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Ausgabe:

April/2000

Spalte:

383 f

Kategorie:

Religionswissenschaft

Titel/Untertitel:

Metzler Lexikon Religion. Gegenwart - Alltag - Medien. Hrsg. von Ch. Auffarth, J. Bernard, H. Mohr, unter Mitarb. von A. Imhof u. S. Kurre. Bd. 1: Abendmahl - Guru. XVIII, 532 S. m. zahlr. Abb. Bd. 2: Haar - Osho-Bewegung. II, 632 S. m. zahlr. Abb.

Verlag:

Stuttgart-Weimar: Metzler 1999. gr.8. ISBN 3-476-01551-3 u. 3-476-01678-1.

Rezensent:

Theo Sundermeier

Von dem auf drei Bände geplanten Lexikon zur gegenwärtigen Bedeutung der Religion liegen zwei Bände vor. Die Lektüre hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Es ist kein Lexikon, das Studierenden in die Hand gegeben werden kann, die sich über zentrale Stichworte der Religionsgeschichte informieren wollen. Die Geschichte der Religionen wird so gut wie ausgeklammert. Auch wenn das Herausgeberteam junger Nachwuchswissenschaftler aus Tübingen sich vor dem Anspruch wissenschaftlich zu verantwortender Texte nicht herumdrückt, gewinnt man den Eindruck, dass gerade ihr Anspruch, kein Urteil nach welcher Seite auch immer abgeben zu wollen, zu belastenden Einseitigkeiten führt. Jede Darstellung, so objektiv sie auch vorgeht, ist nun einmal Interpretation und damit Beurteilung. Das wird an dem Lexikon schon im Formalen und in der Auswahl der vielfältigen Bilder deutlich. Zum Stichwort "Goethe" wird das Goetheanum in Dornach abgebildet.

Das Stichwort "Abendmahl" gibt Gelegenheit, eine Szene aus einem Film Buñuels und einen modernen Werbegag von Kevin Klein abzudrucken, die sich beide an das Vorbild da Vincis halten. Dem eigenen Anspruch, ein unkonventionelles Lexikon herauszugeben, das jung, dynamisch sich der Religion in der Gegenwart zuwendet und sie als eine "spannende" Sache darstellt, die sich "sinnlich" und "sichtbar" vermittelt (so VI, VIIIf.), wird es durchaus gerecht. Doch fragt man sich, was die Kriterien gewesen sind, die Länge der Artikel festzulegen und wann Literaturverweise und Anmerkungen gemacht werden durften und wann nicht. Zum Stichwort "Engel" wird auf wichtige, nicht gerade geläufige Literatur verwiesen, zum Stichwort "Nativismus" und "Aberglauben" und vielen anderen fehlen Literaturverweise ganz, bei "Aberglauben" wird nicht einmal auf das wieder zugängliche grundlegende Lexikon "Handbuch des Aberglaubens" verwiesen, das eine Fundgrube für nicht nur vergangene Volksreligiosität ist. Aber "Aberglauben" gibt es ja nicht, denn diesen Begriff zu gebrauchen, hieße schon, ein ausgrenzendes Urteil zu sprechen. Für das Stichwort "Orthodoxe Kirchen" werden knapp zweieinhalb Textseiten bereit gestellt, für die "Osho-Bewegung" kaum weniger, für "Jeanne d’Arc" über zwei Seiten. Das Stichwort "Frömmigkeit" nimmt nicht mehr als 13 Zeilen in Anspruch, ebensowenig Platz hat man für den "Friedhof", dagegen wird der "Garten" mit dem "Paradies" zusammengeschlossen und erhält gut zwei Seiten Text. Dass das Stichwort "Gebet" mit einem Bild aus einer CSU-Veranstaltung beginnt, auf dem Theo Waigel, Max Streibl und andere CSU- Größen die Hände zusammenlegen, aber die Augen offen halten, soll wahrscheinlich provozieren, auch wenn man damit die "Öffentlichkeit" von Religion demonstrieren will. Dem Anspruch, Religion "sinnlich" darzustellen wird man in den Bildern vielfach gerecht, wenn auch einseitig. Zum Stichwort "Kalifornien" wird ein Ritus aus der ersten "schwul-lesbischen Synagoge" von Los Angeles gezeigt.

Zum Stichwort "Kannibalismus" wird Lenin in Form einer Cremetorte öffentlich verzehrt und internalisiert, aber es wird auch behauptet, dass "die Berichte über Kannibalismus genauen Überprüfungen nach Augenzeugenschaft nicht standhalten" (Bd. 2, 158). Die Aussagen von Teilnehmern aus solchen Ritualen hat die Vfn. offenbar dann wohl weltweit nachgeprüft. Wer von Kannibalismus spricht, will ausgrenzen, sagt die Vfn. Gewiss, Beteiligte gebrauchen einen anderen Begriff. Aber ist er trotz des Missbrauchs damit grundsätzlich falsch? Die "Ökumenische Bewegung" wird ausschließlich aus katholischer Sicht beschrieben. Dort heißt es: "Zwischen den Kirchen wurden Dialogkommissionen eingerichtet, die alle wesentlichen Kontroversen (Rechtfertigung, Sakramente, Kirche, Amt) diskutieren. Dabei konnte in den meisten Streitpunkten ein Konsens gefunden werden" (Bd. II, 596). Schön wär’s! Zum Stichwort "Mission", zu dem ganze zwei Literaturangaben gemacht werden (davon die eine: Urs Bitterli, Die ,Wilden’ und die ,Zivilisierten’!), weiß man zu sagen, "daß sich Missionare oft genug eben genau wie wilde Agenten des Herrn auf Rachefeldzug gegen das Heidentum aufgeführt haben" (Bd. II, 451). Dass auch der Buddhismus eine missionarische Religion ist und Buddha mit einem Missionsbefehl seine Jünger ausgesandt hat, seine Botschaft zu verkündigen, scheint dem Vf. nicht geläufig zu sein; nur unter dieser Prämisse sind die Bemerkungen zu einem buddhistischen Missionsstand auf dem Flughafen (ebd. 453) in Colombo verständlich. Und was ist mit den expansiv missionierenden buddhistischen "Sekten" in Japan und der medienwirksamen Verkündigung des Dalai Lama? Vorurteilsfrei ist in meinen Augen auch nicht die Zusammenstellung von "Gott/Götter/das Heilige" zu einem einzigen Artikel. Immerhin werden ihm fünfeinhalb Seiten Text zugestanden.

Die Liste von zu monierenden Hinweisen kann beliebig verlängert werden. Aber ich will auch auf gelungene Artikel hinweisen "Nationalsozialismus", "Literatur", "Kunst" u. a. Hier wird das Lexikon seinem Anspruch gerecht, Religion in der Moderne zum Anfassen nah zu bringen. Seiteneinsteigern, die Geschmack an der Religion gewinnen wollen, Lehrern und Erziehern, die ungewöhnliches Bildmaterial und Auseinandersetzungen mit modernen Fragestellungen suchen (und selbst Hinweise auf Webseiten erwarten), kann das Lexikon empfohlen werden. Religion ist eine außergewöhnliche Sache. Das widerzuspiegeln leistet das Lexikon, zum Guten wie zum Schlechten. Man ist gespannt, ob der 3. Band etwas weniger peppig, dafür etwas sachorientierter sein wird.