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Ausgabe:

April/2000

Spalte:

371–373

Kategorie:

Allgemeines

Titel/Untertitel:

Neues Latein LexikonLexicon recentis latinitatis. Über 15.000 Stichwörter der heutigen Alltagssprache in lateinischer Übersetzung. Übers. aus dem Ital. von S. Feihl, C. Grau, H. Offen, A. Panella.

Verlag:

Bonn: Lempertz 1998. 443 S. gr.8 = Edition Lempertz. Lw. DM 49,80. ISBN 3-933070-01.

Rezensent:

Peter Stotz

Dieses originelle Wörterbuch - das die Rede vom Latein als einer toten Sprache Lügen strafen will - bietet Wiedergaben für Begriffe aus allen Bereichen der modernen Lebenswelt. Wir finden "Filmschaffender" und "Soap-Opera", "Autobahn" und "Freilandhuhn", sodann "Eintopf" und "Milchkaffee", "Imbißstube" und "Eisdiele", Medizinisches wie "Virus", "Elektrokardiogramm" oder "Kassenarzt", Technisches wie "Gefriertruhe", "Teleobjektiv" oder "Solarzelle", auch Unerfreuliches wie "Handgranate" und "Raketenwerfer", daneben Beruhigendes wie "Raiffeisenbank" oder "Wach- und Schließgesellschaft", auch Ertüchtigendes wie "Jogging", "Polospiel" oder "Wassertretrad". Hergebrachtes Wortgut wie "Aberglaube", "Gehorsam" oder "Verpflichtung" fehlt nicht ganz, daneben stehen junge Wörter für alte Begriffe, etwa "Auflistung" oder "Einstufung". Die nominalen Begriffe überwiegen, doch auch Verben, etwa "eintüten", "modernisieren" oder "vernickeln", sind berücksichtigt.

Zu Grunde liegt ein unter der Leitung von Karl Egge, - unter den Auspizien der im Vatikan domizilierten Stiftung "Latinitas"- erarbeitetes italienisch-lateinisches Wörterbuch (Lexicon recentis Latinitatis ..., 2 Bände, In urbe Vaticana 1992 und öfter). Dieses dient dem stetigen Bemühen, für die Begriffe des modernen öffentlichen Diskurses, der heutigen Zivilisation und Wissenschaft überzeugende lateinische Entsprechung zu finden. Ihm haben sich außer Egger selber Antonio Bacci, Caelestis Eichenseer und manche andere gewidmet. Ein unmittelbarer Anstoß ist der Wunsch, für Äußerungen der katholischen Kirche einen brauchbaren Wortschatz der Gegenwartssprache à jour zu halten. Stellenweise äußert sich auch die bare Freude daran, sprachschöpferisch tätig zu sein, oder das Behagen - angesichts des Schwindens der Lateinkenntnis bei den Gebildeten - in kleinen Zirkeln sich nach wie vor in dieser Sprache über alles verständigen zu können. Von solch spielerischen Antrieben zeugt auch dieses Buch: wie sonst kämen "Bananendampfer", "Gesocks", "Schmuddel" oder "Tschüß" als Lemmata in Betracht?

Die Umsetzung geschieht zum Teil durch feste Wortprägungen - so bei "gelocht" perforatus oder bei "Prozentsatz" centesima -, da dies vielfach nicht möglich ist, oft mit Umschreibungen - so bei "topless" strophio carens oder bei "Interimsregie- rung" rei publicae regimen transitorium. Manchmal genügt eine einfache Übersetzungsgleichung, häufig aber werden deren mehrere zur Auswahl angeboten. Mitunter werden Belege aus den antiken Autoren angeführt, bisweilen in lateinischer Sprache Erläuterungen zu oder Rechtfertigungen für eine Prägung gegeben. Oft wird die Anlehnung an den Thesaurus linguae Latinae zum Ausdruck gebracht oder es wird auf die moderne Herkunft einer Prägung hingewiesen, z. B. auf Bacci, auf die "Acta apostolicae sedi" oder auf das deutsch-lateinische "Lexi-con auxiliare" von Christian Helfer (Saarbrücken 31991).

Ein Vergleich mit dem Letzteren drängt sich geradezu auf. Das vorliegende Werk weist mehr Eintragungen als jenes auf; dies hängt z. T. aber damit zusammen, dass oft viele Glieder einer Wortfamilie einzeln aufgeführt sind. Überhaupt unterscheidet sich der Bestand aufgenommener Wörter beträchtlich. Nach einer Stichprobe über eine längere Alphabetstrecke ist das Zahlenverhältnis der nur hier erscheinenden Lemmata zu denen, die Helfer ebenfalls führt, und zu denen, die nur dort vorkommen, ungefährt wie 2:1:1. Und die Interpretamente zu gemeinsamen Lemmata können recht unterschiedlich ausfallen. So wird "idyllisch" von Helfer mit bucolicus und idyllicus wiedergegeben, hier mit serenus (o. Ä.), "fixe Idee" von Helfer mit monomania, hier mit obstinata voluntas.

Dort, wo eine moderne Wortprägung selber auf lateinisch-griechischem Material beruht, wird oft rückläufig das entsprechende Wort eingesetzt, so bei dictaphonum oder plutocraticus. Häufig aber werden Umschreibungen geboten, die den Inhalt klären, so bei "Idealisierung" in pulchrius interpretatio, bei "hermeneutisch" interpretatorius/explicatorius/explanatorius (und hermeneuticus), bei "pseudonym" falso nomine editus und bei "humanistisch" ad artes liberales pertinens. - Die lateinischen Wiedergaben sind, soweit es bei den Bearbeitern (der Originalfassung) möglich war, nach dem überlieferten historischen Sprachgebrauch ausgerichtet. Dabei ist allerdings die sprachschöpferische Potenz des lateinischen Mittelalters dabei viel zu wenig zu Rate gezogen worden - sie ist zu wenig bekannt.

Gelegentlich tritt zu Tage, daß das Ganze aus dem Italienischen übersetzt ist. Gewisse Ausdrücke sind gerade verkehrt herum gefasst: Italienisch tesserare (qualcuno) heißt "jemanden einschreiben" u. Ä. Wenn nun das in der Originalausgabe dafür stehende tessera instruo ("ich versehe [jemanden] mit einem Ausweis") mit "Ausweis ausstellen" lemmatisiert wird, ist das unbefriedigend, weil der Ausdruck umgedreht wird und sich nicht in einen entsprechenden Satz einsetzen läßt. Gewisse lateinische Prägungen sind durch die italienische Ausgangssprache bedingt und sind nicht selbsttragend: thermica sedes primaria (s. p. wörtlich: "Hauptsitz") erbringt nicht die semantische Leistung von "Heizkraftwerk". (Im Hintergrund steht italienisches centrale [elettrica]). Übrigens gibt es hier nur ein Heiz- und ein Wasserkraftwerk, aber kein Kraftwerk, ebenso nur Käse- oder Fleischfondue, aber kein Fondue: Wer unter dem allgemeinen Begriff sucht, geht leer aus. Das Wörterbuch wurzelt eben ganz im Anekdotischen: Was jemand einmal für irgendeine Gelegenheit sich auszudenken genötigt war, ist da, alles andere nicht. "Heim" wird nicht als "Wohnstätte für einen bestimmten Personenkreis", sondern nur gerade im Sinne von "Eigenheim, Einfamilienhaus" verstanden. "Frechheit" als Charakterzug fehlt, das Wort hat nur im Sinne einer einzelnen verbalen Äußerung Eingang gefunden. Das Adjektiv "chauvinistisch" erscheint nicht in seiner eigentlichen, gewachsenen Bedeutung ("ultranationalistisch"), sondern nur in der abgeleitet-modischen Anwendung als virilitatem extollens (o. Ä.). Die Sprachkompetenz der Bearbeiter im Deutschen ist nicht über jeden Zweifel erhaben. Über einzelne Einträge kann man sich nur wundern, so bei "französieren" über den angeblichen Gebrauch dieses Wortes für morbo Gallico afficio. ("Syphilis" selber kommt nicht vor.) Es gibt deutsche Wörter, die der Rez. nur anhand der lateinischen Wiedergabe verstanden hat, so "Wasserverband" (aquis deducendis collegium). "Protz" wird übersetzt, als ob das Lemma "Protzerei" hieße (ridicula simulatio u. Ä.); "profilieren" wird mit velociccime propagor ("ich pflanze mich raschestens fort") wiedergegeben, doch dieser Ausdruck steht in der Originalausgabe - der Leser mag es ahnen - für proliferare, was mit "profilieren" nichts zu tun hat. Wenig tragfähig sind Augenblicksbildungen wie "mediumistisch" oder "veröffentlichbar". Des Weiteren ist die Abschlussredaktion und die Berichtigung der Eingabefehler nicht durchweg mit der nötigen Sorgfalt vorgenommen worden.

Der Bereich von Theologie und Religion ist im Ganzen reichlich vertreten, jedoch nicht sehr ausgewogen. "Priester" und "Priesteramt" fehlen, dagegen treffen wir auf das "Ostiariat", eine mit einer der niederen Weihen verbundenen Charge. Wir finden "Weihrauchfaß", "-opferer", "-schiffchen" und "-schwinger" (sic), doch Vorschläge zur Wiedergabe von "Kerygma", "christlicher Botschaft" oder "Sitz im Leben" suchen wir vergeblich. Auch die Begriff "Heil", "Heilsgeschichte", "-ökonomie" "-plan" fehlen. Für "Heiland" wäre das hergebrachte christenlateinische salvator und/oder das neulateinische servator anzuführen gewesen. Statt dessen wird auf den - keineswegs deckungsgleichen - Begriff "Messias" verwiesen, wofür (nebst Messias selber) zwei pagan-säkular anmutende Periphrasen gegeben werden. Unter dem Sichtwort "Heiligkeit" wird das traditionsgesättigte, bestimmt anderhalb Jahrtausende in unangefochtenem Gebrauch gewesene sanctitas übergangen und statt- dessen ein blässlich-neulateinisches sacra indoles/sacra forma empfohlen. Einmal mehr zeigt sich, dass die Neulateiner- auch die kirchennahen - die gewachsene christliche Latinität mit recht spitzen Fingern anfassen.

Das "Neue Latein Lexikon" ist zwar ein willkommenes und anregendes Hilfsmittel, aber so richtig austariert ist es nicht. Doch selbst wenn es das wäre, könnte es niemanden dazu befähigen, sich authentisch und kompetent in dieser Sprache zu äußern, der sich nicht zuvor selber durch ausgiebige Lektüre darin heimisch gemacht hat. Ein bescheidenes Stück weit vermag immerhin auch dieses Nachschlagewerk dazu beizutragen.