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Ausgabe:

Oktober/2020

Spalte:

998–1000

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Hoping, Helmut

Titel/Untertitel:

Jesus aus Galiläa – Messias und Gottes Sohn.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2019 (2. Aufl. 2020). 496 S. Geb. EUR 58,00. ISBN 978-3-451-38253-6.

Rezensent:

Lukas Ohly

Zwischen Dogmatik und Exegese liegt derzeit ein Graben. Selbst für christologische Entwürfe der Gegenwart fällt es auf, wenn sie die exegetische Forschung mit in ihre Reflexion aufnehmen. Helmut Hoping, Professor für Dogmatik an der katholischen Fakultät in Freiburg, hat seine Christologie aus dem exegetischen Befund entwickelt. Er bindet für seine Christologie alle Disziplinen der Theologie ein. Neben Exegese und profunder Rekonstruktion der christologischen Lehrbildung (Teil I) zeichnet sich das Buch auch in der Darstellung des gegenwärtigen Diskurses durch seinen dialogischen Aufbau aus (Teil II). Im Dialog liegt auch das Ziel des Buches, nämlich in der Aufnahme jüdisch-christlicher Diskussionen um Jesus bei voller Anerkennung der Gnade und Berufung Israels (350) als auch im Versuch, Christentum und Islam auf eine gemeinsame Gesprächsebene zu bringen, in der Theologen beider Religionen sich und die anderen besser verstehen (329). Das vorliegende Buch ist ein Angebot für einen ökumenischen Diskurs um die Bedeutung Jesu für den christlichen Glauben.
Über weite Strecken arbeitet H. die Diskussionslage auf. Seine eigene Position schimmert auf den ersten Blick nur subtil durch, obwohl er sich in der Einführung zur Zusammengehörigkeit von Schrift und Tradition (14) und – für eine Christologie überraschend– zur natürlichen Theologie (15) bekennt. Diese beiden Weichenstellungen sind allerdings folgenreich, so sehr, dass ich den Band nicht als Lehrbuch empfehlen kann, obwohl seine Darstellungen über weite Strecken vorzüglich sind. Insbesondere die theologiegeschichtliche Darstellung der Lehrbildung ist sowohl prägnant als auch präzise und eignet sich insbesondere zur Examensvorbereitung. Lehrenden wiederum dürften die ausführlichen Re­ferate weitgehend bekannt, in den Schlussfolgerungen jedoch häufig zu kühn erscheinen. Am ehesten dürfte das Buch wohl als Kompendium zur eigenen Vorbereitung von Lehrveranstaltungen seinen Nutzen haben. Studierende jedoch werden mit den teilweise apodiktischen und doch streitbaren Aussagen überfordert sein.
Die Bedeutung der natürlichen Theologie für das Buch liegt in ihrer hermeneutischen Scharnierstelle zwischen Schrift und Tradition. H. zeigt ein Interesse an einer Harmonisierung beider Quellen. Die Theologie hat die Aufgabe, »den Gegensatz zwischen dem historischen Jesus und dem Christus des Glaubens zu überwinden« (47). Die harmonisierende Brückenfunktion leistet dabei anscheinend die natürliche Theologie als vernunftmäßige Überprüfung, die ihre Maßstäbe keiner Offenbarungsquelle verdankt.
Einige Beispiele: Ich teile mit H., dass das Grab Jesu am Ostertag leer war, da es keinen Hinweis gebe, den Christen sei vorgeworfen worden, »der Leichnam befinde sich noch im Grab« (128). Allerdings geht die Folgerung für mich zu weit: »Die Osterbotschaft wäre sofort widerlegt gewesen, wenn der Leichnam Jesu im Grab gelegen hätte.« (129) Dies scheint mir weder als historische Aussage verstanden werden zu müssen noch als Glaubensaussage zwingend zu sein. H. jedoch braucht das leere Grab Christi aus Vernunftgründen: »Der körperliche Leib Jesu gehört konstitutiv zur geschichtlichen Offenbarung Gottes in Jesus Christus und kann daher für die Wirklichkeit der Auferstehung Jesu nicht irrelevant sein.« (138) Merke: Die Schlussfolgerung ist kein Offenbarungssatz, sondern verdankt sich dem kohärenten Wirklichkeitsbild einer natürlichen Theologie.
Ein zweites Beispiel: Als Modell für die Menschwerdung Gottes setzt H. daran an, »die innere Bedingung für die Menschwerdung Gottes im Menschen zu erhellen« (235). Sie wird mit Michel Henry im inkarnierten Subjekt gefunden, nämlich darin, dass menschliche Selbstgegebenheit ursprünglich eine Gabe ist, die als solche im Rücken aller Selbstakte liegt (245 f.). Darum ist der subjektive Leib unsichtbar (246). Das sind weiterführende Gedanken, die sich auch bei Pannenberg wiederfinden, dem evangelischen Theologen, der bei H. die höchste Zustimmung erzielt (20.130.230 u. ö.). Vor allem eignet sich dieser phänomenologische Zugang zur Aufnahme jüdisch-messianischen Denkens, etwa von Levinas (241 ff.). Allerdings sind die Grundlagen hierfür nicht selbst schon Offenbarungen (wie bei Levinas), für die vielmehr umgekehrt das inkarnierte Subjekt Voraussetzung ist, eine »anthropologische Möglichkeit« (245). Und das kann nur behauptet werden, wenn zwischen Gott und Mensch eine gemeinsame ontologische Basis unterstellt wird, frei von allen Offenbarungen.
Für die natürliche Theologie als Brückenfunktion stehen etliche Behauptungen, die ohne sie zirkulär wären: Jesus konnte nicht »in völliger menschlicher Verzweiflung gestorben« sein, weil er sonst nicht »Gottes menschgewordener Sohn« gewesen wäre (114). Eine solche finale Begründung lässt sich schwerlich als historische Aussage verstehen. Als Glaubensaussage ist sie nur stimmig unter Voraussetzung eines bestimmten Realismus, zu dem gehört, dass Jesus ein Messiasbewusstsein gehabt haben musste: »Ohne ein göttliches Sendungs- und Vollmachtsbewusstsein wäre Jesus nicht glaubhaft der menschgewordene Sohn Gottes.« (255 f.) Hier entscheidet die Vernunft über den Glauben.
Diese voraussetzungsreichen Äußerungen sind in einem Lehrbuch zu intransparent. Unbedarfte Leser können dann auch nicht leicht zwischen Legenden und historischen Aussagen unterscheiden, weil beide Perspektiven mit einer Sicherheit vertreten werden, die (berechtigten) Rückfragen wenig Raum lassen. Das trifft nicht nur auf theologisch harmlose Aussagen zu: »Jesus wuchs in einem kleinen Dorf in der Nähe von Sepphoris und Tiberias auf« (30) oder, immerhin kirchenpolitisch bedeutsam, zur Ehelosigkeit Jesu »zum Zeichen der ›Exklusivität und Totalität seiner Sendung‹« (80). Vielmehr wird insbesondere das behauptete Messias- und Selbstbewusstsein Jesu nur dann historisch akzeptabel, wenn man die Vernunft als dritte theologische Quelle zugrunde legt: Das vierte Gottesknechtslied sei nicht in der frühjüdischen Messiaserwartung als Schriftbeleg aufgetaucht. »Historisch wahrscheinlicher dürfte es sein, dass Jesus sein Leiden im Lichte des vierten Gottesknechtsliedes deutete.« (278) Diesen originellen Schriftverweis nicht der Urgemeinde zuzutrauen, dürfte mit der vorausgesetzten Alleinstellung Jesu zusammenhängen, wobei wieder nicht die Offenbarung entscheidet, was diese Alleinstellung prägt.
Wenn das Motiv der Jungfrauengeburt traditionsgeschichtlich weder dem Heidentum (66) noch dem Judentum (68) zuzurechnen ist, bleibt zumindest suggestiv die Möglichkeit, es könne sich um ein reales Ereignis gehandelt haben. H. reicht es aus, es bei Möglichkeiten zu belassen, und dehnt sie dabei rhetorisch aus. Hat Jesus geheilt, um Sünden zu vergeben? »Literarkritisch aber spricht nichts dagegen.« (83) Zu Jesu Naturwundern: »Daraus folgt allerdings nicht, dass es sich dabei ausschließlich um urchristliche Dichtung handelt.« (91) Zur Erscheinung des Auferstandenen vor vielen: »So besteht doch kein Grund, daran zu zweifeln.« (123) Die Argumentationsfigur wiederholt sich durchgängig, mittels vernünftiger Denkbarkeit eine Harmonisierung von Historie und Glauben zu erreichen.
Und sie mündet in einer Rechtfertigung universaler Wahrheitsansprüche auch im interreligiösen Dialog: »Da es in Religionen um letzte, unbedingte Orientierungen für unser Leben geht, kann ihre Geltung nicht allein hypothetisch behauptet werden.« (315) Ist das zwingend die Aussage einer Offenbarungsreligion?