Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/2000

Spalte:

381 f

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Goodman-Thau, Eveline [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Vom Jenseits. Jüdisches Denken in der europäischen Geistesgeschichte.

Verlag:

Berlin: Akademie 1997. 249 S. gr.8. Pb. DM 98,-. ISBN 3-05-002719-3.

Rezensent:

Hans-Jürgen Becker

Lehnt sich der Titel dieses Buches an die Überschriften klassischer philosophischer Traktate oder systematischer Abhandlungen von Glaubensartikeln an, so lässt der Untertitel eher an eine philosophie- oder religionsgeschichtliche Darstellung denken. Tatsächlich handelt es sich aber um einen Sammelband von dreizehn (zum Teil erweiterten) Vorträgen deutscher und israelischer Religionswissenschaftler, Philosophen und Theologen anlässlich eines Symposiums in Oldenburg im Jahre 1995. Die meisten dieser Vorträge behandeln "Jenseits", "Auferstehung" oder "Transzendenz" in jüdischen Schriften oder bei jüdischen Autoren von der Antike bis in die Gegenwart, wobei das Schwergewicht auf der Neuzeit und frühen Neuzeit liegt. Andere streifen diese Thematik nur am Rande oder bearbeiten sie indirekt (Yehoyada Amir, Ewigkeit und Wahrheit. Die messianische Erkenntnistheorie Rosenzweigs, 143-167; Ingeborg Nordmann, Transzendenz und Verantwortung. Margarete Susman im Dialog mit Nietzsche und der Tora, 169-178). Es gibt einige Überschneidungen, besonders der drei vorwiegend der Antike gewidmeten Beiträge, und Widersprüche, vor allem zwischen den Beiträgen von Niewöhner und Krochmalnik im Blick auf die Bedeutung von Jenseits und Auferstehung bei Maimonides- eine Diskussion ist nicht dokumentiert (Friedrich Niewöhner, Jenseits und Zukunft. Über eine Differenz im 12. Jahrhundert, 61-69; Daniel Krochmalnik, Die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele in der Religionsphilosophie der Aufklärung, 79-107).

Der Band beginnt bei Philo und endet heute. Dazwischen bleiben viele Lücken. Die behandelten Autoren der Neuzeit (außer Rosenzweig und Susman noch Hermann Cohen; Ernst Bloch; Rav Kook; Sigmund Freud) sind wichtig, aber man vermisst andere, aktuellere (Derrida; Taubes; Lévinas, um nur einige zu nennen). Die Eklektizismus geht wohl auf die vorgegebenen Interessen der eingeladenen Autorinnen und Autoren zurück. Noch gravierender erscheinen die Desiderate in Antike und Mittelalter. Die Briefe des Paulus mit den wohl wirkungsmächtigsten jüdischen Äußerungen zum Thema werden lediglich (auf einer Ebene mit dem äthiopischen Henochbuch und der Baruchapokalypse) bei Bernhard Lang, und dort viel zu knapp, auf nicht einmal anderthalb Seiten behandelt (Jüdischer Jenseitsglaube als "Bricolage", 37-46). Den Rabbinen und der Kabbala, die allenfalls auf jüdischer Seite eine ähnliche Wirkung erzielen konnten, sind keine eigenen Beiträge gewidmet. Beide werden lediglich en passant von Karl E. Grözinger behandelt - in einem Beitrag, der sich seinerseits von der Antike bis in die Neuzeit spannt und dabei im einzelnen zu undifferenziert bleibt, ja, im Falle der Kabbala mit zwei Belegstellen (aus einem Werk von Moshe de Leon) auskommt, im Falle der Rabbinica aber keine einzige nennt (Das Jenseits - zwischen Geschichte und Ontologie, 47-59).

Von einer umfassenden oder auch nur einigermaßen ausgewogenen Behandlung der verschiedenen Aspekte des im Titel angekündigten, großen Themas kann also keine Rede sein. Auch der Herausgeberin gelingt es in ihrer Einleitung nicht, den Eindruck einer weder nach Art der Darstellung, noch inhaltlich oder methodisch geschlossenen Sammlung zu zerstreuen. Eine Reihe von Einzelbeiträgen ist dennoch lesenswert. So bietet Daniel Krochmalnik eine gut geschriebene und aufschlussreiche Revue der Jenseitskonzeptionen christlicher und jüdischer Philosophen der Aufklärung. Ein erster Durchgang behandelt den Streit über Diesseits- oder Jenseitsbezogenheit der alttestamentliche Eschatologie, ein zweiter die Faszination, die im Zeitalter der Aufklärung vom Gedanken der Unsterblichkeit und einer grenzenlosen Weiterentwicklung des Menschen nach dem Tode ausging.

Den Abschluss bildet eine Darstellung der von Moses Mendelssohn in Spannung zu den traditionell jüdischen Vorstellungen entwickelten philosophischen Eschatologie. Anregend ist auch die Darstellung und Kritik von Ernst Blochs atheistischer Konstruktion der Religion als "konkreter Utopie", seines "immanenten Transcendierens", durch Horst Folkers (Transzendenz und Utopie in Blochs "Atheismus im Christentum", 109-127). Der Beitrag setzt Bibellektüre und Aufklärung bei Bloch ins Verhältnis, er bestimmt das Messianische als "Geheimnis" seines Marxismus und den als Reich der Freiheit ausgelegten Himmel als seine Utopie. Bloch bleibe Gefangener eines Vorurteils, wenn er "das unbekannte Land der Zukunft" gegen "das unbekannte Land droben" eintausche. Der starren Definition des "Droben" im Sinne eines göttlichen Despotismus setzt Folkers den Himmel als die Region entgegen, "die das Unmögliche an seinen Ort gestellt sein lässt und so den Blick für beides, das Mögliche und das Unmögliche, frei macht, das vom Unmöglichen entlastete Mögliche seiner irdischen Verwirklichung freigibt" (126).

Micha Brumlik (Patriotismus und ethischer Unsterblichkeitsglaube: Hermann Cohen, 129-142) zeichnet die Position des Begründers der Marburger Schule des Neukantianismus in den kulturhistorischen Rahmen ein. Der etwa in Treitschkes Äußerung aus dem Jahr 1879 zum Ausdruck kommenden Judenfeindschaft sei Cohen mit seiner Theorie eines jüdischen Universalismus im Rahmen einer erneuerten Geschichtsphilosophie begegnet. Der Messianismus werde darin zu einer immanenten, auch politischen Entwicklung der Menschheit zum Besseren umgedeutet, Unsterblichkeit werde zum Fortleben des Individuums im geschichtlichen Fortbestand seines Volkes. Es war nach Brumlik die gute Sache der deutschen Kulturgesinnung, die den Patrioten Cohen schließlich auf den "bizarren Pfad eines universalistisch-messianischen Bekenntnisses für Deutschlands Weg in den Ersten Weltkrieg" führte (137).

Auf weitere Einzelbeiträge des Sammelbandes kann hier nicht näher eingegangen werden. Die bisher noch nicht genannten sind: Dieter Zeller, Philons spiritualisierende Eschatologie und ihre Nachwirkung bei den Kirchenvätern (19-35); Wolfgang Neuser, Diesseits und Jenseits. Vorstellungen von der Seele in der Renaissance (71-77); Eveline Goodman-Thau, Jenseits von Heilig und Profan. Die Verfügbarkeit von Himmel und Erde in der Lehre des Rav Kook (179-214); Rudolf Heinz, Freud und das Jenseits (215-224); Manfred Voigts, Die Juden und das Geheimnis: Das Über-Leben des jüdischen Volkes (225-238).