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Ausgabe:

April/2000

Spalte:

379–381

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Cancik, Hubert, Gladigow, Burkhard, u. Karl-Heinz Kohl [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe. IV: Kultbild-Rolle.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 1998. 476 S. gr.8. Geb. DM 148,-. ISBN 3-17-009556-0.

Rezensent:

Karl-Wolfgang Tröger

Der langerwartete vierte Band umfasst 78 Beiträge, davon die folgenden 13 "Dachartikel" (vgl. Bd. 1,19) zu Grundbegriffen der Religionswissenschaft: Kultobjekte (G. Baudy) mit ihren vielfältigen, besonders sozialen Funktionen und ihren "kulturphaseologischen Transformationen" von der Kulthöhle, heiligen Bäumen, Tieren und Göttern über "neolithische Innovationen" (Ackerbauriten, Pantheon-Bildung, hl. Texte). Dieser wie auch die meisten anderen Artikel beginnen mit einer Begriffsbestimmung, der z. T. eine Begriffsgeschichte folgt. Kultbild (B. Gladigow, 6 S. zu rituellen Praktiken) ergänzt den Art. Kultobjekte. - Bei Kultort (Ch. Elsas, 12 S.) werden "konstitutive Elemente von Kultorten und -bauten in Phänomenologie und Geschichte" vorgeführt. Leiden (H. Cancik-Lindemaier, 10 S.) bringt viele Facetten dieses Themas, u. a. "Biologie des Schmerzes", kulturelle und philosophische Aspekte (bei V. Religion vermisst man die "anderen" Religionen, besonders den Buddhismus!); H. G. Kippenberg analysiert das weite, oft vernebelte Feld Magie (12 S.) (Definition, M.-Interpretationen; Frage nach dem "Kontext von Magie" und nach "Analogien und Homologien zu magischen Handlungen", viel Literatur). Monotheismus- ein breit angelegter Beitrag von B. Lang (17 S.) über Formen des M., Probleme monotheistischer Theologie, Theorien über Usprung und Kulturbedeutung des M. und "historische Beispiele" (altägyptischer, jüdischer, islamischer M.). In Mythos (A. und J. Assmann) geht es um die Begriffsproblematik und um "Mythos als Gegenstand der Wissenschaft" ("Die Leistungen von M. und Wissenschaft führen diametral auseinander" - M. betrifft die Grundfragen unseres Lebens!, 186), sodann um mythische Ausdrucksformen und Denkfiguren und um "M. und Moderne" (Ästhetisierung des M., neue Mythen/R. Wagner u. a., "Mythomotorik" = M. als Überhöhung der Vergangenheit und Motor für die Zukunft, 197 f.; eine Fülle von Literatur).

Während Mythos 22 S. zustehen, muss der Beitrag Mysterien/Mystik (H. Cancik) mit 5 S. auskommen. Dafür ist er sehr konzentriert (Wortfeld/Begriffsbildung) und nuancenreich. Davor steht der Artikel Mysterien/Mysterienreligion (U. Berner) mit auch nur 5 S., vor allem zu den Begriffen M./M. - Sowohl über die Mystik als auch über die Mysterienreligionen erführe man gern mehr.

H. Seiwert widmet sich den definitorischen, sprachlichen, interpretatorischen und Theorie-Aspekten von Opfer (16,5 S.; div. Theorieansätze; "Skizze einer Opfertheorie"/Verwendung von Opfern; Opfertypen, historischer Wandel). Eine kleine Monographie für sich, die das Verständnis für Prophetentum in seiner Vielfalt öffnet, ist Prophetismus (J. Ebach, 12 S.). - Der weitgefasste und den Rahmen eines religions-wissenschaftlichen Lexikons z. T. schon überschreitende Beitrag Rationalisierung (R. W. Müller, 13,5 S., viel Literatur) behandelt die "Verwendungsformen" von R. und die "Theorie" (M. Weber, Horkheimer, Adorno, Marcuse, Habermas, Sohn-Rethel) sowie ne- gative Folgen der R. (Technokratie, Vereinsamung des Individuums, Erzeugung falscher Bedürfnisse). - Der zweitlängste Artikel ist Raum von R. Gehlen (21 S.) über "Theoretische Raumkonstrukte" (Raum im abendländischen Denken), "Die pragmatische Konstitution des Raumes" (u. a. Raumgliederung, R. und Gesellschaft) und "Elemente der Raumstruktur" - jeweils bezogen auf Weltbild, Kultur, Religion und die "Interdependenzen zwischen Religion und Raum (384); 1,5 S. Literatur - Es folgt Recht (J. Neumann, 14 S.) mit Abschnitten zur Wortgeschichte (bes. religiöse Aspekte!), zu "Entstehungsformen, Gestalt und Geltungsbereichen des Rechts" und zur Rechtstheorie. Das wird unter besonderer Berücksichtigung der Verzahnungen von Recht und Religion, Gesellschaft, Macht, Gesetz, Gerechtigkeit und Freiheit sehr anschaulich und auch für juristische Laien verständlich dargestellt. Im Beitrag Ritual/ Ritus (B. Lang, 15 S.) geht es um den Begriff und die Phänomenologie ("Elemente ritueller Wirklichkeit", Kulte, Kultspezialisten, Anlässe, "Mythus und Ritual") und um "Psychologie und Verhaltensforschung" (= C nicht E; S. 456: horror vacui - ansonsten enthält der solide gemachte Band kaum Druckfehler!) Der letzte große Artikel Rolle (16 S.) stammt ebenfalls von B. Lang und ist einer der interessantesten dieses Bandes. Es geht um "soziologische und sozialpsychologische Aspekte" (religiöse Rollensysteme, Rollensignale, -übernahne, -konflikte) und um "Sundéns Rollentheorie religiöser Erfahrung". Diese "umfassende psychologische Erklärung religiöser Wahrnehmung" (475) ist eine lohnende Lektüre!

Die mittelgroßen Spezialartikel behandeln: Macht (B. Gladigow, 9 S.) in Relation zu Religion und Gottesvorstellung, ein forschungsgeschichtlicher Exkurs mit viel Literatur; Märchen (U. Kindl, 7 S.) unter Betonung ihres "ubiquitären Charakters" an Stelle eines nur nationalen Volkserbes (viel Literatur); Mangel (E. Drewermann, 7 S.) unter philosophisch-theologischen, psychologischen und soziologischen Aspekten (sehr anregend!); Matriarchat/Patriarchat (D. Hodel, 7 S.) zu "Theoretischen Ansätzen" und mit neuen Einsichten; Menschenrechte (J. Neumann, 9,5 S.) - eine gute Einführung in Theorie, Geschichte und Problematik der M. Man vermisst aber ein Eingehen auf die M. im Hinduismus, Buddhismus, Islam etc., besonders auf die islamischen Erklärungen zu den Menschenrechten von 1981 und 1990; Nahrung/Nahrungsaufnahme (E. Schmitt, 8,5 S.) über die Zusammenhänge von Nahrung und Gesellschaft/Kultur/Religion/Riten; Nation/Nationalismus (B. Estel, 7 S., viel Literatur) zur Begriffsgeschichte (natio, gens, populus) und zum brisanten Thema "Nation und Religion" (kulminierend im Nationalismus als Ersatzreligion); Normen (D. Mieth, 7,5 S.) - ein besonders hervorzuhebender Beitrag, der die Bedeutung und Funktionen der N. auslotet. In Unterscheidung zu Gesetzen sind N. "von vornherein als veränderbar und relativierbar gedacht", also nicht statisch (245). Betont wird der Zusammenhang von sittlichen N. mit Menschenwürde und Menschenrechten (246) und zwischen "Norm und Freiheit [speziell] im Horizont der christlichen Theologie: Im Raum der Beliebigkeit entsteht ... keine Freiheit"! (248) und "Freiheit als Befreiung (hat) immer etwas mit dem Schicksal der Freiheit des anderen zu tun" (249).

Weitere Artikel sind: Ökologie (Th. Bargazky, 8 S.), ein sehr wichtiger Beitrag zur Wort- und Begriffsgeschichte und zu "kultur-ökologischen Theorien" (u. a. zur Bedeutung der Romantik, wo "das Ganze Vorrang vor den Teilen" erhielt!, 256); Orientierung (G. Baudy, 9 S.) in den vielfältigen sozialen und religiösen Bezügen mit vielen Beispielen für räumlich-soziale Orientierungsmuster und ihre Sakralisierung; Person (K. P. Köpping, 9 S.), Schlüsselbegriff der Soziologie, Ethnologie, Psychologie, aber auch von Philosophie, Theologie und Jura. Im Blick ist besonders die Person-Theorie von Marcel Mauss; Polytheismus (B. Gladigow, 9 S., viel Literatur) behandelt "Begriffs- und Forschungsgeschichte", "Konstitutive Elemente" und "Rel.-gesch. Perspektiven" (kulturelle Kontexte, Regionalisierung und Ausdifferenzierung von Monotheismen; P. der Neuzeit).

In Definitionen der Religion (7 S.) beschreibt G. Kehrer das Dilemma des Religionsbegriffs und führt dann vor, welche Lösungsversuche es gibt- von Schleiermacher über Durkheim, Malinowski bis zu R. Otto, Eliade, Heiler und Mensching. Am Ende heißt es: "Für die Religionswissenschaft ist Religion eine ausschließlich kulturelle (d. h. von Menschen gemachte) Erscheinung" (425; die Klammer steht im Buch versehentlich hinter "Menschen"). - Bedauerlicherweise fehlt ein Beitrag über Religionsfreiheit. - Zur Typologie der Religionen verfasste C. Colpe den Artikel Religionstypen (9 S.) und nennt sowohl die Problematik dieses Begriffs als auch "Brauchbare Ansätze in der Religions-Hermeneutik und - Systematik". Dem folgen eine "Typologie nach Gottesvorstellungen" und eine "T. nach Strukturen", danach "Grenz- und Problemfälle, Überschneidungen, Fehlaufstellungen".

Die vielen kürzeren (0,25-6 S.), oft stark verdichteten Beiträge verdienten es nicht weniger, kurz charakterisiert zu werden, machen sie doch - mit Stichworten wie Lebenszyklus, Liminalität und Maske, Naturreligion, Ordal und Orakel, Postmortale Existenz, Pseudoreligion und Rhythmus - das Sachbuch erst zum Lexikon. Wenigstens diese drei seien noch genannt: Militarismus (R. Faber; Hervorhebung des rel. Aspekts und des Faschismus), Panbabylonismus (J. Ebach; auch "als eine Dimension des Antisemitismus", viel Literatur) und Rasse/Rassismus (G. Grohs; Missbrauch des Begriffs Rasse, u. a. für jüdische Menschen; "Rassismus bedeutet also Diskriminierung", R.-Vertreter, Bekämpfung des R. nach 1945). - Insgesamt eine gelungene Fortführung des schon bewährten Handbuches.