in ñÚ-Verbindungen", deren Hintergrund er in der Vorstellung von der sühnenden Stellvertretung des Gottesknechtes findet (105-228), und die "Sühneaussage mit îÏÛÙÚÈÔÓ", die er auf die alttestamentlich-kultische Sühneanschauung zurückführt (229-245). Während die zweite Gruppe lediglich durch Röm 3,25 f. repräsentiert wird, rechnet G. zur ersteren neben der Abendmahlsüberlieferung 1Kor 11,23b-25 die "Sterbensformeln" (Röm 5,6.8; 1Thess 5,10; 1Kor 15,3b-5; 2Kor 5,14 f.; Röm 14,15 und 1Kor 8,11), die "Dahingabeformeln" (Röm 4,25; 8,32 bzw. Gal 1,4; 2,20) sowie 2Kor 5,21 und Gal 3,13 als "Aussagen in abgewandelter Form". Im Einzelnen geht G. so vor, dass er jeweils zunächst die vorpaulinische Tradition und sodann die paulinische Rezeption beschreibt. Hinsichtlich der Bestimmung dessen, was vorpaulinische Tradition ist, kann man natürlich des Öfteren streiten, und nicht jedem wird die erwähnte Unterscheidung der beiden Aussagegruppen und die jeweilige Zuordnung der Texte einleuchten. Zweifel erheben sich ferner gegenüber der Annahme, dass im Hintergrund aller ñÚ-Stellen tatsächlich das vierte Got-tesknechtslied steht. Was die Einzelexegesen selbst betrifft, so bleiben diese auch dort, wo sie etwas ausführlicher gehalten sind, sehr an der Oberfläche. Gerade weil es sich um gewichtige und zugleich schwierige Texte handelt, wären jedoch detaillierte und in die Tiefe gehende Analysen erforderlich gewesen.

Meine kritischen Anfragen an die von G. gebotenen Exegesen sind hier nicht im Einzelnen aufzulisten. Ich konzentriere mich auf einige zentrale Probleme und beziehe mich dabei zugleich auch auf Teil D der Arbeit (255-298: "Der Sühnetod Christi in der paulinischen Theologie"), der die zuvor gewonnenen Ergebnisse zusammenfasst und unter anderem die "Funktion der Sühneaussage bei Paulus" beschreibt (262-288). Die zu benennenden Probleme werden in vier für die Arbeit essentiellen Verhältnisbestimmungen greifbar, die nach meinem Urteil sämtlich der paulinischen Sicht der Dinge nicht entsprechen: 1. Sühne und Rechtfertigung: Nach G. erblickt Paulus in dem Sühnegeschehen des Todes und der Auferstehung Jesu Christi nicht den Realgrund, sondern lediglich den "Ermöglichungsgrund" der Rechtfertigung (186 f. 238 f. 241 f. 262 ff. 296 u. ö.). Für Paulus jedoch ist das Christusgeschehen als solches in suffizienter Weise die Heilstat Gottes: die Versöhnung der Feinde Gottes mit Gott (Röm 5,10; 2Kor 5,18b.19a), die "Rechtfertigung" der Gottlosen als der rettende Freispruch zum Leben (Röm 3,21 ff.; 4,25; 5,9.18 f.), die den Sündern eine neue Existenz gewährende Sündenvergebung (2Kor 5,17.19b. 21; vgl. Röm 3,25 f.). Im gepredigten Evangelium als dem mit der Heilstat unlöslich verbundenen Heilswort Gottes wird die vollzogene Versöhnung kundgegeben (Röm 5,1.11; 2Kor 5,18c.19c.20), der bereits ergangene Freispruch ausgerichtet (Röm 1,16 f.), die schon gewährte Vergebung gültig zugesprochen (vgl. Röm 4,6-8) - und zwar derart, dass Gott selbst den Glauben wirkt und so das neue Leben in der heilvollen Gottesbeziehung auf den Plan führt.

2. Sühne und Glaube: Der falschen Verhältnisbestimmung von Sühne und Rechtfertigung entsprechend interpretiert G. paulinische Aussagen - und hier insbesondere die Worte Èa ÛÙÂ Röm 3,25 - dahingehend, als sei der Glaube "die Antwort des einzelnen Menschen auf das entscheidende Handeln Gottes", die das Sühnegeschehen allererst für ihn wirksam werden lässt (238 f.). "Die Aktualisierung [sc. des Sühnetodes Christi] geschieht im Glauben. Der geschichtliche Rechtsgrund wird für den Menschen erst als geglaubter wirksam. Der Sühnetod geht zwar dem Glauben voraus, er bedarf aber des Glaubens. Ohne ihn kann er seine Heilskraft nicht entfalten, kann er nicht zur Rechtfertigung führen" (265). Diese Deutung (vgl. ferner etwa 187.241.263) verkennt, dass der Glaube nach Paulus streng Gottes Gabe ist. Er ist zeitlich wie sachlich zugleich mit dem Kommen Christi "gekommen" (Gal 3,19.23.25; in der Sache ebenso Röm 3,21-26). Das heißt: Er ist im Christusgeschehen selbst konstituiert, und er wird in der Konsequenz der da gefallenen Entscheidung dem einzelnen Menschen durch das gepredigte Evangelium von Gott geschenkt (Röm 10,14-17; 1Thess 1,4 f.).

3. Sühne und Ethik: Auf Schritt und Tritt begegnet bei G. die These, dass nach Paulus durch Christi Sühnetod eine "neue Lebensausrichtung" ermöglicht (!) sei und die durch Christus erwirkte Rettung deshalb die "Bewährung im Tun" verlange (s. etwa: 113.116 [zu 1Kor 11,23b-25]. 136 f. [zu 1Thess 5,10]; 161 ff. [zu 2Kor 5,14 f.];. 207 f. [zu Gal 2,20]; 211.220 f. [zu 2Kor 5,20 f.]; 275 ff. [grundsätzlich])."Der Indikativ der Heilsmitteilung und der Imperativ des auch von den Glaubenden zu verwirklichenden Heiles sind bei Paulus eng miteinander verbunden" (276). Wird dem Apostel damit eine Konditionierung der Heilsteilhabe durch die christliche Lebensführung zugeschrieben, so beruht das auf unhaltbaren Exegesen. So soll etwa der Finalsatz 2Kor 5,15b "zugleich ... als ein implizierter Imperativ zu lesen" sein: "Die neue Lebensausrichtung muß vom Glaubenden ergriffen werden" (164). In Wahrheit beschreibt der Finalsatz (ebenso wie Röm 6,4b; 8,4; Gal 2,19a,) die neue Lebenswirklichkeit, die Gott selbst im Christusgeschehen geschaffen und in die er die Glaubenden versetzt hat. Was im Übrigen die in der Paulusexegese verbreitete, aber gleichwohl unangemessene "Indikativ"-"Imperativ"-These anlangt, so sei nachdrücklich auf zwei wichtige Aufsätze verwiesen: H. Weder, Gesetz und Sünde, in: Ders., Einblicke ins Evangelium, 1992, 323-346; Chr. Landmesser, Der paulinische Imperativ als christologisches Performativ, in: Ders. u. a., Jesus Christus als die Mitte der Schrift, 1997, 543-577.

4. Sühne und Endgericht: Paulus unterscheidet G. zufolge "zwischen Rechtfertigung und endzeitlicher Rettung und sieht letztere nicht als unmittelbare, automatische Folge des Sühnetodes an ... Die Möglichkeit eines anderen Urteils über den Glaubenden durch Gott, sein ÎÚÌ, ist mit dem Sühnetod Christi nicht aufgehoben" (131 Anm. 212; vgl. 271). Dass Paulus in diesem Sinn eine doppelte Rechtfertigung vertritt, wird schon durch die beiden fundamentalen Sätze von Röm 5,8-10 ausgeschlossen, die G. selbst korrekt als Schlüsse a maiore ad minus bestimmt (128.270). Zu verweisen ist ferner etwa auf Röm 8,32 (samt Kontext). G.s eigene Ausführungen zu diesem Vers (188-195) enthalten gute Einsichten; umso unverständlicher ist es, dass er nicht auch die Bewahrung der Glaubenden im Heil als eine notwendige Folge der dem Sühnetod Christi eignenden "umfassenden erlösenden Kraft" (194) zu begreifen vermag.

Am Ende seiner Untersuchung betont G. mit Nachdruck die "Unverzichtbarkeit" der Sühneaussage sowohl für Paulus selbst (283 ff.) wie auch für die christliche Theologie überhaupt (289ff.). Dem kann ich - über den tiefgreifenden exegetischen Dissens hinweg - nur uneingeschränkt zustimmen. Im Blick auf jenen Dissens aber seien abschließend zwei Fragen formuliert, die auch an andere Darstellungen der paulinischen Theologie zu richten sind, deren Gewicht jedoch im Lichte der Arbeit G.s in besonderer Weise deutlich wird: Ist für Paulus das Sühnegeschehen des Todes und der Auferstehung Jesu Christi lediglich die notwendige, oder ist es zugleich auch die hinreichende Bedingung des Heils? Und: Kann im Ernst ein Heilshandeln Gottes gedacht werden, das zu seiner Heilswirksamkeit der "Aktualisierung" durch menschliches Tun und Verhalten bedarf?