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Ausgabe:

April/2000

Spalte:

392–395

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Bodendorfer, Gerhard, u. Matthias Millard unter Mitarb. von Bernhard Kagerer [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Bibel und Midrasch. Zur Bedeutung der rabbinischen Exegese für die Bibelwissenschaft.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 1998. XIII, 307 S. gr.8 = Forschungen zum Alten Testament, 22. Lw. DM 168,-. ISBN 3-16-146857-0.

Rezensent:

Stefan Schreiner

"Dieser Band soll ... ansatzweise aufzeigen, auf welche Weise die jüdisch-rabbinische Tradition ... innerhalb der Bibelwissenschaft Verwendung finden kann. Er stellt sich dem schwierigen Problem der Hermeneutik, versucht, anhand einzelner Beispiele Anwendungen vor Augen zu führen und greift auf einen Bereich aus, der Judentum und Christentum gleichermaßen in den Bann zieht, der Verwendung der Bibel angesichts des Entsetzens unter dem Eindruck von Auschwitz." (2) Mit diesen Worten beschreibt G. Bodendorfer das Anliegen des von ihm und M. Millard herausgegebenen Bandes und stellt damit zugleich die drei Themenbereiche vor, zu denen die in ihm vereinten Aufsätze beitragen wollen. Dabei soll die behutsame Formulierung des ersten Satzes zum einen die Richtung anzeigen, in die die Bemühungen laufen, und zum anderen von einer Verwendung der jüdisch-rabbinischen Tradition innerhalb der Bibelwissenschaft abgrenzen, die die Herausgeber nicht wollen; denn, so B. an anderer Stelle, "eine Verwendung der rabbinischen Texte in einer - christlich dominierten - Exegese und Bibeltheologie muß sich ... des Eigenwertes dieser [scil. jüdisch-rabbinischen] Tradition bewußt sein", was eine Verwendung des "Judentum[s ...] als Steinbruch für die christliche Exegese" ausschließt (13).

Den Band eröffnet R. Rendtorffs programmatisch gemeinte "Introduction to the Symposium ’Ancient Jewish Exegesis and the Modern Study of the Bible’" (3-8), die in der Sache freilich nicht über das hinausgeht, was der Vf. erstmals 1983 auf dem 8. Weltkongreß für Jüdische Studien bereits vorgetragen hat und deutsch unterdessen in seinem "Kanon und Theologie" (1991, 15-22; englisch: Canon and Theology, 1993, 17-24) nachlesbar ist. Die folgenden Beiträge sind, wie schon erwähnt, in drei Themenbereichen zusammengefasst. Vorangestellt ist jedem Themenbereich eine kurze Einführung des einen oder anderen der beiden Herausgeber.

Der erste Themenbereich, "Hermeneutik und rabbinische Literatur" überschrieben, umfasst fünf Aufsätze, deren Anliegen es ist, ausgehend von der Beobachtung, dass in der rabbinischen Literatur bereits "Intertextualität groß geschrieben und ... die Aktualisierung des Textes herausgestrichen" wird, "exemplarisch aufzuzeigen, wie die[se] rabbinische Literatur herangezogen werden kann und soll, um der modernen Bibeltheologie neue Impulse zu geben" (12).

Am Beispiel von ",Der Gerechte wird aus dem Glauben leben’ - Hab 2,4b und eine kanonisch-dialogische Bibeltheologie im jüdisch-christlichen Gespräch" macht B. (13-41) "den Versuch einer Methodik der kanonischen Dialogizität", d. h. den Versuch, "die (ersttestamentlich-)biblischen Texte in einen dialogischen Diskurs mit ihrer doppelten Rezeption in Juden- und Christentum" zu stellen. Nach einigen methodischen Erwägungen und etwas knapp geratenen exegetischen Bemerkungen zum Text analysiert er dazu die Auslegungen, die Hab 2,4b in bMakkot 23b-24a (21 ff.) einerseits und durch Gal 3,11 und Röm 1,17 sowie Hebr 10,37 f. (33 ff.) andererseits erfahren hat, um sodann der Frage nachzugehen, wie sich diese beiden Auslegungen zum einen zueinander verhalten (36 ff.) und zum anderen jeweils den biblischen Text aktualisieren (40 f.). Ob die beiden Auslegungen in Inhalt und Ziel tatsächlich so parallel liegen, dass sie einander geradezu ergänzen, muss allerdings erst noch bewiesen werden.

Einen angesichts eines - fehlender allgemein akzeptierter Definition wegen - ebenso inflationären wie undifferenzierten Gebrauchs des Begriffes Midrasch schier aussichtslosen neuen Versuch einer Begriffsbestimmung unternimmt L. Teugels in "Midrash in the Bible or Midrash on the Bible? Critical Remarks about the Uncritical Use of a Term" (43-63). Ausgehend von A. Goldbergs und anderer Untersuchungen (45 ff.) formuliert der Vf., anhand der Analyse der als Beispiel gewählten Auslegung von Gen 24,5 in BerR LIX,9 (57 ff.), eine Reihe von Kriterien zur Definition des Begriffs Midrasch, deren Beachtung den Midrasch als eine spezifisch rabbinische Form der Schriftauslegung begreifen lässt, die "neither typical for inner-biblical interpretation nor for interpretations of the Hebrew Bible in the New Testament" ist, aber auch nicht alle rabbinischen Texte pauschal als Midrasch bezeichnen lässt (61.63).

Als Fazit seiner zwischenzeitlich in vier Bänden erschienenen Untersuchungen zu den Gleichnissen der rabbinischen Literatur vertritt C. Thoma in "Theologische Tendenzen in rabbinischen Gleichnissen" (65-73) die These, dass diese in der Summe "einen reichen ’pool’ bilden, aus dem sich das rabbinische Gottes- und Menschenverständnis in möglichst prägnanter Weise gewinnen läßt" (73), wie er hier an ShirR I,7-8 und ShemR LI,5 exemplifiziert.

Die These, dass Abraham ibn Esra, wie immer wieder einmal zu lesen ist, "nachweislich der erste Gelehrte gewesen [sei], der die mosaische Verfasserschaft der Tora in Frage gestellt habe", beschäftigt D. U. Rottzoll in ",Der Verständige wird es verstehen ...’ - Zu den redaktionsgeschichtlichen Ansätzen bei Abraham ibn Esra und ihrer Interpretationsgeschichte" (75-95). Wenn auch Ibn Esra, in aller Behutsamkeit zwar, so doch unbestreitbar deutlich einige bemerkenswerte, Entstehung und Redaktion der Tora betreffende Fragen aufgeworfen hat, die nicht zuletzt B. Spinoza in seinem Tractatus Theologico-Politicus aufgegriffen hat, kann der Vf. doch anhand einer Analyse von Ibn Esras Auslegung zu Dtn 1,2 (76 ff.) und einiger ausgewählter Super-Kommentare dazu (79 ff.82 ff.86 f.87 ff.) zeigen, dass obige These, wenn schon nicht auf einer falschen, so doch zumindest auf einer übertrieben verallgemeinernden Interpretation einzelner Aussagen Ibn Esras beruht.

In "Intratextuality and Intertextuality - Joining Transmission History and Interpretation History in the Study of Genesis" (97-112) schließlich geht D. Carr der Frage nach, welchen Beitrag rabbinische Überlieferung für eine historisch-kritische Erforschung des Pentateuchs, hier des Buches Genesis, zu leisten vermag. Ausgehend von der Feststellung, dass die wesentlichen im Buch Genesis literarkritisch feststellbaren Brüche, Textdifferenzen, Gegensätze und dgl. mehr zwischen priesterschriftlichem (P) und nicht-priesterschriftlichem Material (non-P) bestehen, untersucht er an zahlreichen Beispielen aus Talmud und Midrasch (101 ff.105 ff.), wie rabbinische Schriftausleger, denen diese Brüche, Textdifferenzen, Gegensätze und dgl. mehr nicht verborgen geblieben sind, damit umgegangen sind und zeigt, dass und in welcher Weise sie sie als "interpretative opportunities" genutzt haben, "to unlock deeper legal and theological truths" (111).

Unter der Überschrift "Bibelinterpretation an den Beispielen Genesis und Exodus" vereint der zweite Teil vier Aufsätze, die nach M. Millard illustrieren wollen, wie die jüdische Bibel "nur gemeinsam mit und in Vermittlung von der jüdischen Auslegungsgeschichte jüdische Bibel" ist (115).

In "Reading Creation" (117-166) legt D. R. Blumenthal eine Synopse (in englischer Übersetzung) der Kommentare von Raschi alias R. Schelomo Jitzchaqi (1040-1105), dessen Enkel Raschbam alias R. Schemuel ben Me’ir (1085-1174), Abraham ibn Esra (1092-1167) und Ramban alias R. Mosche ben Nachman (1194-1270) zu Gen 1,1-2,3 vor, in deren Layout er übrigens das Layout jüdischer Traditionsliteratur nachgeahmt sieht. Dabei versteht der Vf. diese Kommentare nicht als Kommentar im herkömmlichen Sinne, sondern betrachtet sie als "(re)written creation narratives" (120), in denen "the traditional Jewish worldview" ihren Niederschlag gefunden hat (166).

Mit seiner Analyse von "Anfang und Schluß in klassischen jüdischen Kommentaren - Überlegungen zur Genesis als erstem Buch der Tora" (167-190) will M. Millard "die Torahermeneutik einiger klassischer jüdischer Bibelkommentare zu beschreiben" versuchen (169). Am Beispiel der Einleitungen (172 ff.) und Schlussbemerkungen (179 ff.) der Genesiskommentare GenR, Tan und TanB, Raschi demonstriert der Vf., wie sich die jeweiligen Kommentatoren bemüht haben, das Buch Genesis, das von wenigen Einzelfällen abgesehen, Tora nur "überwiegend als Aggada" enthält, in ihrer Auslegung gleichwohl "auf die Gesetzgebung am Sinai" zu beziehen und von ihr her auszulegen (187). Für die untersuchten Bibelauslegungen erkennt der Vf. in der "Auffassung der Genesis einen Mittelweg zwischen der Extremauffassung des Jubiläenbuches, das die Erzählungen der Genesis zu einem Bestandteil der Sinaioffenbarung macht, und der Darstellung bei Paulus in Gal 3, der in der polemischen Situation des Galaterbriefes die Genesis völlig vom Sinaigeschehen löst" (188).

Ausgehend von einigen modernen Interpretationen rekapituliert G. Büsing in "Adam und die Tiere - Beobachtungen zum Verständnis der erzählten Namengebung in Gen 2,19 f." (191-208) zunächst die Deutungen der Genesisstelle in Jub 3 (196ff.), Josephus (198 f.), Philon (199 ff.) und bJev 63a (202f.), um anschließend zu fragen, wie im Laufe der Interpretation aus der "weisen Herrschaft des Urmenschen" die "Gewaltherrschaft des Mannes" werden konnte (203 ff.). Dabei hat für den Vf. "der Blick auf die jüdische Auslegungstradition ... in erster Linie eine kritisch heuristische Funktion", der zum einen "die Wahrnehmung unterschiedlicher Interpretationsmuster in Beziehung zu ihren jeweiligen thematischen und historischen Kontexten" und zum anderen "zielgerichtete Fragen an das Verständnis des zugrundeliegenden Bibeltextes" erlaubt (207). Was aber der - bei genauer Beachtung der thematischen und historischen Kontexte - eigentliche Sinn von Gen 2,19 f. ist, muss auch der Vf. erst noch zeigen.

In "Rashi on Exodus I:1-14" (209-227) bietet J. Magonet, was er "a ’naive’ reading of a few passages from Rashi’s commentary on Exodus" nennt, d. i. eine Analyse des Raschi-Kommentars, die auf dessen Quellen rekurriert und nach der Logik fragt, die hinter der Wahl seiner Quellen liegt. Dabei bewundert der Vf. Raschis "scholarly approach to the text" ebenso wie seine bemerkenswerte Kenntnis der exegetischen Literatur und "his commitment to a close reading of the text", die ihn geradezu zu einem "model for modern literary approaches" machen (226 f.), auch wenn wir heute andere, weitergehende Fragen und demzufolge auch andere Antworten haben.

Im dritten und letzten Teil, "Bibelinterpretation nach der Shoa", geht es um moderne Literatur, um den modernen "Midrasch", wenn man unter Midrasch den Versuch versteht, "die jeweilige Gegenwart im Horizont biblischer Geschichte zu verstehen" (231), wie M. Millard meint, dessen Einleitung zu diesem Teil ansonsten jedoch verunglückt ist.

Formen solcher moderner Midraschim untersuchen T. R. Wright in "Midrash and the Genesis of Modern Fiction - Wiesel, Steinbeck and the Remarkable Cain" (235-262) und T. Linafelt am Beispiel von E. Wiesel, A. Néher und D. Blumenthal in "’Mad Midrash’ and the Negative Dialectics of Post-Holocaust Biblical Interpretation" (263-274), auf die hier am Ende wenigstens noch hingewiesen sei.

Es ist zweifellos eine bemerkenswerte thematische ebenso wie formale Bandbreite, die die Beiträge dieses Bandes abdecken. Wenn man nach einem gemeinsamen Nenner, nach einem sie alle durchziehenden roten Faden fragt, dann ist er wohl, wie die kurze Inhaltsübersicht anzudeuten versucht hat, in dem zu finden, was die Herausgeber eingangs als ihr Anliegen benannt haben, nämlich "ansatzweise aufzeigen, auf welche Weise die jüdisch-rabbinische Tradition ... innerhalb der Bibelwissenschaft Verwendung finden kann". Dass dieses Bemühen, so interessant die einzelne Beiträge je für sich auch sind, dennoch nicht in allen gleich gut und gleich überzeugend gelungen ist, ist allerdings nicht zu übersehen. Dennoch muss man den Herausgeber für die Anstöße danken, die sie mit diesem Band gegeben haben, und es bleibt am Ende nur zu hoffen, dass sie damit bei denen, die sich um das Verstehen der Bibel bemühen, auch das gebührende Echo finden werden.